Nick Dybek wurde 1980 geboren und wuchs in Michigan auf. Er studierte in Ann Arbor an der University of Michigan. Nachdem seine Kurzprosa bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, legt er nun mit “Der Himmel über Greene Harbor” seinen ersten Roman vor. Übersetzt wurde das Buch von Frank Fingerhuth, der nicht nur als Übersetzer tätig ist, sondern auch als Nachrichten- und Kulturredakteur.
“Loyalty Island – das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang an Anlegestellen und auf Stränden. Der Geruch von Kiefernnadeln, die sich am Boden braun verfärbten. Das Rumpeln von Außenbordern, von Windböen und Eismaschinen, das Heulen hydraulischer Winschen. Es war graues Dämmerlicht, das morgens und abends kam und ging – wie Ebbe und Flut.”
Loyalty Island, Bundesstaat Washington – das ist der Ort, an dem die Geschichte spielt, die Nick Dybek in seinem Debütroman erzählt. Loyalty Island ist ein Fischerdorf. Jedes Jahr wieder zieht es die Männer aus Loyalty Island raus auf das Meer, um in den Wintermonaten in der Beringsee Krabben zu fischen. Es ist die harte Arbeit dieser Männer, die für das Einkommen des kleinen Dorfes sorgt und die Infrastruktur am Laufen hält. Die Monate auf See finanzieren das Leben all der Familien, die in Loyalty Island wohnen – ein Leben ohne die Fischerei ist kaum vorstellbar.
“Wenn sich Familien auflösen, passiert dasselbe mit ihren Geschichten, und jetzt muss ich mir alles in Erinnerung rufen.”
Im Sommer 1986 wird jedoch plötzlich alles anders. Es ist ein Sommer, in dem es pausenlos regnet und es ist der Sommer, in dem John Gaunt stirbt, der Besitzer von Loyalty Fishing, dem größten Fischereiunternehmen der Gegend. Es ist ausgerechnet sein Sohn Richard, der schon früh aus Loyalty Island weggezogen war, der das Unternehmen erben soll. Doch der junge Mann hat keinerlei Interesse am Fischen, an dem kleinen Dorf und an den dort lebenden Familien – er hat noch niemals das Deck eines Kutters betreten. Stattdessen überlegt er, Loyalty Fishing zu verkaufen und mit dem Geld wegzuziehen. Für die Bewohner von Loyalty Island würde das bedeuten, dass ihre Existenz zerstört werden würde: sie würden nicht nur ihren Beruf verlieren, sondern müssten auch noch notgedrungen ihre Heimat verlassen.
Cal, der gerade einmal vierzehn Jahre alt ist, muss diese schwierige Situation miterleben. Sein Vater fährt, wie so viele andere Väter auch, zur See. Cal lebt gemeinsam mit ihm und seiner Mutter, doch sein Vater ist die Hälfte des Jahres abwesend und seine Mutter hat sich im Keller ein Plattenstudio eingerichtet, in dem sie den Großteil ihrer Zeit verbringt und Musik hört. Am liebsten würde sie wieder nach Kalifornien zurück ziehen, denn das Leben in Loyalty Island und der fehlende Ehemann, rauben Cals Mutter zunehmend die Luft zum Atmen und die Kraft zum Weiterleben.
“Ich kannte diese Stimmungsumschwünge. Sie hatte sich früher immer wieder für Jobs beworben, wollte aber nicht zum Vorstellungsgespräch erscheinen.”
Cal wächst in einem Vakuum auf, ohne Orientierung und Hilfe. Seine Eltern sind kaum für ihn da, beide leben in ihrer eigenen Welt. Cals schweigsamer Vater auf dem Schiff und seine unstete Mutter in der Welt der Musik, nächtelang zieht sie sich in ihr Studio zurück, um Platten zu hören.
“Wenn meine Eltern nicht glücklich waren, sahen sie gewöhnlich aneinander vorbei, manchmal wochenlang.”
Als Richard damit droht, die Flotte zu verkaufen, ist die Existenz- und Überlebensangst in Loyalty Island nicht nur spürbar, sondern schier übermächtig groß. Richard hat die Macht, Loyalty Island den Todesstoß zu versetzen. Nächtelang beraten Cals Vater und seine Freunde sich, besprechen, wie sie vorgehen könnten und was sie tun könnten, um zu verhindern, dass Richard die Flotte verkauft. Es ist ein Zufall, der dafür sorgt, dass Cal eines der nächtlichen Gespräche belauscht. Der Inhalt dieses Gesprächs lässt ihn etwas befürchten, dass er nie für möglich gehalten hätte und dass alle seine bisherigen moralischen Vorstellungen schwer erschüttert. Cals Mutter verschwindet und sein Vater läuft mit dem Schiff aus, Cal zieht zu seinem Freund Jamie und ist plötzlich mit all seinen Fragen, mit all seiner Verwirrung und Angst, ganz auf sich allein gestellt. Die Situation nimmt eine dramatische Wendung …
“Tragödien verwandeln sich mit zunehmendem Alter in Komödien und sterben ab, wenn die Witze nicht mehr komisch sind.”
Nick Dybek erzählt in seinem stimmungsvollen und atmosphärisch dichten Romandebüt “Der Himmel über Greene Harbor” eine Geschichte von Schuld und Moral. Cal und sein Freund Jamie, beide verlassen von ihren fischenden Vätern, bemühen sich darum, in deren Fußstapfen zu treten. Beide wissen nicht, was richtig oder falsch ist, wie sie sich verhalten sollen und welches Verhalten von ihnen erwartet und erwünscht wird. Beide haben in diesem Winter schwer mit ihren moralischen Vorstellungen und ihrem Gewissen zu kämpfen. Cal hat immer geglaubt, zum Mann zu werden, wenn er endlich gemeinsam mit seinem Vater nach Alaska ausläuft. In diesem Winter muss er jedoch feststellen, dass noch viel mehr dazugehört, wenn man erwachsen werden möchte. Nick Dybek erzählt in seinem Roman eine sogenannte Coming-of-Age-Geschichte, die mich von der ersten bis zu letzten Seite gefangen genommen hat.
Loyalty Island, der Handlungsort des Romans, ist beim Lesen nicht nur eine austauschbare Kulisse. Nick Dybek gelingt es, so atmosphärisch zu erzählen, dass man beim Umklappen der Seiten glaubt das Meer rauschen zu hören und den Gestank der Heringe riechen zu können.
“Der Himmel über Greene Harbor”, das im Original den passenden und wunderschönen Titel “When Captain Flint Was Still a Good Man” trägt, erzählt eine Geschichte von Moral, Schuld, den Zusammenhalt von Familien und vom Erwachsenwerden. Nick Dybek weiß durch eine klug komponierte Geschichte zu überzeugen, die durch atemberaubende Naturbeschreibungen ergänzt wird. Ich habe die letzte Seite des Romans mit dem Gefühl zugeklappt, dass Buch eines vielversprechenden jungen Autors gelesen zu haben, von dem wir in Zukunft bestimmt noch einiges erwarten dürfen. Ich bin auf jeden Fall schon gespannt darauf.
Eine weitere stimmungsvolle und schöne Rezension findet ihr bei der Klappentexterin.

5 Comments
mickzwo
June 7, 2013 at 1:16 pmDer Originaltitel ist spricht mich auch viel mehr an! Nach dieser Besprechung bekmme ich in der Tat Lust es zu lesen. 🙂
buzzaldrinsblog
June 10, 2013 at 12:26 pmStimmt, der Originaltitel ist wirklich sehr ansprechend. Freut mich, dass ich dir Lust aufs Lesen machen konnte – du wirst die Lektüre nicht bereuen. 🙂
Sonja | Zeilenkino
June 11, 2013 at 7:49 pmMich hatte das Buch nicht gleich auf den ersten Seiten überzeugt, sondern ich musste mich erst hineinfinden. Aber nach dem – für mein Empfinden – etwas holprigen Start war ich dann insbesondere von den vielen Spielarten der Loyalität und der Entwicklung des Plots angetan. Wirklich ein vielversprechendes Debüt.
buzzaldrinsblog
June 12, 2013 at 10:12 amLiebe Sonja,
mir ging es ganz anders als dir – ich war von der ersten Seite direkt in der Geschichte und hatte das Gefühl Loyalty Island mit allen Sinnen zu erleben. Herrlich! 🙂 Ich freue mich aber, dass du zumindest mit der Zeit noch in die Lektüre hineinfinden konntest. Das Debüt habe ich auch als wirklich vielversprechend empfunden und bin sehr gespannt darauf, was wir von Nick Dybek in Zukunft noch erwarten dürfen.
Fisherman’s Son oder: Der Himmel über Greene Harbor | skyaboveoldblueplace
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