Valeria Luiselli ist eine noch junge Autorin, die 1983 in Mexiko City geboren wurde. Sie schreibt für Zeitungen und Magazine und hat bereits einen Essayband veröffentlicht. Heutzutage lebt sie in Mexiko City und New York und arbeitet als Lektorin, Journalistin und Dozentin. Übersetzt wurde der Roman aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
“Ein horizontaler Roman, vertikal erzählt. Ein Roman, der von außen geschrieben werden muss, damit man ihn von innen heraus lesen kann.”
“Die Schwerelosen” ist ein ungewöhnlicher Roman, ein außergewöhnlicher Text, der sich jeder Kategorisierung und Einordnung verweigert und bereits die Antwort auf die Frage, worum es eigentlich geht, schwer macht. Zu Beginn des Romans erscheint die Handlung noch eindeutig, doch mit zunehmender Dauer beginnen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie zu verwischen.
“In diesem Haus hier wohnen wir zwei Erwachsenen, das Baby und das mittlere Kind. Wir sprechen von ihm als dem Mittleren, weil er, obwohl er der Älteste ist, darauf besteht, noch ein mittleres Kind zu sein. Und recht hat er. Er ist der Älteste, aber noch klein, also ein mittleres Kind.”
In diesem Haus in Mexiko City lebt eine junge Schriftstellerin mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern und arbeitet an einem Roman. Die junge Frau fühlt sich eingesperrt, in dem Leben, das sie mittlerweile führt, in dem Haus, in dem sie wohnt. Sie schreibt, um sich einen eigenen Raum zu erkämpfen, um Platz zu haben für sich und ihre Phantasie. Sie schreibt, während ihr Mann über ihre Schulter hinweg immer wieder Teile des Textes mitliest. In ihrem Roman erzählt sie von einem Leben, das mittlerweile vergangen ist: von ihrer Zeit als Lektorin in New York.
“In jener Stadt lebte ich allein in einer fast leeren Wohnung. Ich schlief wenig, aß schlecht und ohne große Abwechslung. Ich führte ein einfaches Lebens, hatte meine Routine. Ich arbeitete als Gutachterin und Übersetzerin in einem kleinen Verlag, der sich der Rettung ‘ausländischer Juwelen’ widmete, die keiner kaufte – schließlich trafen sie auf eine Inselkultur, in der man die Übersetzung als etwas Unreines ablehnte.”
Sie erzählt von einer Zeit, als sie noch frei und unabhängig gewesen ist, mal hier und mal dort geschlafen hat und wildfremden Menschen ihren Wohnungsschlüssel anvertraut hat. Den Verleger, bei dem sie damals gearbeitet hat, versuchte sie davon zu überzeugen, das Werk von Gilberto Owen zu publizieren. Warum ausgerechnet Gilberto Owen, diesen unbekannten mexikanischen Dichter? Ihr Interesse an Gilberto Owen war zunächst beruflicher Natur, doch dann glaubte sie, ihn in der U-Bahn gesehen zu haben und aus einem oberflächlichen Interesse, wird eine immer stärkere Obsession.
“Auf alle Fälle war es die erste Nacht, die ich mit dem Geist von Gilberto Owen verbringen musste. Von da an begann meine Existenz als Person, die von einem anderen möglichen Leben bewohnt ist, das nicht das meine war, das ich mir aber nur vorzustellen brauchte, um mich ihm ganz hinzugeben.”
An dieser Stelle beginnen die Grenzen im Roman zu verschwimmen, die Erzählstimme der jungen Schriftstellerin wird ergänzt durch eine zweite Stimme, die sich in den Roman hineindrängt. Durch die Stimme von Gilberto Owen, dem mexikanischen Dichter, der U-Bahn fährt und langsam erblindet. Die beiden Erzählstimmen scheinen sich zu einer Stimme zu vermischen, schon bald ist unklar, wer eigentlich spricht, von wessen Leben erzählt wird. Vermischen sich nur die Stimmen, oder vielleicht auch die Leben dieser so unterschiedlichen Figuren?
“Eine Struktur voller Löcher schaffen, damit man immer zur Buchseite vordringen, sie bewohnen kann. Nie mehr als nötig reinstopfen, nie ausstaffieren, weder möblieren noch dekorieren. Türen und Fenster öffnen. Mauern hochziehen und wieder einreißen.”
Der Text, der zunächst glasklar erschien, wird verwischt, beschmutzt, verdreckt, bis nicht mehr klar ist, was noch zu erkennen ist. Das realistische Szenario des Beginns wird überlagert von surrealistischen Szenen, die jede Grenze von Realität und Phantasie durchbrechen und auflösen. Valeria Luiselli spielt mit diesen Grenzen, legt in ihrem Roman falsche Fährten aus, führt den Leser auf ganz unterschiedliche Spuren und irgendwann glaubt man beim Lesen, den Boden unter den Füßen verloren zu haben.
“Die Schwerelosen” fehlt vieles von dem, was einen herkömmlichen Roman ausmacht: es gibt keine kohärente Geschichte, es gibt keinen Plot, es gibt keine Auflösung und keine Erklärung. Nach dem Zuklappen des Romans bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe, geschweige denn, ob ich alles entdeckt habe, was es zu entdecken gab oder ob ich beim Lesen etwas überlesen haben mag. Und doch habe ich die Lektüre von “Die Schwerelosen” genossen, den neben all dem, was einen herkömmlichen Roman ausmacht, an deren Struktur wir Leser gewöhnt sind, hat Valeria Luisellis Text unheimlich viel zu bieten: ich habe selten zuvor einen so hochwertigen literarischen Roman gelesen, mit so vielen wunderschönen Sätzen, Bildern und Gedanken. Ich habe selten zuvor eine ähnlich verknotete Geschichte gelesen, deren Lektüre einem Sturz in einen freien Raum gleich kam. In diesem Raum ist nichts klar, aber alles ist möglich – die Deutung des Textes bleibt in der Hand des Lesers.
Valeria Luiselli zeigt sich mit ihrem Romandebüt “Die Schwerelosen” als große neue Entdeckung der lateinamerikanischen Literatur. Ihre literarische Stimme ist poetisch und wild, ungezwungen, voller Freiheit und verrückten Ideen. Wer sich auf diese Ideen einlässt, wird mit einem aufregenden Leseerlebnis belohnt.
Einen interessanten Essay der Autorin zum Entstehungsprozess des Romans findet sich hier, eine lesenswerte Besprechung des Romans von der muetzenfalterin gibt es bei Fixpoetry.
11 Comments
caterina
June 20, 2013 at 6:32 pmEine gute Freundin hat mir diesen Roman bereits empfohlen, übrigens im Zusammenhang mit unserem Indie-Projekt. Et voilà – schon erscheint eine Rezension von dir, wie schön! Ich werde mal schauen, dass ich das Buch in meine Finger bekomme. Mir gefällt der Gedanke, dass alles offen ist, dass man sich nicht sicher ist, ob man begriffen hat, was geschehen ist. Das kann in manchen Fällen frustrierend und unbefriedigend sein. Und in manchen Fällen kann es bezaubernd sein. Luisellis Debütroman scheint so ein Fall zu sein. Da zeigt sich wieder einmal, was für eine Magie, was für eine Macht die Sprache ausüben kann, jenseits des eigentlich Erzählten.
buzzaldrinsblog
June 22, 2013 at 12:45 pmLiebe Caterina,
der Debütroman von Luiselli ist wirklich auf eine ganz besondere Art bezaubernd, trotz oder vielleicht auch gerade aufgrund seiner Sperrigkeit. Ich habe mich wunderbar verlieren können in der Sprache, den Gedanken und in dem Prozess der Auflösung, als das, was eigentlich klar erschien, immer stärker aus den Fugen geriet. Bei den “Schwerelosen” habe ich das Gefühl, das Sprache und Literatur hier im Vordergrund stehen und nicht unbedingt die Geschichte, die erzählt wird – das war ein interessantes und faszinierendes Leseerlebnis. 🙂
Liebe Grüße
Mara
dasgrauesofa
June 20, 2013 at 6:32 pmLiebe Mara,
bei diesem Roman bin ich beim Blättern im Verlagskatalog interessiert hängengeblieben. Er las sich da schon ziemlich merkwürdig, spannend, komisch, neugierig machend. Aber, wir haben ja letztens diese Diskussion um Blurbs und andere Marketingtexte gehabt, also habe ich mich nicht weiter gekümmert. Nun hast Du mit deiner Besprechung ja noch einmal sehr mein Interesse geweckt. Sie liest sich, als wäre der Roman genau das richtige für viel Zeit im Sommerurlaub…
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
June 22, 2013 at 12:49 pmLiebe Claudia,
mich ist der Roman auch beim Durchblättern der Vorschau angesprungen, ich habe mich aber lange nicht herangetraut. Es war dann vor allem die Besprechung der muetzenfalterin, die mir Mut gegeben hat, die Lektüre zu beginnen. Ich hatte selten zuvor ein so spannendes und interessantes Leseerleben, wie bei diesem Buch. Zeit und Ruhe braucht man schon für diesen Roman und vor allem dafür, die vielen Knoten zu entwirren – bei knapp 190 Seiten, ist der Zeitaufwand aber auch überschaubar. Ich wäre übrigens sehr gespannt auf weitere Leserstimmen zum Roman. 🙂
Liebe Grüße
Mara
Der Mann fur den Text
June 22, 2013 at 5:36 amHat dies auf Der Bär liest rebloggt und kommentierte:
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Conor
July 25, 2013 at 9:54 amLiebe Mara,
danke für diese wunderbare Rezension, durch die ich auf diesen Roman aufmerksam wurde. Gestern habe ich ihn beendet und kann mich deiner Begeisterung nur anschließen.:)
Ein ganz eigenartiger und ungewöhnlicher Roman. Nach dem Zuklappen hatte ich das Gefühl, ihn nochmals lesen zu wollen, gerade weil nicht alles direkt verständlich war – zumindestens für mich.
Als Beispiel führe ich diesen Satz auf:
“Ein horizontaler Roman, vertikal erzählt. Ein Roman, der von außen geschrieben werden muss, damit man ihn von innen heraus lesen kann. Zitat S. 81”
Es gibt soviele schöne Sätze und Passagen – wunderbare Bilder…- ich denke da z.B. an den verdorrten Baum, an den die Frau Zettel hängt (S. 51)
Liebe Grüße
Conor
buzzaldrinsblog
July 26, 2013 at 11:22 amLiebe Conor,
ich freue mich SEHR darüber, dass dir das Buch ähnlich gut gefallen hat wie mir. 😀 Das Bedürfnis, das Buch nach dem Zuklappen der letzten Seite direkt wieder aufzuschlagen kann ich sehr nachempfinden, denn mir erging es nach der Lektüre ähnlich. Der Satz, den du zitierst, aber auch das von dir erwähnte Bild, das ich auch noch im Kopf habe – sind auch bei mir hängen geblieben. Ich habe selten zuvor so viele Unterstreichungen gemacht, es gab einfach so viele wunderschöne Sätze und Bilder. Das Buch werde ich sicherlich noch einige weitere Male lesen und ich bin jetzt schon gespannt, was wir von der Autorin noch erwarten dürfen. 🙂
Liebe Grüße
Mara
Elena Fernández del Valle
July 27, 2013 at 2:46 amIch kann Deutsch lesen, aber zum schreiben traue ich mich nicht. I will comment in English. I live in Mexico City and Spanish is my native language. I wondered whether Luiselli´s novel would work for readers from beyond the Hispanic world -and I see it does. Ich freue mich sehr!
Grüsse aus Mexiko
Elena
buzzaldrinsblog
July 29, 2013 at 8:29 amLiebe Elena,
ich antworte auf Deutsch, da ich zwar Englisch lesen kann, aber mir beim Schreiben nicht sicher bin. 🙂 Da geht es mir also ähnlich wie dir. Ich habe den Roman von Valeria Luiselli unheimlich gerne gelesen und ich bin schon ganz gespannt darauf, was wir in Zukunft von ihr noch so hören werden.
Über deinen Besuch – ganz weit weg aus Mexiko – auf meinem Blog habe ich mich sehr gefreut! 😀
Liebe Grüße
Mara
Rezension: Valeria Luiselli, Die Schwerelosen | Leipzig.Lebensmittel.Punkt.
May 14, 2014 at 6:13 pm[…] Ursprünglich veröffentlicht auf buzzaldrins Bücher: […]
Falsche Papiere - Valeria Luiselli - Buzzaldrins Bücher
August 8, 2014 at 5:22 pm[…] 31 Jahre alt, legte in diesem Frühjahr aber bereits ihr zweites Buch vor. Für ihr Romandebüt Die Schwerelosen war sie von der Kritik hochgeblobt worden, mit “Falsche Papiere” erscheint von der […]