Sara Johnson ist eine norwegische Schriftstellerin und wurde 1970 in Oslo geboren. Sie studierte Regie und wurde einem breiteren Publikum in Deutschland durch den Film “Stadtneurosen” bekannt. “White Man” ist ihr erster Roman, der auf Deutsch veröffentlicht wurde. Im Original erschien der Text, der von Ursel Allenstein übersetzt wurde, bereits im Jahr 2008.
“White Man” erzählt aus mehrere Perspektiven eine verschachtelte Geschichte, die an ganz unterschiedlichen Schauplätzen spielt. Handlungsorte sind Oslo, London und eine namenlose Karibikinsel. Dort macht das Ehepaar Thomas und Cathrine mit ihrer kleinen Tochter Maria Urlaub. Es ist der erste Urlaub ohne den gemeinsamen Sohn Adam, der alt genug ist, um lieber zu Hause bleiben zu wollen. Die Insel ist paradiesisch, das Wetter traumhaft, das Ambiente idyllisch, doch der Urlaub endet in einem Alptraum, der das Leben des Ehepaars unwiederbringlich in ein Davor und ein Danach trennen soll.
“‘Jeder auf seine Weise’, pflegte Cathrine zu sagen, wenn sie darüber sprechen, was passiert ist. Damit meint sie, dass jeder das Geschehene anders verarbeitet.”
Der erste Teil des Romans liest sich wie ein Psychothriller: in die Idylle bricht urplötzlich und ohne, dass dies vorauszuahnen gewesen wäre, eine Katastrophe ein. Im zweiten Teil des Romans wechselt die Perspektive, die Ereignisse werden noch einmal erzählt, diesmal jedoch aus dem Blickwinkel von Joseph und Susan. Joseph ist fünfzehn Jahre alt, ein junger Mann, der sein Leben lang auf der Insel gelebt hat. Sein Vater ist der erste unabhängige Präsident der Insel, doch Anerkennung erfährt Joseph von ihm kaum.
“Vater weiß gar nichts mehr von mir. Er weiß nichts von den Gärten, den Kleidern oder dem schwarzen lockigen Haar, das unter meinen Armen und zwischen meinen Beinen zu sprießen beginnt.”
Er wünscht sich so sehr, wahrgenommen zu werden – als das, was er ist, nicht als das, was sein Vater vorgibt zu sein. Als er auf Susan trifft, eine Frau in den Dreißigern, die schon früh Witwe wurde, glaubt er, diese Liebe und Anerkennung endlich gefunden zu haben. Susans erster Ehemann Howard starb, als sie gerade einmal einundzwanzig Jahre alt war. Als er sie heiratete, wusste er um seine Erkrankung, ließ Susan jedoch im Unklaren darüber. In Gesprächen mit ihrem Therapeuten Simon und in langen Tagebucheinträgen versucht sie ihre Gefühle aufzuarbeiten und eine Erklärung dafür zu finden, was sie bei einem jungen Mann gesucht hat, der halb so alt gewesen ist wie sie und beinahe noch ein Kind.
“Als Howard starb, habe ich verstanden, dass es keine Garantie dafür gibt, alt zu werden, bevor man wieder zu Erde wird, dass wir alle jeden Moment sterben können.”
Aus diesen drei Perspektiven beleuchtet Sara Johnsen das, was passiert ist. Jede Perspektive hat ihre eigene Sichtweise, hat ihre eigenen Erklärungen und Antworten. Jede Perspektive hat ihre eigene Wahrheit darüber, wer Opfer und wer Täter gewesen ist. Doch im Mittelpunkt all dieser Perspektiven steht Joseph, der junge Mann, der sich Hals über Kopf verliebt, nicht nur in eine andere Frau, sondern in das Gefühl, gesehen und beachtet zu werden. Bei Susan findet er die Aufmerksamkeit und die Achtung, die ihm zu Hause fehlt, denn zu Hause sind seine älteren Schwestern, die auf ihm rumhacken und seine Eltern, die Angst davor haben, ihr Kind zu verlieren, es aber auch nicht festhalten können.
Sara Johnson besticht in diesem Roman durch einen kühlen Ton, es erscheint beinahe so, als würde sich die Autorin zurücknehmen und hinter ihren Figuren verschwinden. Ihr Ton und ihre Sprache sind subtil, vieles wird lediglich angedeutet und es bleibt dem Leser überlassen, sich eine Meinung zu bilden und die Puzzleteilchen zusammenzusetzen. Dies funktioniert vor allem im ersten Teil des Romans gut, in dem die Ehe zwischen Thomas und Cathrine nicht nur skizziert wird, sondern beinahe schon seziert.
“‘Ich bin glücklich’, flüsterte er zurück, aber er wusste nicht, ob es die Wahrheit war. Er war vor allem müde und wollte schlafen. Aus der Dunkelheit vor den Fenstern hörte er das Meer, das Welle für Welle an Land trug.”
Bei Thomas und Cathrine ist die ehemalige Nähe mittlerweile zu einer gegenseitigen Fremdheit geworden, die von Sprachlosigkeit geprägt ist. Man hat sich entfremdet, selbst das, was ihnen passiert ist, bringt die Sprache in ihre Beziehung nicht zurück. “Wir können einander nicht helfen”, muss Cathrine ernüchtert aber auch wütend feststellen. Beide sind nach der Rückkehr nach Hause, nicht mehr die Menschen, die sie vorher gewesen sind – kann man sich unter diesen Voraussetzungen noch lieben?
“Cathrine liebt mich, sagte er zu sich selbst. Cathrine liebt sowohl den alten als auch den neuen Thomas. Ihre Liebe wird den Riss ausfüllen, der sich zwischen den beiden gebildet hat, und einen ganz neuen Mann aus mir machen.”
“White Man” ist ein Roman über die Liebe, über die Liebe zwischen Eltern und Kindern, über ungleiche Liebe die zu Abhängigkeit wird und über die Liebe zwischen Ehepaaren. Sara Johnson hat ein stilles und scheinbar unaufgeregtes Buch geschrieben, das beim Lesen dennoch eine solche Kraft und Wucht entwickelt, das ich es kaum noch aus der Hand legen konnte. Eine Empfehlung!

3 Comments
skyaboveoldblueplace
June 29, 2013 at 1:39 pmLiebe Mara,
danke für Deine Besprechung. Was mich besonders berührt hat, ist diese Vater-Sohn-Sache (könnte genau so eine Mutter-Tochter-Sache sein) – und dabei insbesondere dieses Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden.
Beim Lesen Deines Artikels kam mir das in den Sinn, und es war ein bisschen ein Déjà vu. Komisch, ich glaube, jeder hat das ja manchmal im Leben und oft ist es einfach eine Frage der Innen- und Aussen-Perspektive und häufig auch der eigenen (Über)Empfindlichkeit.
Aber bei Heranwachsenden ist das, glaube ich, eine besonders schmerzhafte Erfahrung. Meine Erinnerung ist so. Leider ist mein Vater gestorben, als wir gerade sehr vorsichtig anfingen, eine Gesprächsebene zu finden. Da war ich 26. Heute bin ich genau doppelt so alt und komischerweise wird der Schmerz über diesen Verlust des gegenseitigen Erkennens und Kennenlernens grösser statt kleiner.
Liebe Grüsse
Kai
buzzaldrinsblog
July 1, 2013 at 2:20 pmLieber Kai,
ich habe mich sehr über deinen Kommentar und deine Gedanken und Assoziationen zu meiner Besprechung gefreut. Das Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohn hat mich auch sehr berührt. Im Buch spielt es lange nur eine Nebenrolle, für mich war es jedoch eines der zentralen Themen im Roman. Vater und Sohn finden keine gemeinsame Sprache – so lange, bis es zu spät ist. Interessanterweise habe ich mit dem Buch von Jonas T. Bengtsson innerhalb kurzer Zeit gleich zwei Romane gelesen, die sich mit dem Verhältnis zwischen Kindern und Eltern beschäftigen. Manchmal ist das ja so und du schreibst es ja auch in deinem Kommentar, dass einen Themen schon beinahe verfolgen. Dies scheint bei mir der Fall zu sein. Ich bin heutzutage so alt, wie du es damals gewesen bist und hoffe noch darauf, eine Gesprächsebene mit meinem Vater finden zu können.
Liebe Grüße
Mara
skyaboveoldblueplace
July 2, 2013 at 1:00 amLiebe Mara,
das ist, jedenfalls meiner Erinnerung nach, nicht einfach, weil beide Seiten dabei immer wieder versuchen müssen, von sich selber abzusehen. Da drück’ ich Dir alle Daumen!
Liebe Grüsse
Kai