Das Herz des Menschen – Jón Kalman Stefánsson

Download (14)Jón Kalman Stefánsson wurde 1963 in Reykjavik geboren und ist einer der bekanntesten isländischen Schriftsteller unserer heutigen Zeit. In Deutschland bekannt wurde er vor allem durch seine Romane “Himmel und Hölle” und “Der Schmerz der Engel”, die ersten beiden Teile seiner Romantrilogie, die er mit “Das Herz des Menschen” abschließt. Für diesen Roman erhielt er den Isländischen Buchhändlerpreis. Ins Deutsche übersetzt wurde der Text von Karl-Ludwig Wetzig.

“Das sind die Geschichten, die wir erzählen sollten.”

“Das Herz des Menschen” spielt irgendwann zum Ende des 19. Jahrhunderts und erzählt die Geschichte eines namenlosen Jungen, der von Jón Kalman Stefánsson im ganzen Roman immer nur als “der Junge” bezeichnet wird. Die Geschichte beginnt, als der Junge nach einer langen und strapaziösen Wanderung in einem fremden Zimmer in einem Fischerdorf aufwacht. Er war mit Jens und Hjalti als Sargträger unterwegs, nicht alle von ihnen konnten sich bis in das Dorf retten. Hjalti haben sie zurücklassen müssen.

Stück für Stück, versteckt zwischen vielen Fragen, Betrachtungen und philosophischen Gedanken, erfährt man etwas über das Leben des Jungen. Der Junge wuchs ohne Vater auf, dieser hat als Fischer gearbeitet, ohne schwimmen zu können und ist in den aufgeschäumten Wellen des Meeres ertrunken. Seine Mutter ist immer um seine Bildung bemüht gewesen, der Junge hat lesen und schreiben gelernt – seine Welt ist die Welt der Worte. Als er sich von seiner Reise erholt hat, sucht er als erstes den Kaufmannsladen auf, um Bücher zu kaufen, denn “wo gibt es Glück, Erfüllung, wenn nicht in Büchern, Dichtung, Wissen?”.

“Das Leben wird beim Lesen größer, sagt der Junge. Es wird reicher, sagt er. Es ist, als ob du etwas bekämst, was dir keiner mehr wegnehmen kann, niemals, sagt er. Es macht einen froh.”

Nach der beschwerlichen Reise über die Berge, die der Junge fast hätte mit dem Leben bezahlen müssen, wird er von Geirþrúður aufgenommen. Geirþrúður ist eine Frau, um die sich viele Gerüchte und Legenden ranken. Sie steht außerhalb der Gesellschaft, weil sie sich traut, so zu leben, wie sie leben möchte. Überhaupt spielen Frauen eine wichtige Rolle, nicht nur in diesem Roman, sondern vor allem auch für den Jungen. Da gibt es auch Álfheiður, das junge Mädchen mit den flammend roten Haaren und die Kaufmannstochter Ragnheiður.

“Wenn wir nicht selbst aufbrechen, wird nichts aus dem Leben. Wir müssen leben, um den Tod zu besiegen, das ist das Einzige, was wir können und vermögen. Wenn wir so gut leben, wie wir können, und besser sterben, dann besiegt uns der Tod niemals.”

Es war nicht leicht zu Beginn des Romans in die Geschichte hineinzufinden. Die Kapitel lesen sich so, wie ich mir eine isländische Saga vorstelle: es tauchen Namen über Namen auf, isländische Namen mit vielen unbekannten Sonderzeichen. Namen von Bekannten, von Freunden, neue Namen und alte Namen, die ich mir nicht merken kann. Nach wenigen Seiten glaube ich, dass es vielleicht klüger gewesen wäre, die ersten beiden Teile der Trilogie zuerst zu lesen, denn vielleicht fehlen mir ja wichtige Kenntnisse, vielleicht kann ich die Geschichte ohne dieses Hintergrundwissen gar nicht begreifen.  Doch ich beiße mich durch die ersten Kapitel, beiße mich in den Text hinein, beiße mich fest, so lange, bis ich den Roman schließlich kaum noch aus der Hand legen kann.

“Das Schwerste im Leben ist, dass man sich selbst und seiner Existenz niemals entkommt; man ist eingesperrt in ein Fach, in eine Welt, die dich niemals freigibt, außer vielleicht in vereinzelten Träumen, und dich sogleich wieder einholt, sobald du die Augen aufschlägst. Wie kann man das aushalten? Das Schwerste ist, wenn man nicht zu leben versteht, wenn man die Noten kennt, aber nicht die Melodie.”

Für mein Empfinden geht es in diesem außergewöhnlichen Roman nicht um eine Geschichte, die man für eine Rezension zusammenfassen könnte, sondern es geht um Stimmungen, um Bilder, um die Atmosphäre. Es geht um Worte. Schon auf den ersten Seiten des Romans wird deutlich, wie wichtig Worte für den Jungen sind, denn “Worte können ans Licht bringen, wer am Leben und wer tot ist.” Über die Bücher von Charles Dickens führt der Weg des Jungen in die Literatur. Für den Schulleiter und seinen Privatlehrer Gísli übersetzt der Junge die englischen Texte in seine Sprache, spielt mit den Worten und findet einen Weg, sich die Welt von Charles Dickens erschließen und sie mit den anderen Isländern teilen zu können.

“Die Wichtigkeit von Übersetzungen kann man kaum überschätzen, hat Gísli behauptet. Sie bereichern einen und erweitern den Horizont. Sie helfen, die Welt besser zu verstehen und auch sich selbst.”

Neben der Figur des Jungen ist es vor allem Geirþrúður, die mich berührt hat und die in meinen Augen eine tragende Rolle im Roman spielt. Zu einer Zeit, als dies für Frauen noch nicht üblich gewesen ist, präsentiert sie sich als unbeugsamer und selbstbewusster Charakter, der seinen eigenen Weg geht und um seine Unabhängigkeit kämpft. Die Leute halten sie für verrückt:

“Weil ich mich nicht beuge, es ablehne, ein Leben zu führen, wie man es mir vorschreiben will, weil ich mir von selbst angemaßten Provinzptentaten nichts sagen lasse und mein Leben nicht nach engstirnigen Maßstäben einzurichten gedenke […].”

Doch es geht nicht nur um Worte und eine tapfere Frau in einer Männerwelt, sondern es geht auch um den Tod. Es ist der Junge, der seine Reise über die Berge beinahe mit dem Leben bezahlen muss und es sind viele andere in diesem über 400 Seiten starken Roman, die für ihre Entscheidungen mit dem Tod bestraft werden. Der Tod als Bestrafung, denn: “Am Ende verwandeln wir uns alle in Schweigen.” Und was könnte schlimmer sein, als nicht mehr am Leben zu sein?

“Wir wissen nie, was im Leben als Nächstes kommt, wer den Tag noch bis zum Ende erlebt und wer stirbt, wir wissen nicht, ob der letzte Gruß ein Kuss, ein bitteres Wort, ein schneidender Blick sein wird, ob jemand nicht aufpasst, vergisst, nach links oder rechts zu gucken, und schon kann es zu spät sein, ein böses Wort zurückzunehmen, zu spät, sich zu entschuldigen, zu spät, noch über das wirklich Wichtige zu reden, über das, was wir eigentlich sagen wollten, was aber aus Verärgerung, Alltagsmüdigkeit oder Zeitmangel nie zur Sprache gekommen ist.”

Jón Kalman Stefánsson ist mit “Das Herz des Menschen” ein philosophischer und lesenswerter Roman gelungen, den man beinahe an jeder Stelle aufschlagen kann und sofort hinein gesaugt wird in diese faszinierende Welt. Der Roman wird weniger von einer Handlung geprägt, als von Stefánssons außergewöhnlicher Sprache und einem assoziativen Erzählstil. Der Autor nimmt den Leser an die Hand und führt ihn an den wichtigsten Themen der Menschheit vorbei: der Liebe, dem Leben, dem Tod. Und den Büchern.

4 Comments

  • Reply
    buchpost
    July 3, 2013 at 7:15 pm

    Danke für eine wieder sehr schön geschriebene und neugierig machende Besprechung. LG Anna

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 5, 2013 at 12:02 pm

      Liebe Anna,
      ich danke dir für deinen freundlichen Kommentar und freue mich sehr darüber, dass ich dich neugierig machen konnte! 😀

  • Reply
    Mariki
    July 4, 2013 at 9:05 am

    Du hast das Buch sehr gut eingefangen, so hat es auch auf mich gewirkt. Ich vermute allerdings, dass seine anderen Romane noch besser sind (ich kenne noch “Das Licht auf den Bergen”, das war grandios).

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 5, 2013 at 11:59 am

      Ich kenne von Stefánsson bisher leider noch kein weiteres Buch, habe mir aber schon fest vorgenommen, mehr von ihm zu lesen und zu entdecken. Wenn seine anderen Romane NOCH besser sein sollen, dann kann ich mich ja schon auf etwas freuen … 😀

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