Paola Predicatori wurde in Senigallia geboren und lebt und arbeitet heutzutage als Buchhändlerin in Mailand. “Der Regen in deinem Zimmer” ist ihr Debütroman und wurde von Verena von Koskull ins Deutsche übersetzt.
“Als meine Mutter erfuhr, sie habe Nierenkrebs, war die jähe Angst wieder da: Sie drückte mir die Luft ab, schoss mir ins Blut und zerriss mir das Herz. Meine Mutter war siebenunddreißig und hieß Anna. Zwei Jahre später war sie tot.”
“Der Regen in deinem Zimmer” erzählt die Geschichte von Alessandra, die sechzehn Jahre alt ist, als sie erfährt, dass ihre Mutter an Krebs erkrankt ist. Alessandra wächst in einer Familie auf, die von Frauenfiguren geprägt ist: sie lebt zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Einen Vater gab es nie und der Großvater starb, als Alessandra noch klein gewesen ist. Zwei Jahre später stirbt Alessandras Mutter, die lange gekämpft hat, obwohl die Ärzte ihr kaum eine Überlebenschance gegeben haben. Zwei Jahre lang lebt Alessandra ein Leben an der Seite ihrer todkranken Mutter, das schon lange nichts mehr mit dem Leben eines normalen Jugendlichen zu tun hat.
“Die beiden folgenden Jahre verbrachte ich wie unter einem Schatten. Klausuren, Prüfungen, Samstagabende in der Disco, Schwimmbad, Stadtbummel, aber in allem, was ich tat, war meine sterbende Mutter. Ihr Tod war überall: im Rucksack zwischen den Schulbüchern, in den rosig klaren Frühlingsabenden, aber vor allem in ihrem mutlosen, wissenden Blick.”
Alessandra ist die Erzählerin des Romans, sie erzählt von der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, von ihrem neuen Leben, das sie nun mit der Großmutter alleine verbringen muss, immer mit der Angst verbunden, irgendwann nicht mehr zu zweit zu sein, sondern alleine zurückzubleiben. Das junge Mädchen erzählt aber auch von ihrer Rückkehr in den Alltag und in die Schule, in die sie als neuer Mensch zurückkehrt, denn der Verlust der Mutter hat sie geprägt.
“Der Tod meiner Mutter hat mich zu einem Riesen gemacht: Von hier oben erscheinen alle Menschen bedeutungslos und völlig gleich.”
All das, was ihr zuvor etwas bedeutet hat, erscheint nun fremd. Die ehemals besten Freundinnen wirken mittlerweile nur noch abgehoben, ihr Verhalten aufgesetzt und übertrieben. Oder ist es Alessandra, die sich verändert hat? Nichts ist mehr so, wie es vorher gewesen ist. Als sie nach dem Tod der Mutter in die Schule zurückkehrt, setzt sie sich nicht neben ihre beste Freudnin Sonia, sondern neben Gabriele, der von allen nur Zero genannt wird. “Der Regen in deinem Zimmer” ist nicht nur die Verarbeitung eines Todes, sondern beschreibt auch das sanfte und vorsichtige Erblühen einer neuen Liebe. Zero und Alessandra, beide brauchen lange, um ihre Zuneigung füreinander zu entdecken und als es endlich so weit ist, ist es schon fast zu spät.
Gabriele ist ein schwieriger Schüler, sehr viel älter als die anderen, aus komplizierten Verhältnissen. Er fehlt häufiger, als dass er da ist und wenn er da ist, dann zeichnet er. Worte hat er nur wenige übrig, weder für die Lehrer, noch für Alessandra, seine neue Banknachbarin. Der Schulalltag an ihrem neuen Platz erscheint dem Mädchen wie ein Aufenthalt in einem neuen Land, in Zerolandia.
“Deshalb liebe ich Zerolandia. Die einzige Regel, die es zu respektieren gilt, ist eisernes Schweigen. Will man sich verständlich machen, dann nur mit Zeichensprache oder dem Morsealphabet. Jede Nachricht, jeder Laut aus dem Rest der Welt bricht sich an den Landesgrenzen und erreicht einen wie ein Windstoß, der über Ödland geht.”
Die kurzen Kapitel tragen jeweils ein Datum als Überschrift: Alessandra erzählt von einem Zeitraum, der beinahe 10 Monate umfasst. Die Einträge reichen vom 27. September bis zum 27. Juni. Unterbrochen werden sie von Erinnerungen an die geliebte Mutter, die nun nicht mehr da ist, um Alessandra zu unterstützen, ihr zuzuhören oder einfach nur da zu sein.
“Jetzt, wo du nicht mehr da bist, erscheint alles, was ich früher gemacht habe, völlig sinnentleert, wie eine auswendig gelernte Rolle, die keine Improvisation mehr zulässt.”
Paola Predicatori gelingt es, sich mit sehr viel Sensibilität und Feingefühl in die Gedankenwelt ihrer Hauptfigur hineinzuversetzen. Die kurzen Kapitel erinnern an Tagebucheinträge oder auch an Briefe, die das junge Mädchen an ihre verstorbene Mutter geschrieben haben könnte . Eine Interpretation bleibt in diesem Fall dem Leser überlassen. Alessandra und Gabriele sind zwei Menschen, die auf den ersten Blick so unterschiedlich erscheinen, die aber viel mehr verbindet, als sie eigentlich ahnen: beide sind einsam. Gabriele ist in der Schule schon lange ein Außenseiter und hat sich in dieser Rolle eingerichtet. Alessandra macht sich nach dem Tod ihrer Mutter selbst zur Außenseiterin und zieht sich zurück. Für das Mädchen ist dies die einzige Möglichkeit, mit dem Tod ihrer Mutter umzugehen.
“Jetzt habe ich begriffen: es stimmt nicht, dass Tote nichts mehr brauchen. Das Schreckliche ist nicht, einen geliebten Menschen zu verlieren, sondern nicht mehr von ihm zu sprechen.”
“Der Regen in deinem Zimmer” ist ein einfühlsamer und ruhiger Roman, über den Tod, das Leben und die Liebe. Paola Predicatori gelingt es, trotz der traurigen Thematik, ihren Roman mit einem Hoffnungsschimmer abzuschließen. Mit der Hoffnung darauf, dass es möglich ist, einen schmerzlichen Verlust zu überwinden, auch wenn man den Menschen, den man verloren hat, nie vergessen wird. Ein wunderbarer Roman, der dazu anregt, über das Leben nachzudenken und über das, was einem wichtig ist. Ich habe ihn mit Tränen in den Augen zugeklappt und mich zugleich getröstet gefühlt.
13 Comments
B.ee
July 8, 2013 at 9:21 pmLiebe Mara, danke für die schöne Rezi. Das Buch steht auch schon auf meiner Wunschliste.
Langsam weiß ich echt nicht mehr, wie ich ein Jahr keine Bücher kaufen soll. Seufz. Man tut sich Sachen an…
buzzaldrinsblog
July 10, 2013 at 10:38 amLiebe Bee,
ich kann dich für dein Vorhaben nur Bewundern, ich würde so etwas wohl niemals schaffen oder müsste dann auch gleich auf das Lesen jeglicher Berichte über neue Bücher verzichten, da ich sonst zu sehr in Versuchung geführt werden könnte. 😉
B.ee
July 11, 2013 at 7:40 pmJahaaa! Da siehst Du mal, wie es mir tagtäglich geht. Ich komme mir vor, als sei ich ein anonymer Bucholiker und es würde versucht, mich via Flooding zu therapieren….heul…
buzzaldrinsblog
July 12, 2013 at 12:11 pmOh ja, da hast du dir wirklich eine ganz schwere Aufgabe gesetzt … du kannst dich dann ja im nächsten Jahr mit ganz vielen Bucheinkäufen dafür belohnen! 😉
Karin Braun
July 9, 2013 at 7:54 amWie immer macht deine Rezension so viel Lust auf das Buch. Klingt wirklich lecker. Alles Liebe KArin
buzzaldrinsblog
July 10, 2013 at 10:28 amLiebe Karin,
freut mich sehr! 😀 Das Buch scheint bei all den Neuerscheinungen in diesem Frühjahr etwas untergegangen zu sein, was ich wirklich schade finde, denn ich habe die Lektüre als sehr lesenswert empfunden.
Tanja
July 9, 2013 at 12:57 pmWie wahr,
mit dem letzten Zitat habe ich glasige Augen bekommen. Danke für diese wunderbare Buchbesprechung. Ich glaube, dass das Buch an jedes Herz geht. LG 😉
buzzaldrinsblog
July 10, 2013 at 10:26 amLiebe Tanja,
oh ja, das Buch geht beim Lesen in der Tat ans Herz und auf den letzten Seiten ist mir zugleich ganz schwer und leicht ums Herz geworden. 🙂 Aufgrund der jugendlichen Charaktere erweckt das Buch fast den Eindruck, es könnte sich auch um ein Jugendbuch handeln, ich habe es aber nicht so gelesen. Wie auch immer ist “Der Regen in deinem Zimmer” ein großartiger Roman, den ich nur empfehlen kann.
Ariana
July 20, 2013 at 1:47 pmLiebe Mara,
schon wieder hast du es mit einer deiner tollen Rezensionen geschafft, ein Buch auf meine Leseliste zu befördern. Dabei habe ich doch eh schon viel zu wenig Zeit für viel zu viele Bücher … Egal, eines mehr geht immer irgendwie. 😉
buzzaldrinsblog
July 22, 2013 at 2:01 pmLiebe Ariana,
ich freue mich sehr darüber, dass ich dich auf das Buch neugierig machen konnte, denn ich habe es auch sehr gerne gelesen und würde dem Buch viele weitere Leser wünschen. Ich bin schon ganz gespannt, wie es dir gefallen wird. 😀 Und das Problem von zu wenig Zeit und zu vielen Büchern kenne ich auch nur zu gut, da geht es dir nicht alleine so … 😉
Liebe Grüße
Mara
ariete
September 24, 2013 at 4:29 pm… ein wunderbares, leises Buch, das mich zutiefst berührt hat. Ich war hin und hergerissen zwischen dem Weiterlesen und dem Langsambleiben, damit es nicht so schnell endet….
Man denkt über das eigene Leben, das Verhältnis zu den eigenen Kindern, über Versäumtes nach und darüber dass man “noch” Zeit hat, das ein oder andere zu sagen und zu zeigen. Man schaut über den Zaun der Jungen und weiß, dass man viele Erfahrungen und Verletzungen nicht von ihnen abwenden kann. Es zeigt einmal mehr, dass hinter der Schroffheit und der Sprachlosigkeit so viel gesagt werden will…
Ich bin dankbar, dieses Buch gelesen zu haben …
buzzaldrinsblog
September 26, 2013 at 10:10 amLiebe Ariete,
herzlichen Dank für deinen Besuch und deine wunderbaren Worte, die mich direkt ins Herz getroffen und mir Geschichte, die ich bereits vor einigen Monaten gelesen habe, noch einmal zurück ins Gedächtnis gerufen hat. Mich hat der Roman, der ja eigentlich ein Jugendbuch ist, auch sehr berührt und nachdenklich gestimmt und ich denke auch jetzt immer noch sehr gerne an diese Lektüre zurück.
Liebe Grüße
Mara
Sarah
November 4, 2015 at 5:30 pmLiebe Mara,
Heute kam eine Kundin und schwärmte von diesem Buch, wir kamen über “Ich nannte ihn Krawatte” darauf, was ich gerade nochmal für meinen Lesekreis gelesen hatte 😉 Dann googelte ich den Titel und stieß just auf deine Rezension – wie schön! Nun freue ich mich gleich doppelt darauf!
Herzlichste Grüße,
Sarah