Schneckenmühle – Jochen Schmidt

Jochen Schmidt wurde 1970 in Berlin geboren und arbeitet heutzutage als Autor und Journalist. Er schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und die taz und veröffentlichte zuletzt “Schmidt liest Proust” und “Dudenbrooks”. “Schneckenmühle” ist seine neueste Veröffentlichung und erschien in diesem Frühjahr im C.H.Beck Verlag.

Jens ist vierzehn Jahre alt und darf zum letzten Mal in das sächsische Ferienlager Schneckenmühle mitfahren. Es ist der Sommer 1989; die DDR gibt es noch, doch es wird deutlich, dass in diesem Sommer nicht nur die Kindheit von Jens zu Ende geht, sondern auch der Staat, in dem  er lebt.

“Es ist etwas, was ich überall beobachte, das Leben wird immer schwieriger und anstrengender.”

Schneckenmühle ist ein Ferienlager im sächsischen Mittelgebirge und für Jens ist der Aufenthalt dort beinahe wie der Besuch in einer anderen Welt. Er erlebt dort Dinge, von denen seine Eltern und seine älteren Brüder keine Ahnung haben. Es ist für Jens die letzte Verschnaufpause auf einem Weg, der ihm sicher und unausweichlich vorgezeichnet erscheint. Noch vier Jahre zur Schule gehen und danach in die Armee, anschließend “muß man studieren”, auch wenn Jens noch keine Idee davon hat, was er eigentlich studieren möchte.

“Irgendwie wird sich bis dahin herausstellen, wofür ich mich interessiere, bis jetzt ja eigentlich nur für Fernsehen und Geschenke auspacken.”

In Schneckenmühle spielt Jens mit den anderen Jungs Skat, hat aber immer Angst davor, mit Mischen dran zu sein, denn er mischt noch wie ein Kind – nach der Methode von Oma Rakete. Auch die Mädchen werden natürlich immer interessanter und wichtiger, doch Jens hat Angst davor zu tanzen. Wenn die Musik einsetzt, weiß er sich einfach nicht zu helfen – was soll man denn nur mit diesen ganzen Körperteilen anstellen und wie machen das die anderen? Jens tanzt zwar in diesem Sommer nicht, aber dafür fährt er zum ersten Mal Auto und das mit gerade einmal vierzehn Jahren. Aber wem soll man das erzählen können? Von den politischen Veränderungen in Deutschland bekommt man im Ferienlager wenig mit, auch wenn die Betreuer des Ferienlagers sich einer nach dem anderen auf und davon machen – über die Grenze und in den Westen.

“Ich hatte das Gefühl, daß meine Eltern gar nicht wußten, wer ich war, weil sie die letzten Wochen nicht miterlebt hatten. Es hatte gar keinen Sinn, ihnen davon zu erzählen, weil es nicht möglich war, alles genau so zu beschreiben, wie es gewesen war.”

Als sich Jens mit Peggy, dem einzigen Mädchen im Ferienlager, das aus Sachsen stammt und komisch spricht, anfreundet, spitzt sich die Entwicklung langsam zu und gipfelt in einem beinahe schon surrealistischen Höhepunkt, den Jens als Bruch empfindet. Als Wende der Kindheit, in der sich die politische Wende, die es wenig später geben sollte, spiegelt. Es ist das Ende der Kindheit, das Ende der Unschuld und eine Zeit, über die Jens nur schwer sprechen kann. Er hat zu viel ohne seine Eltern erlebt, um das Erlebte noch teilen zu können. In Schneckenmühle hat er seine ersten Schritte gemacht in ein Leben als Jugendlicher und wurde gleichzeitig vertrieben, vertrieben aus der eigenen Kindheit. Dass er auch aus dem Leben vertrieben wird, das er bis dahin kannte, wird Jens erst sehr viel später bewusst werden …

“Es ist so traurig, daß mich zu Hause keiner versteht, sie wissen ja nicht mal, daß ich Auto fahren kann.”

Jochen Schmidt hat seinen Roman “Schneckenmühle”, der 220 Seiten schmal ist, in drei Abschnitte und 35 Kapitel eingeteilt. Die häufig kurzen Passagen erinnern an Erinnerungssplitter. Die Splitter folgen keiner Chronologie, sondern Jens springt in seiner Erzählung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her. Zu Beginn ist es nicht immer ganz einfach, diesem wechselhaften Gedankenstrom zu folgen, doch mit der Zeit ist es mir gelungen, mich in den Tonfall und die Gedankenwelt von Jens hineinzulesen. Jens ist ein sympathisches Kind, das für seine vierzehn Jahre – vor allem auch im Vergleich zu der heutigen Generation – noch sehr naiv und unschuldig erscheint. Er ist nachdenklich und betrachtet die Welt aus einem ganz besonderen Blickwinkel. Vieles, über das er sich ernsthafte Gedanken macht, wirkt beim Lesen eher belustigend und lädt dadurch zum Schmunzeln ein.

“Schneckenmühle” hat mich an Klaus Modicks Roman “Klack” erinnert, auch wenn die Bücher zu unterschiedlichen Zeiten spielen. Beide Bücher sind Erinnerungsbücher, dank denen man zurückreisen kann in die Vergangenheit. Jochen Schmidt beschreibt eine Vergangenheit, die ich selbst nicht erlebt habe, die aber durch die Erlebnisse von Jens plastisch und begreifbar wird. Besonders gelungen ist dabei die Verschränkung von persönlicher und politischer Geschichte. Jens ist noch zu unwissend und zu verhaftet in seiner kindlichen Welt, um die politischen Hinweise und Andeutungen, über die er im Ferienlager stolpert, zusammenzusetzen zu können, doch als Leser begreift man bereits ein bisschen mehr von dem, was in diesem Sommer geschieht.

“Schneckenmühle” ist eine Reise in die Vergangenheit und ein Roman, der durch eine Vielzahl an Erinnerungssplittern tiefe Einblicke in die damalige DDR gibt. Jochen Schmidt ist ein lesenswerter Roman gelungen. “Schneckenmühle” ist ein Roman für Menschen, die selbst in der DDR aufgewachsen sind und sich mithilfe dieses Buches zurückerinnern können, aber das Buch ist auch für jüngere Menschen geeignet, die Interesse daran haben, sich mit der Gegenwartgeschichte auseinanderzusetzen. “Schneckenmühle” ist ein wunderbar geschriebener Roman, der in meinen Augen aus den jährlichen Neuerscheinungen deutschsprachiger Autoren und Autorinnen heraus sticht und viele Leser verdient hat!

3 Comments

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    July 13, 2013 at 3:40 pm

    Hallo Mara,
    das klingt nach einem Buch auf der (zeitgeschichtlichen) Kippe, geschildert aus der Sicht eines Kindes, der auch auf der Kippe steht, vom Kind zum Jugendlichen. Sehr interessant, wenn man bloss immer alles lesen könnte…
    Danke für die schöne Besprechung, Kai

  • Reply
    Klappentexterin
    July 14, 2013 at 5:57 pm

    Verrückt, liebe Mara, du hast mich gehört! Gerade diese Woche habe ich sehr oft an dieses Buch gedacht, das noch traurig und ungelesen bei mir im Regal steht. Das wird sich jetzt – dank deiner überzeugenden Rezension – ganz bald ändern. Merci!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 15, 2013 at 11:34 am

      Liebe Klappentexterin,

      bei mir stand das Buch auch viel zu lange ungelesen im Regal herum und ich freue mich sehr darüber, es endlich gelesen zu haben. Ich bin schon ganz gespannt darauf, ob dir das Buch auch gefallen wird. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

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