Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall – David Hewson und Søren Sveistrup

David Hewson, der 1953 in Yorkshire geboren wurde, verließ bereits mit siebzehn Jahren und ohne Abschluss die Schule. Später arbeitete er für die Times und den Independent. Auf Deutsch erschien von ihm bereits der Krimi “Das zweite Leben”. Der 800 Seiten starke Kriminalroman “Das Verbrechen” ist der Versuch von David Hewson, die Fernsehserie “Kommissarin Lund”, die auf den Drehbüchern von Søren Sveistrup basiert, in die Form eines Romans zu pressen. Ins Deutsche übersetzt haben das Buch Barbarba Heller und Rudolf Hernstein.

“Das Verbechen” erzählt die Geschichte eines Mordfalls in Kopenhagen, dessen Ermittlungen sich über zwanzig Tage hinziehen. Für die Kommissarin Sarah Lund soll der 31. Oktober eigentlich der letzte Arbeitstag bei der Polizei in Kopenhagen sein, der Flug nach Schweden ist für den Abend bereits gebucht, “neue Ufer, abgebrochene Brücken”. Gemeinsam mit ihrem Sohn und ihrem Lebensgefährten möchte Lund in ein neues Leben starten. Es ist ein Freitag und der Tag beginnt mit einer Überraschung der Kollegen und Kolleginnen zum Abschied, doch dann wird aus einem Routinetag plötzlich der Beginn eines mysteriösen Mordfalls.

“Ein gleißendes Auge verfolgt sie, wie ein Jäger das angeschossene Wild. Im Zickzack, langsam näher rückend, bewegt es sich durch den Pinseskoven, den Pfingstwald.”

Die neunzehnjährige Nanna Birk Larsen wird tot in einem Auto gefunden, das in einem Kanal im Pfingstwald, dem Pinseskoven, versenkt wurde. Bei der Obduktion stellen die Gerichtsmediziner fest, dass das junge Mädchen mehrmals vergewaltigt und schwer misshandelt wurde. Sarah Lund, die achtunddreißig Jahre alte Polizistin nimmt die Ermittlungen auf und beschließt aufgrund der ungewöhnlichen Schwere des Verbrechens, ihre Abreise nach Schweden zu verschieben. Zunächst glaubt sie, spätestens in den nächsten Tagen abreisen zu können, doch dann bleibt sie bis zum 21. November – so lange sollte es dauern, bis die Polizei endlich Erfolg mit ihren Ermittlungen hat. Bei ihrer Arbeit wird sie von Jan Meyer unterstützt, ihrem Nachfolger in Kopenhagen. Beide beginnen ihre Zusammenarbeit eher unfreiwillig und mit mäßiger Begeisterung, doch im Laufe der Ermittlungen gelingt es ihnen, sich und ihre Arbeitsweisen zu respektieren.

“So war sie nun einmal. Das war sie nun einmal. Die Frau, die sich zum Vicekriminalkommissar im Morddezernat hochgearbeitet hatte. Ihren Job behielt aufgrund von Leistung, nicht von Politik oder einem abstrakten Begriffs von Gleichberechtigung, den sie insgeheim verachtete.” 

Zeitgleich zu den Mordermittlungen findet in Kopenhagen der Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeisters statt, der mit harten Bandagen und allen Finessen geführt wird. Kirsten Eller, Troels Hartmann und Poul Bremer schenken sich gegenseitig nichts bei dem Versuch, ihr Ziel zu erreichen. Während Poul Bremer, der aktuelle Oberbürgermeister seine Position verteidigen möchte, will der liberale Politiker Troels Hartmann, der charismatisch und gutaussehend ist, diesen unbedingt ablösen. Als die Ermittler feststellen, dass das Auto in dem Nanna Birk Larsen gefunden wurde, zu dem Wahlkampfteam von Troels Hartmann gehört, nehmen die Ermittlungen nicht nur an Fahrt auf, sondern auch die Brisanz nimmt zu, denn die Politik ist ein Terrain, auf dem auch Sarah Lund noch nicht häufig ermittelt hat.

Doch das Rathaus ist nicht der einzige Ort, an dem Lund und Meyer ermitteln. In der Schule, die Nanna Birk Larsen besucht hat, sehen sich die beiden um und verhören Schüler und Lehrer. Auch die Familie des Mädchens wird unter die Lupe genommen. Der Vater Theis Birk Larsen und die Mutter Pernille  betreiben gemeinsam ein Umzugsunternehmen, mit dem sie so erfolgreich sind, dass die Arbeit es ihnen ermöglicht, mit ihren drei Kindern ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Bis zum 31. Oktober, der Tag, an dem sie ihre Tochter verloren haben.

Wenn man es nicht besser wüsste, würde man nach beinahe 200 Seiten bereits glauben, das Buch sei zu Ende und der Mörder gefunden – doch dem ist nicht so, denn es folgen noch weitere 600 Seiten, voller Wendungen, neuer Hinweise und neuen Verdächtigen. Die Ermittlungsarbeit der Polizei, die nicht selten von Pannen geprägt ist, spielt in der literarischen Umsetzung von David Hewson eine zentrale Rolle und wird von ihm authentisch und bis in das kleinste Detail hinein beschrieben. Aber auch die Entwicklungen rund um den Mordfall und den Ermittlungen in der Lokalpolitik nnehmen einen großen Raum ein. Die Schilderungen des unerbittlichen Wahlkampfs sind spannend und mitreißend geschildert. Zu den interessanten und berührendsten Stellen des Buches gehören aber vor allem die Passagen in denen es darum geht, wie die von diesem Mordfall persönlich Betroffenen damit umgehen.

“Draußen im Kalvebod Faelled, beim Pfingstwald. Eine schwarze Silhouette, die aus dem Wasser auftaucht. Ein Aal, der über die nackten Beine eines toten Mädchens gleitet. Die Ereignisse hatten alles geformt, was danach kam. Die Ereignisse hatten sie kopflos gemacht.”

Ein Mord tötet nicht nur einen einzelnen Menschen, sondern hat auch für dessen Umfeld weitreichende Konsequenzen. Mit viel feinem Gespür schildert David Hewson die Auswirkungen für die Eltern von Nanna Birk Larsen, die nicht nur ihr Vertrauen in die Polizeiarbeit und in ihre Umwelt verlieren, sondern auch in sich selbst. Die Entwicklung ist schleichend, doch zwischen dem Paar klafft – wo vorher kein Blatt zwischen gepasst hätte – plötzlich eine schmerzhaft spürbare Lücke. Ein Abgrund. Das, was mit ihrer Tochter geschehen ist, hat beide unfassbar weit voneinander entfernt, statt dass es sie vereint hat. Denn auch wenn sich äußerlich nichts verändert hat, nichts zerbrochen und nichts verloren ist, ist plötzlich alles anders.

“Theis Birk Larsen befand sich wieder im Bauch einer Bestie, die er hasste und die ihn hasste. Und es war ganz allein seine Schuld.”

Betroffen sind jedoch nicht nur die Eltern, sondern auch die in diesem Fall unschuldigen und irrtümlichen Verdächtigten, deren Leben einen dunklen Fleck bekommt, einen Schatten, für den sie nichts können, den sie aber auch nicht mehr loswerden können. Ihr Name ist nun unweigerlich mit diesem Verbrechen verbunden. Und auch Sarah Lund ist betroffen, denn die Polizeikommissarin riskiert für diese Ermittlungen nicht nur Kopf und Kragen, sondern setzt auch das Verhältnis zu ihrem Sohn und ihrem Lebensgefährten aufs Spiel.

David Hewson ist mit “Das Verbrechen” ein herausragender Roman gelungen, der vor allem durch einen stellenweise kaum auszuhaltenden Spannungsbogen besticht. Die Idee, eine Fernsehserie in das Format eines Romans zu überführen, ist ungewöhnlich, da häufiger der umgekehrte Weg gegangen wird – in diesem Fall ist das außergewöhnliche Experiment jedoch gelungen. David Hewson hat, damit das Buch auch reizvoll für diejenigen ist, die die Fernsehserie bereits kennen, einige Handlungsstränge verändert, entfernt oder hinzuerfunden. Entstanden ist dabei ein hochspannender und unheimlich lesenswerter Krimi, der nicht nur einen Einblick in polizeiliche Ermittlungsarbeit ermöglicht, sondern auch aufzeigt, wie ein Verbrechen Menschen und ganze Familien zerstören kann. Abgerundet wird das Leseerlebnis durch ein rasantes und unglaubliches Ende. Also: lesen, lesen, lesen – dieser Kriminalroman ist nicht nur für die dunklen und winterlichen Tage geeignet, sondern eine Lektüre, die einen zu jeder Jahreszeit packt.

8 Comments

  • Reply
    lme
    July 24, 2013 at 10:03 am

    Das hört sich wirklich nach einem gelungenen Roman an. Generell lasse ich ja eigentlich lieber die Finger von “das Buch zum Film”. Aber hier hast du mein Interesse an der Geschichte geweckt! Danke!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 24, 2013 at 10:20 am

      Lustigerweise heißt das ja eh meistens “der Film zum Buch” – dass dieses Prinzip hier umgedreht wird, ist sicherlich ungewöhnlich, aber sehr gelungen! 🙂 Ich freue mich auf jeden Fall, dass dein Interesse geweckt wurde. Die Fernsehserie kenne ich bisher noch nicht, werde dort aber auf jeden Fall bald mal einen Blick hineinwerfen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    brunnenwaechterin
    July 24, 2013 at 12:07 pm

    Ich bin eigentlich gar kein Seriengucker, aber diese Fernsehserie habe ich bis zum Ende verfolgt, so spannend war sie. Und wie es anscheinend ja auch im Buch umgesetzt wurde, erzählte die Serie viel von der Familie des Opfers und das langsam verloren gehende Vertrauen. Aber es ist schon eine ungewöhnliche Idee, aus einer Serie ein Buch zu machen. Das kenne ich sonst nur von Blockbuster-Filmen. Da wird dann schnell ein Buch hinterhergeschickt, das die Handlung eigentlich nur nacherzählt. Aber das hier hört sich ja wirklich nach Qualität an.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 26, 2013 at 12:22 pm

      Oh ja, dieses Buch zeichnet sich wirklich durch eine ansprechende Qualität aus – ich habe selten zuvor einen so lesenswerten Krimi gelesen, bin aber natürlich auch keine Krimi-Expertin. 😉 Der Fokus auf der Familie des Opfers und wie diese langsam zerbricht an dem, was passiert ist – ihr Vertrauen in ihre Umwelt, die Polizei, ihre Mitmenschen und schließlich in sich selbst verliert, ist beeindruckend geschildert.
      Falls du dich für das Buch entscheiden solltest, wünsche ich dir ganz viel Spaß bei der Lektüre! 😀

  • Reply
    IngridW
    July 24, 2013 at 1:56 pm

    Klingt ja nach Begeisterung pur. Da fällt mir ein, dass ich schon lange keinen Krimi mehr gelesen habe … Grüße, Ingrid

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 26, 2013 at 11:22 am

      Liebe Ingrid,

      ich habe bis zu den letzten Monaten auch lange schon keinen Krimi mehr gelesen und dann aber einige gute in die Hände bekommen. Ein guter und spannender Krimi, kann doch einfach nie schaden … finde ich! 😀

  • Reply
    dasgrauesofa
    July 24, 2013 at 3:16 pm

    Liebe Mara,
    da hast Du Dich bei dem Wetter ja mit spannender Lektüre beschäftigt! Das passt ja gut. Ich bin auch der Fernsehserie gespannt gefolgt und fand es schon irre gemacht, über ich glaube zehn Folgen die Spannung so hoch zu halten. Mir ist dabei besonders das “dreckige” Politikgeschäft rund um den Wahlkampf in Erinnerung geblieben – aber wie bei jedem guten Krimi habe ich völlig vergessen, wer der Täter ist. So könnte ich mich durch den Roman tatsächlich mit Gewinn lesen. Jedenfalls kann ich die Serie sehr empfehlen, sie ist richtig gut gemacht, nicht so langweilig, wie der ein oder andere Tatort.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      July 26, 2013 at 12:20 pm

      Liebe Claudia,

      die Fernsehserie kenne ich leider nicht, so ganz ohne Fernseher hat man zwar eine Menge Zeit, verpasst dann aber auch ab und an so richtig gute Sachen. Ich möchte die Serie aber auf jeden Fall sehen und hoffe nun darauf, sie mir auf DVD besorgen zu können. Die Spannung im Buch ist auch spürbar, um so bemerkenswert, da sie sich über 800 Seiten hält.
      Da das Buch sowieso wohl etwas anders endet, als der Film, kannst du dich ruhig auch am Buch versuchen – ich kann dir die Lektüre, gerade auch an diesen warmen Tagen, die den Kopf ganz matschig machen, nur empfehlen.

      Sonnige Grüße, in der Hoffnung, dass deine Hunde die Hitze gut vertragen!
      Mara

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