Michael Roes wurde 1960 in Rhede in Westfalen geboren. Mehrjährige Aufenthalte im Jemen, in Israel und in Amerika sind ein wichtiger Fundus, aus dem er Inspiration für seine Bücher schöpft. Für sein vielfältiges Werk wurde der Autor bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt stand er im vergangenen Jahr mit dem vorliegenden Roman auf der Longlist des Deutschen Buchpreis.
In “Die Laute” erzählt Michael Roes die Geschichte des Jungen Asis, der im Jemen aufwächst. Es ist ein Aufwachsen in einem Land, das als unruhig bezeichnet werden kann. Zwei Ereignisse prägen die Kindheit dieses Jungen: der schmächtige Asis wird mit gerade einmal dreizehn Jahren von einem Blitzschlag getroffen, auf dem Weg vom Sportplatz zur Telefonzelle, von wo aus er seiner Mutter Bescheid sagen möchte, dass es später wird. Asis überlebt, er hat das Glück, das sich ein Arzt in der Nähe befindet, der ihn sofort reanimieren kann. Doch die Folgen dieses Zwischenfalls, den Asis bereits schnell wieder vergessen hat, sind erstaunlich. Denn plötzlich öffnet sich sein Gehör für die Musik, plötzlich hört er Töne, die er zuvor nicht wahrgenommen hat. Es ist vor allem die traditionelle Lautenmusik, die ihn wie einen Blitzschlag ins Herz trifft – eine Musik, die er nie zuvor gehört hat.
“Er bleibt vor dem Laden stehen, lauscht der ‘Ud und fühlt die Töne in sich eindringen, dass es ihm schier das Herz zerreißt. Tränen treten ihm in die Augen, es ist lächerlich, er hat seit Jahren nicht mehr geweint, und ein Schmerz sprengt seine Brust, der mit nichts zu vergleichen ist.”
Es ist der Ruf der Laute, der Ruf der Musik, der Asis von einem Moment auf den anderen packt. Von seinem Retter, der ihm nach dem Blitzschlag zurück ins Leben holte, erhält der Junge eine Laute geschenkt und beginnt darauf zu spielen. Die Laute steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem zweiten Ereignis, das Asis’ Kindheit prägen sollte. Für ein Nachbarmädchen, in das er sich verknallt hat, spielt er auf seinem neuen Instrument – so lange, bis er den Zorn ihrer Brüder auf sich zieht. Bei einem brutalen Übergriff der Brüder wird er so schwer verletzt, dass er sein Gehör verliert.
Was bedeutet es für einen Jungen, in so jungem Alter die Fähigkeit zu hören zu verlieren? Was bedeutet dies für einen Jungen, der gerade seine Begeisterung für musikalische Töne entdeckt hat? Was bedeutet dies für einen Jungen, der in ärmlichen Verhältnissen im Jemen aufwächst? Asis’ Vater ist ein einfacher Schuhmacher, seine Mutter durfte nie eine Schule besuchen und kann weder lesen noch schreiben. Sie können ihrem Sohn mit seiner Behinderung nicht helfen, sie können ihm nichts mehr mitteilen, denn aufschreiben können sie ihre Worte nicht und lesen, was ihr Kind schreibt, können sie auch nicht. Sie geben Asis weg, nach Aden, in eine Schule für Gehörlose.
“Welches Gesetz zwingt Menschen, die sich so fremd sind, einen Großteil ihres Lebens aneinandergefesselt zu verbringen?”
Doch Asis’ Weg ist in Aden noch nicht zu Ende; der Weg für ihn führt weiter, nach Polen. In Now Huta arbeitet er am Flughafen in der Packhalle. Immer dabei ist seine Begeisterung für die Musik, die er sich erhalten hat und die auch nach dem Gehörverlust nicht abgenommen hat. Wenn er von der Arbeit nach Hause zurückkehrt, komponiert er in seiner Freizeit eine Oper. Es ist die Liebe zur Musik, die sein weiteres Leben bestimmen wird ….
Michael Roes legt mit “Die Laute” ein vielschichtiges und vielstimmiges Buch vor, in dem eine ganze Bandbreite an Themen verarbeitet wird, ohne das es Gefahr läuft, überfüllt zu wirken. Eines der zentralen Themen klingt bereits im doppelbödigen Titel an: die Laute ist zum einen das Musikinstrument, durch das Asis erst seine Liebe zur Musik entdeckt, zum anderen sind mit dem Begriff aber auch all diejenigen Laute gemeint, die Asis mittlerweile nicht mehr hören kann, die er nur noch fühlend wahrnehmen und erahnen kann. Nach dem brutalen Überfall gibt es zunächst noch akustische Gehörreste, die ein Hörgefühl suggerieren, doch die Hörerinnerungen verblassen mit der Zeit – neue Eindrücke sind schnell nicht mehr mit Geräuschen verknüpft. Die Frage, wie man einen ausfallenden Sinn, mit anderen Sinnen ersetzen kann, ist einer der Aspekte, die bei Michael Roes im Mittelpunkt stehen. Auch in dem Begriff lautlos steckt ein Laut, doch wie kann man diesen wahrnehmen und wie können sich gehörlose und hörende Menschen verständigen?
Die Thematik des gehörlosen Komponisten wirkt beinahe klischeehaft, doch Michael Roes gelingt in seinem Roman sehr viel mehr als die simple Fortschreibung der Geschichte Ludwig van Beethovens. Der Roman erzählt die Geschichte eines beeindrucken Jungen, von Freundschaften, die vergänglich sind, vom Wachsen am eigenen Selbst und dem Entwachsen von Verhältnissen – es ist ein beeindruckendes Themenspektrum, das Michael Roes in seinem Roman zu einer großartigen Komposition vereinigt.
“Die Laute” ist ein anspruchsvoller und experimenteller Roman, der viel von seinem Leser fordert, ohne sich dabei jedoch zu intellektuell, fremd oder abgehoben zu geben. Im Vordergrund stehen spannende Gedanken und Bilder zum Thema des Hörens und Verstehens – ergänzt werden diese Gedanken durch eine poetische Sprache, die vor allen Dinge in den Passagen, die im Jemen spielen, beeindruckende Bilder und atmosphärisch dichte Schauplätze erschafft.
5 Comments
dasgrauesofa
August 31, 2013 at 3:23 pmLiebe Mara,
du hast “Die Laute” so schön besprochen und mich so neugierig gemacht, dass ich sie “im Auge” behalten werde.
Viele Grüße, Claudia
skyaboveoldblueplace
September 1, 2013 at 10:42 pmLiebe Mara,
den Michael Roes kannte ich ehrlich gesagt noch gar nicht, aber er scheint ein interessanter Autor zu sein. Das Thema finde ich jedenfalls hochinteressant und mit Deiner Besprechung hast Du mir fataler weise mal wieder Lesehunger gemacht. Und von Metthes & Seitz kenne ich keine schlechten Bücher, also: kommt auf die unendliche Liste.
Danke mal wieder für die Besprechung und liebe Grüsse,
Kai
buzzaldrinsblog
September 4, 2013 at 10:36 amLieber Kai,
ich kannte Michael Roes zuvor auch nicht, aber gerade durch seine Auslandserfahrungen scheint er ein interessanter und vielschichtiger Autor zu sein. Ich hoffe, dass ich in den nächsten Wochen Zeit dazu finden werde, weitere Bücher von ihm zu entdecken – wenn ich etwas lese, das mir gut gefällt, dann bin ich immer gleich “angefixt” und muss weiter lesen.
Auch dir liebe Grüße
Mara
Karo
September 2, 2013 at 11:04 am“Die Laute” habe ich hier auch seit einem Jahr hier rumstehen und ich muss gestehen, ich wusste noch nicht mal worum es geht *schäm* Deine Rezension hat mich aber doch wieder neugierig gemacht! Das Buch darf bleiben! 😀
buzzaldrinsblog
September 4, 2013 at 10:34 amLiebe Karo,
auch bei mir stand der Roman länger unangetastet im Regal – etwas, dass ich nun – nach der Lektüre – nicht mehr so ganz nachvollziehen kann. Michael Roes hat einen wirklich vielschichtigen und lesenswerten Roman vorgelegt und ich bin froh, diesen entdeckt zu haben.
Liebe Grüße
Mara