Dagmar Leupold, die 1955 geboren wurde, lebt heutzutage in München. Nach einem Studium der Germanistik, Philosophie und Klassischen Philologie arbeitet sie seit Mitte der 80er-Jahre als freie Schriftstellerin. 2009 erschien ihr letzter Roman, “Die Helligkeit der Nacht”. Mit ihrer aktuellen Veröffentlichung, “Unter der Hand”, steht die Autorin auf der Longlist des Deutschen Buchpreis.
In ihrem Roman “Unter der Hand” erzählt Dagmar Leupold von einem Vexierspiel aus Wirklichkeit und Phantasie, die für den Leser schier undurchdringbar miteinander verwoben werden. Die Ebenen, auf der die Geschichte erzählt wird, sind nicht immer klar und offensichtlich – vieles erschließt sich erst nach mehrmaligen Lesen und so viel sei an dieser Stelle schon einmal vorweggenommen: “Unter der Hand” ist ein Roman, der die Wiederholung verlangt, der ein aufmerksames und konzentriertes Lesen fordert.
“Ich fühle mich zerknittert, ausgesetzt, missraten, ältlich, zweifelhaft, verblüht und rostig. Und damit zurückgekehrt in den Lieferzustand.”
Der Leser hält das Manuskript einer Frau namens Minna in den Händen. Minna erzählt darin ihre Lebensgeschichte, die den Titel “Schwarzarbeit” trägt – ob es sich um eine wahre Geschichte oder um ein Märchen handelt, bleibt dabei unklar. Mit dem Begriff “Schwarzarbeit” wird eine seltsam anmutende Übereinkunft bezeichnet: ein italienischer Gönner ermöglicht es Minna, zu schreiben. Seine einzige Bedingung ist, dass Minna den Menschen durch ihr Schreiben Glück schenken soll. Ihr Mäzen macht sie zur Glücksmissionarin. Doch was steckt hinter dieser kuriosen Übereinkunft?
Minna ist als Frühchen zur Welt gekommen, 1955, in einem kleinen Ort am Rhein. Bleibende Schäden hat sie nicht zurückbehalten, bis auf einen verkürzten Finger an der linken Hand und dennoch erscheint ihre Seele beschädigt von der Tatsache, zu früh auf die Welt gekommen zu sein. Das Kind, das zu früh auf die Welt gekommen ist, ist ein Thema, das den Roman durchzieht, wie einen roten Faden.
“Wenn man das ganze Leben als Notfall betrachtet, ist es naturgemäß schwierig, sich zu rüsten, und letztlich gleichgültig, ob man mit einem Überseekoffer unterwegs ist oder mit einem Beutelchen voller Brutkrumen zum Ausstreuen. Es fehlt das Vertrauen in Rückwege.”
Doch mehr noch als die Schwarzarbeit für den italienischen Mäzen, steht die zufällige Bekanntschaft von Minna und einer alten, aus Ostpreußen stammenden Frau, im Mittelpunkt des Romans. Auch hier verweben sich wieder Wirklichkeit und Erfindung: Minna gibt sich Lotte gegenüber als Pferdewirtin aus und eignet sich damit ein Leben an, das ihr nicht gehört und das sie gar nicht lebt. Die Gründe für diese Lebenserfindung bleiben unausgesprochen.
“Schauspiel kann ich bieten, aber Glückspiel? Ich habe ein Talent zur Maskenbildnerin – ich sehe die Kehrseiten und drehe sie um. Ich nehme dem Schmerz sein m und gebe ihm ein lachendes Gesicht.”
Die Fäden, die Dagmar Leupold aufgreift und in ihrem Roman weiterspinnt, erscheinen lose und faserig – die Bruchstücke, die für den Leser erkennbar sind, sind getragen von einem seltsamen Zusammenspiel aus sprachlichem Witz und einer schwer auszuhaltenden Schwere. Genauso bruchstückhaft wie die Erzählung ist auch das Leben Minnas: sie führt ein unstetes Leben, für ihren Lebensunterhalt sorgt ihr Mäzen, ab und an gibt sie Nachhilfe, passt auf die Wohnungen verreister Familien auf oder macht Korrekturarbeiten. Sie hat einen Lebenspartner, doch ihre Beziehung zu Franz scheint weniger Beziehung und mehr ein vertraglich geregeltes Beisammensein zu sein. Körperliche Nähe ist in diesem Vertrag eine Mangelware. Ein verlorenes Kind wird erwähnt, doch die genauen Umstände des Verlust bleiben im Dunkeln.
“Ich habe von diesem Kind, diesem Sohn, ein sehr genaues Bild. Und ein ungenaues; eine Ultraschallaufnahme aus dem dritten Schwangerschaftsmonat. Mein Sohn zog der Wirklichkeit die Möglichkeit vor. Er blieb ein geträumtes Kind.”
Trotz dessen und trotz alledem finden Minna und das Glück irgendwann zusammen. Der Augenblick des Glücks ist der Moment, in dem sie Heinrich kennen lernt …
Dagmar Leupold gelingt es meisterhaft, mit der Sprache umzugehen, mit und an ihr zu arbeiten und mit ihr zu spielen. Es gibt eine Vielzahl an hervorragenden Wortspielen, Wortwendungen, Gedankenspielen und sprachlichen Bildern. Es gibt eine Vielzahl an Stellen, die von so viel feinem Humor und feiner Ironie durchzogen sind, dass man beim Lesen schmunzeln muss.
“Übrigens ist mein linker kleiner Finger zurückgeblieben. […] Er könnte einer Fünfjährigen gehören, alle Versuche, Klavier zu spielen, scheiterten an ihm. Zu kurz für eine Oktave. Das finde ich bemerkenswert, weil im Regelfall die Gründe für ein Scheitern entweder im Dunkeln liegen oder so vielfältig sind, dass sie unverstanden bleiben. Ich habe den Schuldigen immer zur Hand.”
Es gibt daneben aber auch eine Vielzahl an Stellen, die in einem undurchdringlichen Dunkel liegen, das geprägt ist von Irrungen und Wirrungen, die für den Leser kaum zu entwirren sind. Das größte Manko dieses leichthin erzählten Romans ist sicherlich der fehlende Zusammenhang, denn zumindest für mich war die Verbindung zwischen den einzelnen Bruchstücken nur schwer zu erkennen. Minna wird zu Beginn des Romans scheinbar tot von einem Nachbarn in ihrem Bett gefunden – hinterlassen hat sie das Manuskript, das den Titel “Schwarzarbeit” trägt. Bereits hier beginnt Dagmar Leupold mit einem Spiel der Ebenen: erzählt das Manuskript die Wirklichkeit oder eine Erfindung? Was ist hier Realität und was ist Phantasie? Was stimmt von der Lebensgeschichte Minnas, der notorischen Geschichtenerzählerin, wirklich? Was steckt hinter der Übereinkunft zwischen Minna und dem italienischen Mäzen? Die Rolle der Glücksmissionarin ist eine Rolle, die im Laufe des Romans praktisch verloren geht und irgendwann nur noch einer Randnotiz gleich kommt. Die vielen sprachlich wunderbar gestalteten Bruchstücke, aus denen der Roman besteht, sind leider zu wenig, um aus Fragmenten eine zusammenhängende Geschichte mit einer Handlung zu machen – daran krankt der Roman am stärksten.
Dagmar Leupold hat mit “Unter der Hand” einen Roman vorgelegt, dem es leider nur stellenweise gelingt, seine Stärken zu entfalten. Entdeckt habe ich eine Autorin, die eine wunderbare Sprachkünstlerin ist – deren Geschichte es jedoch an Stringenz und Zusammenhang fehlt. Schade! – Für mich ist “Unter der Hand” leider kein Kandidat für die Shortlist.
16 Comments
madameflamusse
September 4, 2013 at 3:49 pmAlso Du solltest unbedingt beruflich Rezensionen schreiben und Geld dafür bekommen. Auch für deine unglaubliche Lesegeschwindigkeit. Was Du da so alles verputzt an Büchern. Hammer!
buzzaldrinsblog
September 6, 2013 at 2:04 pmDanke für dieses megatolle Kompliment, ich freue mich! 😀 Hauptberuflich Rezensionen schreiben und dafür Geld bekommen, wäre ein Traum – wer weiß, vielleicht kommt irgendwann ein italienischer Mäzen und macht mich zur Rezensionsmissionarin. 😉
mickzwo
September 4, 2013 at 6:20 pmmadameflamusse hat Recht. Was Du so alles liest und beschreibst ist wirklich der Hammer. Vor einiger Zeit bin ich durch dein Blog auf den Roman “Die Fälschung der Welt” aufmerksam geworden. Schon allein der Titel sprach mich an. Als ich dann Deine Beprechung las, da konnte ich gar nicht anders, als mir den Roman zu besorgen.
Das Buch von Gaddis habe ich erhalten und lese darin. Es ist in der Tat ein ‘Klotz’, ein viel Versprechender. Ich werde wohl in den Bildern schwimmen und auch nach Gedanken tauchen. Das dauert. So eine Geschichte muss ich in Etappen lesen. Es gibt Tage, da komme ich nur Seitenweise vorran. Ganz schön mächtig, was da an Eindrücken vor mir liegt. So lange das ‘schön’ überwiegt werden ich wohl weiter lesen. Aber gemächlich…
Liebe Grüsse, mick
buzzaldrinsblog
September 6, 2013 at 2:11 pmHi Mick,
danke für deinen Kommentar und deine lieben Worte – ich freue mich sehr! 😀
Deine Eindrücke zu dem Mammutwerk von William Gaddis kann ich nur unterschreiben, auch bei mir war es ein langsames Vorankommen, es gab viele Tage, an denen ich das Buch gar nicht aufschlagen konnte und doch habe ich immer wieder etwas “Schönes” darin gefunden, das mir geholfen hat, durchzuhalten. Ich wünsche dir viel Erfolg für das Lesen dieses Romans und würde mich über weitere Eindrücke zu deinen Lektüreerfahrungen freuen. 🙂
Liebe Grüße
Mara
caterina
September 4, 2013 at 8:48 pmLiebe Mara,
schade, dass dich der Roman nicht überzeugen konnte. Ich habe just heute die Leseprobe gelesen: Nachdem ich den Infotext (im Longlist-Büchlein) schrecklich fand und auf das Schlimmste gefasst war, hat mich die Leseprobe dann doch positiv überrascht. Mir gefiel dieser augenzwinkernde Ton, diese Leichtfüßigkeit und Ironie, mit denen Minna von ihrem Leben erzählt. Und in der Tat ist ja gerade die Sprache das, was dich beeindruckt hat. Umso bedauerlicher ist es, wenn dann – wieder einmal – die Handlung nicht mithalten kann und am Ende nur ein sehr diffuser Leseeindruck zurückbleibt.
Wegen der gelungenen Sprache und des reizvollen Spiels mit den Realitätsebenen überlege ich, vielleicht doch mal zumindest hineinschauen, aber ich ahne, dass ich andere Titel von der Longlist deutlich dringender lesen möchte.
buzzaldrinsblog
September 6, 2013 at 1:54 pmLiebe Caterina,
die Sprache des Romans ist in der Tat beeindruckend, gerade diese Leichtfüßigkeit und die feine Ironie, die du ja auch ansprichst, haben mich angesprochen und eingenommen. Doch ein sprachlich hervorragendes Buch ist für mich eben noch kein gutes Buch, in diesem Fall fehlten mir eine Handlung, ein Zusammenhang und eine ganze Menge Erklärungen. Gespannt wäre ich auf weitere Meinungen zum Buch, denn wer weiß, vielleicht liegen die Schwierigkeiten nicht unbedingt auf der Seite des Textes sondern viel mehr bei mir.
Liebe Grüße
Mara
caterina
September 6, 2013 at 2:06 pmLiebe Mara,
die Frage, ob die Sprache auch genügen kann und ob eine brillante Sprache über einen weniger brillanten Inhalt “hinwegtäuschen” kann, kam ja schon mehrmals auf – zuletzt, wenn ich mich recht erinnere, bei der Rezension zu Lisa Ranks Bist du noch wach? auf aboutsomething.
Meine Antwort lautet: Ja, manchmal genügt eine sprachliche Brillanz. Natürlich darf die Geschichte, die erzählt wird, nicht totaler Humbug oder völlig unverständlich sein, aber es kommt eben doch hin und wieder vor, dass mich die Sprache eines Romans so glücklich macht, dass ich auch über inhaltliche Schwächen hinwegsehen kann. Clemens J. Setz’ Die Frequenzen ist mein viel zitiertes Beispiel dafür. Aber ich merke, dass ich die Einzige bin, die bisher eine solche Leseerfahrung gemacht hat.
Vielleicht lese ich Leupolds Roman wirklich, auch wenn kein Clemens Setz zu erwarten sein wird.
Herzlich,
caterina
dasgrauesofa
September 5, 2013 at 8:17 amLiebe Mara,
Du hast es ja mal wieder mit Deiner Rezension geschafft, mich sehr neugierig zu machen, Sprache, Thema, das Spiel mit dem Verhältnis von Erzählung und Wirklichkeit (und gibt es wirklich eine objektive Wirklichkeit?, Die Konstruktivisten sagen ja, jede “Wirklichkeit” sei nur subjektiv.), das scheint mir alles sehr reizvoll zu sein. Und was eine “Glücksmissionarin” auszeichnet, das würde mich auch interessieren. Aber dann schreibst Du, dass die Handlung zu verworren ist, die Ebenen so ineinander ragen, dass man als Leser den Überblick verliert. Das ist schade. Umsomehr würde mich eine Erklärung der Jury interessieren, warum sie diesen Titel auf die Longlist genommen habe.
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
September 6, 2013 at 1:49 pmLiebe Claudia,
eigentlich schade, dass es von der Jury keine Erklärung zu den einzelnen Nominierungen gibt – das würde mich teilweise schon sehr interessieren (auch bei meiner aktuellen Lektüre des Krimis von Olaf Kühl, der nicht schlecht ist, für mich aber auch nicht gerade einen literarischen Hochgenuss darstellt). Dagmar Leupolds Roman zeichnet sich auf jeden Fall durch viel Sprachwitz aus, ich möchte nicht, dass dies bei all der von mir geäußerten Kritik untergeht. Doch neben dem Sprachwitz und der literarischen Stärke des Romans gibt es einfach auch zu viel, dass für mich im Dunkeln geblieben ist. Eine Formulierung, die ich auch mehrmals in meiner Besprechung verwendet habe. Beim Zuklappen des Buches gab es dann nicht viel bei mir an Erkenntnisgewinn, stattdessen überwogen Fragen und Unklarheiten.
Liebe Grüße
Mara
atalantes
September 6, 2013 at 6:33 amHallo Mara, das von Dir beschriebene Changieren des Textes zwischen Witz und Schwere machen mich sehr neugierig auf das Buch. Außerdem finde ich eine Glücksmissionarin gleichzeitig skurril und ironisch. Um herauszufinden, was bei Leupold überwiegt, würde ich den Roman gerne lesen.
buzzaldrinsblog
September 6, 2013 at 1:18 pmLiebe Atalante,
ich würde mich freuen, wenn du den Roman liest, da ich gespannt auf andere Meinungen zum Text wäre. Mir hat vor allem der Sprachwitz gefallen, auch die einzelnen Ansätze sind überzeugend und doch fehlte mir der Zusammenhang. Wer weiß? Vielleicht entdeckst du ihn ja? Ich schicke dir das Buch gerne nächste Woche zu. 😀
Liebe Grüße
Mara
Atalante
July 15, 2014 at 1:00 pmNachdem ich den Roman nun endlich und ausgesprochen gerne gelesen habe, stimme ich vielen Deiner Aussagen zu.
Mich hat Leupolds poetische Sprache und ihre ironische Sicht beeindruckt. Auch die Form als Buch im Buch, die Autorin scheint mit ihrer Protagonistin nicht nur Geburts- und Wohnort zu teilen, finde ich gelungen.
Aber warum ausgerechnet ein mafioser Mäzen auftauchen musste, bleibt mir rätselhaft. Die Geschichte hätte auch ohne Vico funktioniert.
Atalante
July 15, 2014 at 1:01 pmVielen Dank für die Leihgabe!
Mara
July 15, 2014 at 2:37 pmAch wie schön, liebe Atalante, dass du das Buch mittlerweile auch gelesen hast und wir in vielem überein stimmen. Mich hat der Text sprachlich überaus begeistern können, aber mit dem mafiosen Mäzen konnte ich mich nicht wirklich anfreunden – ich glaube sogar, dass das Buch ohne Vico vielleicht sogar noch besser funktioniert hätte.
5 lesen 20 Romane der Longlist – Deutscher Buchpreis 2013 » Atalantes Historien
September 8, 2013 at 1:38 pm[…] • Dagmar Leupold: Unter der Hand (Jung und Jung, Juli 2013) (Rezension bei Buzzaldrins) […]
madameflamusse
September 9, 2013 at 8:11 pmLiebe Mara, Bitte, GERNE. Du könntest Dich doch einfach mal bewerben!