Der Clown ohne Ort – Thomas Martini

Thomas Martini wurde 1980 geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre als Teil der deutschsprachigen Minderheit in Transsilvanien. Mit zehn Jahren zog er mit seinen Eltern nach Deutschland, wo er Abitur machte und nach einem Studium bei unterschiedlichen Theaterproduktionen mitwirkte. Seit dem Jahr 2010 ist der Autor Initiator des Springsalon. Mit “Der Clown ohne Ort” legte Thomas Martini im diesjährigen Frühjahr seinen Debütroman vor.

“Novemberende dieser Geschmack, kalt, ölig, trüb auf der Zunge, Motoren, und du reckst die Nase in den Wind, strahlend wie an einem Frühlingsmorgen, wenn die Sonne frisch, süß, luftig schmeckt im irisierenden Dunst, und die Füße werden taub, und du legst dich fröhlich in die Blüte, in Wärme und Wiesen legst du dich […].”

Dies ist ein Teil des ersten Satzes aus Thomas Martinis sprachgewaltigen Debütroman und bereits an diesem Ausschnitt wird deutlich, wie sprachverliebt der Autor ist. Thomas Martini ist verliebt in die Sprache, mit der er in allen Details und Facetten jedes Gefühl, jeden Geruch und jedes Geräusch beschreiben kann. Es ist nicht ganz leicht, einen Blick hinter die sprachliche Wucht zu werfen, sie abzukratzen, um sich die Geschichte, die der Roman erzählt, anzuschauen. Im Mittelpunkt des Romangeschehens steht Naïn. Naïn führt eigentlich das perfekte Leben: er hat Politik studiert, ein Semester im Ausland verbracht, im Bundestag assistiert und besitzt nun glänzende Karriereaussichten.

“Als der Berliner Ausbruch zunächst mit einer labilen Konstitution und einer möglichen Arbeits- und Verantwortungsüberlastung erklärt wurde, folgte den Fragen Resignation: Sie fehlte, die Diagnose.”

Doch statt seinen Weg weiterzugehen, zerbricht Naïn an den Erwartungen seines Umfelds: er ist der ganz Stolz seiner Eltern, aber irgendwann sieht er sich nicht mehr in der Lage dazu, diese Rolle auszufüllen. Schon allein die Vorstellung, das Haus verlassen zu müssen, ängstigt ihn plötzlich so sehr, dass er sich nur noch mit der grünen Strickmütze seiner Großmutter vor die Tür wagt. Statt politisch Karriere zu machen, betäubt er seine Versagensängste mit Alkohol und Drogen. Es erscheint beinahe so, als wäre ihm das Glück unterwegs abhanden gekommen: auch ein Versuch am Theater und die Gründung einer politischen Organisation scheitern kläglich.

“Allein zu sein ist nur anfangs erschreckend. Die Menschen flüchten sich gerne in die Sicherheit der Zweisamkeit. Die wenigsten haben die Kraft, sich alleine zu erleiden. Selbst gewählte Einsamkeit ist schön, unfreiwillige schwer zu ertragen, denkt er.”

Im Rückblick ist eine Diagnose dessen, was schief gelaufen ist, schwierig. Noch schwieriger ist es, den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem es plötzlich nur noch unrund lief. Naïn hat sich ganz auf sein Studium und die Arbeit konzentriert – Freizeit und und Freunde waren in seinem Lebensentwurf Mangelware. Frauen, die er mal geliebt hat, hat er zurückgelassen.

“Da waren Amaia und Lisa gewesen, große Lieben, die sich im Ungefähren verloren, der erste, Barceloneser Bruch, keine Frauen mehr.”

Nun stürzt sich Naïn in ein Leben, das er vorher scheinbar verpasst hat. Nimmt bewusstseinserweiternde Drogen, trifft Frauen und schläft sich durch die Gegend, trinkt bis er kotzen muss (in diesem Roman wird sehr viel gekotzt!) und fängt wieder von vorne an. Nichts bleibt, weder der Zustand, in den er gerät, wenn er sich betäubt, noch die Frauen, auf die er sich einlässt. Die Fallhöhe nimmt dramatisch zu und die Abstürze werden immer tiefer. Doch als plötzlich ein Schaf vor seinem Bett steht, scheint die Lösung seiner Probleme nahe, zumindest eine Lösung für die Mützenproblematik …

“Einen einsamen halben Liter Wodka und eine Zigarettenpackung später ist er schön verspult. Wahrscheinlichkeit war anders, träumen war, Totalitarismus, Gerechtigkeit, die Ahnung einer Zukunft, die hinter Versprechen verborgen wurde.”

Aufgebaut ist der Roman einem Triptychon gleich: drei große Erzählungen – “Das Land der Jugend” / “und” / “Das Man” – werden aneinandergereiht; nebeneinander gestellt. Am meisten berührt hat mich der mittlerer Teil des Romans, der den schlichten Titel “und”  (mit dem Nachsatz: “du sollst das nicht lesen, bitte”) trägt und im Gegensatz zu den anderen Romanteilen, die stellenweise im dichten Opiumnebel versinken, wunderbar und sprachlich außerordentlich berührend von der Liebe und dem Verlust derselbigen erzählt. Die Seiten in diesem Abschnitt sind häufig nicht ganz ausgefüllt, stattdessen finden sich dort kleine Miniaturkunstwerke – Miniaturkunstwerke, die mich in den Bann gezogen haben, die sich in meinem Herzen eingenistet und mich unfassbar stark bewegt haben. Diesen Teil des Romans habe ich mehrmals gelesen, immer wieder, in der Hoffnung doch noch einmal Neues entdecken zu können. Einmal an dieser Stelle aufgeschlagen, ließ sich das Buch nicht wieder zuschlagen.

“Weißt du noch, wie wir nachts mit dem Fahrrad durch Berlin gefahren sind? Aus Mitte durch Kreuzberg die Spree entlang und dann ganz weit die Kiefholzstraße runter bis Treptow? Wie wir jedes Mal radelnd sangen und lachten? Es war Sommer, und wir arbeiteten am Theater. Nur Himmel über uns, Glitzerstaub alles.”

Meine Leseerlebnisse bei diesem Roman decken sich mit vielen Leseerlebnissen, die ich in den letzten Wochen hatte: einer wunderschönen Sprache steht eine bruchstückhafte und von Lücken (manchmal nur ein kleiner Spalt, an anderen Stellen aber auch eine ganze Schlucht) geprägte Erzählung gegenüber. Wie soll man solche Bücher bloß beurteilen? Nicht zum ersten Mal bereitet mir eine Rezension Bauchweh, denn was sollte bei einer Rezension im Vordergrund stehen? Die Sprache oder der Inhalt? Ich weiß es mal wieder nicht. – Von der Handlung sind mir nur einzelne Fragmente klar geworden, vieles andere verbleibt im Nebel – als ungeklärtes Rätsel. Das Buch habe ich mit dem Gefühl zugeklappt, ein sprachlich wunderschönes, fulminantes und großartiges Lektüreerlebnis gehabt zu haben – von dem ich nur leider nicht alles verstehen konnte. “Der Clown ohne Ort” scheint zu einer neuen Gattung der experimentellen Literatur zu gehören, die ich zweifellos schätze, bei der ich mir aber ab und an etwas mehr Klarheit für den Leser wünschen würde.

Eien großartige und lesenswerte Besprechung gibt es auch bei meiner geschätzten Kollegin Caterina von SchöneSeiten.

4 Comments

  • Reply
    caterina
    September 15, 2013 at 2:21 pm

    Liebe Mara,
    unser Eindruck ist, das weißt du ja, in etwa deckungsgleich: Auch ich war bei vielen Passagen ziemlich ratlos, andere wiederum haben mich unendlich begeistert. Ein irres Stück Literatur – Martini ist ein Name, den man sich merken muss.

    Merci auch für die Verlinkung.
    Herzlich,
    caterina

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 16, 2013 at 10:57 am

      Liebe Caterina,

      ich war, nach dem ich meine Besprechung geschrieben habe, erleichtert, mich so in deinen Worten wiedergefunden zu haben. Vieles hat mich begeistert, vieles hat mich aber auch ratlos gemacht und irgendwie habe ich das Gefühl, als sei das schon fast ein Trend der momentanen Literatur, denn wir sind in letzter Zeit ja schon häufiger zu einem ähnlichen Fazit gekommen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    dasgrauesofa
    September 15, 2013 at 3:43 pm

    Liebe Mara,
    wieder jemand, der sein Leben verändern will oder muss (da fällt mir spontan die Protagonisten aus Kuckarts “Wünsche” ein) , wieder die interessante Frage danach, was das “richtige” Leben ist. Aber, zum Glück für meinen Bücherstapel, nicht unbedingt DIE Empfehlung, da Du – wieder einmal – darauf hinweist, dass nicht alles so unbedingt rund ist in Martinis Roman.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      September 16, 2013 at 10:56 am

      Liebe Claudia,

      ich stimme deiner Zusammenfassung zu, auch wenn ich den Roman von Thomas Martini nicht zu kritisch darstellen wollen. Wenn man bereit ist, sich auf die experimentelle Sprache einzulassen, dann hält der Roman sehr viel bereit – ich glaube, dass wir von Martini auch noch vieles literarisch erwarten können. Wie Debüts es aber auch ab und an an sich haben, passt einfach noch nicht alles zusammen. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

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