Peter Schneider wurde 1940 in Freiburg geboren. Nach einem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie wurde er zunächst zum politischen Redenschreiber und einem der Wortführer in der 68er-Bewegung. Später schrieb er Erzählungen, Romane, Drehbücher, Reportagen und Essays. Bekannt wurde der Autor, der heutzutage in Berlin lebt, vor allem durch seinen Roman “Lenz”. “Die Lieben meiner Mutter” erschien im diesjährigen Bücherfrühjahr und wurde im Rahmen des Deutschen Buchpreis bedauerlicherweise sträflich übersehen.
“Auf den Fotos, den schwarz-weißen mit dem gezackten Rand, ist meine Mutter fast nicht zu erkennen. Jedenfalls nicht die Mutter, die ich in Erinnerung habe – eine sanfte und beschützende, manchmal tieftraurige, dann wieder unbeherrschte Urgewalt.”
Jahrelang hat Peter Schneider einen Schuhkarton gehütet, gefüllt mit Briefen seiner Mutter. Einen Karton voller Erinnerungen und Zeugnissen der damaligen Zeit, geschrieben in einer schwer lesbaren Sütterlinschrift. Für Peter Schneider waren sie unlesbar, nie hat er ihnen seine Zeit oder seine Aufmerksamkeit gewidmet. Warum? Das wird nicht ganz klar. Vielleicht wollte sich der Autor schützen, vor dem fremden Leben seiner Mutter, was er in diesem Karton zu finden glaubte. Erst nach der Trennung seiner Frau findet Peter Schneider die Kraft und Motivation dazu, sich mit der Vergangenheit seiner Mutter zu beschäftigen, möglicherweise in dem Versuch, auf diesem Weg auch zu sich selbst zu finden. Er entscheidet sich, die Briefe seiner Mutter transkribieren zu lassen, die hinterlassenen Schriftstücke offenbaren dem Sohn eine unglaubliche Geschichte eines ganz ungewöhnlichen Lebens.
“‘Don’t look back!’ Erfinde dich selbst, entferne dich von allen Bindungen, die du nicht selbst gewählt hast, besonders aber von dem Teil der Vergangenheit, den du nicht bestimmen konntest – von deiner Kindheit.”
In den Briefen wird das Leben einer jungen Frau und Mutter während des Krieges, aber auch in den ersten Jahren der Nachkriegszeit, geschildert. Die Mutter von Peter Schneider ist eine tiefsinnige Frau, romantisch veranlagt und liebesbedürftig – all dies kann ihr ihr Mann und der Vater ihrer vier Kinder nicht geben. Seine Arbeit und der Krieg treiben ihn aus dem Haus, er ist häufiger abwesend, als bei seiner Frau und seinen Kindern. Geborgenheit und Anerkennung findet die Mutter bei einem seiner Kollegen. Im autobiographischen Roman von Peter Schneider erhält der Opernregisseur den Namen “Andreas”, doch ich gehe davon aus, dass dies nicht sein richtiger Name gewesen ist. Es ist Andreas, der die Rolle des Ritters und Retters einnimmt, mehr unfreiwillig, als gewollt, nimmt er in den Augen der Mutter die Gestalt eines Heilsbringers an und sie überschüttet ihn mit ihrer Zärtlichkeit, aber auch mit ihren Erwartungen und ihren Ansprüchen. Ihre von tiefen Gefühlen geprägten Briefe, die beinahe schon schmerzhaft zu lesen sind, stoßen bei Andreas auf eine Gegenwehr. Er fühlt sich geschmeichelt, aber auch überfordert von dem, was von ihm erwartet wird. Der Opernregisseur ist ein Frauenheld, aber kein feingeistiger Romantiker.
Das, was die Mutter damals gelebt hat, würde man heutzutage wohl als eine Dreiecksbeziehung bezeichnen – eine Dreiecksbeziehung, die von Peter Schneiders Vater scheinbar bewusst toleriert wurde. Diese Toleranz empfindet Peter Schneider als offenes Rätsel, auf das er keine Antwort finden kann. Fühlt der Vater sich schuldig, da er nicht da ist und seiner Frau nicht das bieten kann, was sie so dringend braucht? Ist die Toleranz dieser Affäre gegenüber ein Schuldeingeständnis dafür, dass er seine Frau in schwierigen Zeiten mit den gemeinsamen vier Kindern alleine lässt?
“Das Gefühl der Liebe ist nicht abhängig von deiner Antwort an mich – sehr abhängig ist aber das Glücksgefühl davon.”
Peter Schneider hat von alldem nichts mitbekommen, er war damals noch ein kleines Kind – von dieser seltsamen Dreiecksbeziehung, in der seine Eltern gelebt haben, erfährt er erst durch die Briefe. Die Suche, die er in der Hoffnung begonnen hatte, Antworten zu finden, wirft stattdessen noch mehr und ganz neue Fragen auf. Fragen, mit deren Beantwortung er alleine gelassen wird, denn seine Eltern leben nicht mehr. Die eigenen Erinnerungen des Autors an seine Kindheit sind von einer ganz anderen Person geprägt, von dem Nachbarjungen Willi, dem es gelingt, so viel Einfluss auf Peter Schneider und dessen Schwester auszuüben, dass er einen Keil zwischen die Mutter und ihre Kinder treibt. Kurz vor ihrem Tod, sind Sohn und Mutter voneinander entfremdet – die Erinnerungen, die Peter Schneider an diese Zeit hat, sind geprägt von der Verzweiflung seiner Mutter darüber, die Kontrolle über ihre Kinder zu verlieren. Es ist beinahe schon eine psychische Abhängigkeit, in die sich Peter Schneider, diesem vermeintlichen Freund gegenüber, begibt. Eine Abhängigkeit, bei der der Erzengel Michael eine zentrale Rolle spielt …
“Die Ahnung, ich würde aus diesen Briefen etwas über mich und ein Verhängnis erfahren, das mein Leben stärker bestimmt hatte, als ich hatte wahrhaben wollen. Der Wunsch, Frieden mit der Mutter zu machen. Oder war es nicht eher die Mutter, die Frieden mit mir machen sollte? Ich hatte sie zum letzten Mal gesehen, als ich acht Jahre alt war.”
Anhand der Briefe seiner Mutter und den eigenen Erinnerungen an die damalige Zeit, rekonstruiert Peter Schneider das Bild seiner Kindheit, das erst jetzt – mit über siebzig Jahren – vollständig für ihn geworden ist. “Die Lieben meiner Mutter” ist allem voran ein ganz persönliches Zeugnis eines Mannes, der bereits als Kind eine Mutter verloren hat, die an der Last ihres Lebens zerbrochen ist. Es ist das Zeugnis einer Recherche zurück in die Vergangenheit und ein Hinweis darauf, dass es, auch wenn wir glauben Menschen zu kennen, immer Bereiche gibt, die im Dunkeln bleiben. Daneben ist das Buch aber auch ein Denkmal für die eigene Mutter, die sich und ihre Karriere als Schriftstellerin für ihren Mann und die vier Kinder aufgegeben hat. Was hätte aus der Frau werden können, wenn sie sich nicht dafür entschieden hätte, sich in das Korsett der Hausfrau und Mutter pressen zu lassen? Doch hatte sie zu der damaligen Zeit überhaupt eine Wahl? All dies sind Fragen, die bei der Lektüre von “Die Lieben meiner Mutter” mitschwingen und die mich auch lange nach dem Zuklappen des Buchdeckels noch beschäftigt haben.
Peter Schneider porträtiert in “Die Lieben meiner Mutter” nicht nur das ungewöhnliche Leben seiner Mutter, sondern auch eine höchst leidenschaftliche und mutige Frau. Es ist ein Buch der Mutter, die als faszinierende Persönlichkeit geschildert wird, aber auch ein Buch des Sohnes, der sich für dieses Stück Literatur auf eine unfassbar emotionale Recherche begeben hat. “Die Lieben meiner Mutter” ist ein berührendes und lesenswertes Buch über die Leidenschaft, die Liebe und so vieles mehr. Eine unbedingte Leseempfehlung!

9 Comments
Tom
October 2, 2013 at 10:07 amLiebe Mara,
danke für diese schöne Rezension.
Mein Buchhändler hatte mir das Buch empfohlen und ich war sehr davon angetan. Dass es beim Buchpreis nicht berücksichtigt wurde, fand ich ebenso schade, aber es hatte vielleicht auch mit der Tatsache zu tun, dass es zu wenig fiktional ist (wobei man das bei Urs Widmer ja auch sagen könnte??). Besonders hat mir gefallen, wie klug und mit welcher emotionalen Reife Peter Schneider an das Thema herangeht. Und neben der persönlichen Geschichte wird auch noch sehr gut die Situation einer Künstler- und Intellektuellenfamilie nach Krieg und Flucht in den späten Vierzigerjahren dargestellt.
LG
Tom
buzzaldrinsblog
October 4, 2013 at 9:27 amLieber Tom,
vielleicht war es zu fiktional für den Buchpreis, doch dann hätte man – wie du selbst ganz richtig anmerkst – auch Urs Widmer nicht berücksichtigen dürfen. Ich fand es sehr schade für den Roman, der für mein Gefühl im Trubel der Herbstneuerscheinungen sowieso etwas untergegangen ist. Ich freue mich, dass dir der Roman auch so gut gefallen hat – “Die Lieben meiner Mutter” ist in der Tat ein sehr vielschichtiger Roman: es wird nicht nur Kriegs- und Nachkriegszeit geschildert, sondern auch die Lebenssituation einer Künstlerfamilie, genauso wie das Schicksal einer jungen Frau, die ihr Leben und jegliche Ambitionen aufgibt, um Hausfrau und Mutter zu werden.
Liebe Grüße
Mara
Conor
October 2, 2013 at 11:02 amLiebe Mara!
Vielen Dank für die schöne Rezension. Dieses Mal wandert das Buch nicht auf die Wunschliste, denn es steht seit gestern in meinem Regal und nun freue ich mich umso mehr darauf.:)
Liebe Grüße
buzzaldrinsblog
October 4, 2013 at 9:24 amAch, was für ein Zufall, dass das Buch – passend zu meiner Besprechung – bereits bei dir im Regal steht. Bei der Lektüre wünsche ich dir viel Vergnügen und bin bereits gespannt, wie dir die autobiographischen Erinnerungen von Peter Schneider gefallen werden. 🙂 Bei mir ist sein anderer Roman “Lenz” gleich auf die Wunschliste gewandert, denn ich würde gerne noch mehr von ihm lesen.
Liebe Grüße
Mara
Xeniana
October 2, 2013 at 12:33 pmEine schöne Rezension und diesmal brauche ich es mir auch nicht kaufen, weil ich es schon gelesen habe. Es ist ein besonderes Buch, finde ich. Besonders hat mich die Intensität der Mutter angesprochen, ein gelebtes Leben voller Spannung und Emotionen
LG Xeniana
buzzaldrinsblog
October 4, 2013 at 9:20 amLiebe Xeniana,
ach schön, dass dir der Roman ebenso gut gefallen hat. Die Intensität der Mutter hat mich auch sehr berührt, auch wenn sie mich gleichermaßen stellenweise auch befremdet und irritiert hat. Für ein Gegenüber sind diese Gefühlsintensitäten doch nur ganz schwer aushaltbar, selbst für mich als Leserin, waren manche Passagen schwierig zu lesen.
Liebe Grüße
Mara
Karo
October 3, 2013 at 6:27 pmUnd wer hat mich letztens am Telefon gefragt, ob ich das Buch schon gelesen habe? Natürlich meine Mutter 🙂 Jetzt weiß ich dank dir, Mara, auch endlich worum es geht. Und bin angefixt…vielleicht schenk ich es meiner Mutter ja zu Weihnachten und leih es mir dann aus 😉
buzzaldrinsblog
October 4, 2013 at 9:17 amLiebe Karo,
die besten Buchgeschenke sind doch die, die man anschließend gerne selbst noch lesen möchte, oder? 😉 Ich kann dir den Roman nur empfehlen, sowohl zum Verschenken, als auch zum Selberlesen.
Liebe Grüße
Mara
skyaboveoldblueplace
October 4, 2013 at 11:01 amLiebe Mara,
vielen Dank für diese schöne Rezension. Von Peter Schneider habe ich vor Jahren den Mauerspringer gelesen, ein wirklich tolles Buch. Und nun dieses hier. Das habe ich auf der Liste,seit ich irgendwann Anfang des Jahres ein Gespräch mit Peter Schneider über dieses Buch im Fernsehen sah. Ich kann mich nicht mehr an die Sendung erinnern, entweder war es Aspekte oder Druckfrisch. Egal, der Autor hat mich jedenfalls in diesem Gespräch über das Buch und über seine Mutter sehr beeindruckt. Hier http://www.ndr.de/kultur/literatur/liebenmeinermutter113.html im NDR Kulturjournal findet sich ebenfalls ein sehr schönes Filmchen, in dem man sogar die Originalbriefe zu sehen bekommt. Was ich so besonders spannend daran finde ist die Doppel-Perspektive des Autors, der seine Mutter, jedenfalls habe ich das nach den Interviews von Schneideer und nach Deiner Besprechung so verstanden, eben nicht nur als Mutter, sondern im Nachhinein auch als eine besondere Frau schildert.
Bin mal gespannt, wann ich dazu komme (da liegen noch so viele Bücher auf dem Stapel und warten) – aber lesen werde ich das ganz bestimmt. Da hat Deine Besprechung mich sehr bestärkt.
Liebe Grüsse, Kai