Helene Hegemann, die 1992 in Freiburg geboren wurde und heutzutage in Berlin lebt, galt als literarisches Wunderkind. Bereits 2008 erschien ihr erster Film “Torpedo”, der mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde. Zwei Jahre später debütierte sie mit ihrem Roman “Axolotl Roadkill”, für den sie zunächst gefeiert wurde, der jedoch später zu einem Skandal in Literaturkreisen mutierte, als herauskam, dass Helene Hegemann einige Passagen ihres Roman abgeschrieben hatte. “Axolotl Roadkill” wurde in 20 Sprachen übersetzt und feierte in der ausländischen Literaturwelt große Erfolge, während die junge Autorin hierzulande förmlich in der Luft zerrissen wurde. Drei Jahre später erschien im diesjährigen Herbstprogramm “Jage zwei Tiger”, ihr zweiter Roman.
“Man stirbt nicht so leicht, wenn man jung ist, und das ganze psychotische und zerstörte Material verwaltet sich dahingehend selbst, dass jede einzelne Zelle danach schreit, am Leben zu bleiben.”
Kai ist 11 Jahre alt, als seine Mutter stirbt. Es ist ein Unfall, der sie aus dem Leben reißt, ein Stein, der von einer Autobahnbrücke geworfen wird. Kai überlebt schwer verletzt. Er ist nicht nur geschockt über das Erlebte, nein, gleichzeitig wird bei ihm eine Form des Reifeprozesses im Schnelldurchlauf los getreten. Statt sich von den Ersthelfern versorgen zu lassen, flieht der verstörte Junge in den Wald und trifft während dieser Flucht auf Samantha. Samantha gehört zu einer Zirkusfamilie und vom ersten Augenblick an, ist es um Kai geschehen: er verliebt sich in das junge Mädchen. Beide teilen ein ähnliches Schicksal: sie sind Amputierte, denen etwas abhanden gekommen ist, die nicht mehr vollständig sind. Kai fehlt die Mutter, Samantha der Unterarm. Doch Samantha verbirgt auch ein dunkles Geheimnis, denn sie ist nicht unschuldig gewesen am Unfall von Kais Mutter.
“Schlagartig wurde eine esoterische Mega-Ebene zu seinem Bewusstsein dazuaddiert, er alterte in dem Moment des Feststellung seines bedeutenden Verlusts um fünf Jahre, beschloss in seinem neu gewohnten Reflexionsvermögen, sich von nun an nur noch auf sich selbst zu konzentrieren und deshalb als einzigen Schritt der Selbstverteidigung cool zu bleiben.”
Cecile ist 17. Sie nimmt nicht nur Drogen, sondern versucht alles, um sich selbst zu zerstören. Sie macht die schmerzhafte Erfahrung, dass die Tatsache, in eine Familie hineingeboren zu werden, nicht gleichbedeutend damit ist, von seinen Eltern geliebt zu werden. Statt in einem liebenden Elternhaus zu leben, stürzt sie sich in das Nachtleben hinein und zieht schließlich bei ihrem wesentlich älteren Freund ein. Der hat gerade alle Hände voll mit seinem Sohn zu tun, der nach dem Tod seiner Mutter bei ihm aufwächst. Kai ist mittlerweile 13 und vieles hat sich bei ihm verändert, nur eines nicht: Samantha liebt er immer noch.
„An ihrem dreizehnten Geburtstag beschloss sie dann, logischerweise, schnellstmöglich erwachsen zu werden, woraufhin innerhalb weniger Wochen bedeutsame seelische Umstellungen erfolgten.“
Gemeinsam mit Cecile macht Kai sich auf, um Samantha zu finden – vordergründig ist es die Suche nach seiner großen Liebe, doch dahinter liegt auch der Wunsch danach Sicherheit, Geborgenheit und ein Stück der eigenen Identität finden zu können. Denn wie soll man heutzutage, in der Welt in der wir leben, erwachsen werden können, ohne Schaden zu nehmen? Wie soll man wissen, wer man werden möchte, wenn einem der Glauben an eine Zukunft fehlt? Der Welt, in der Kai und Cecil aufwachsen, fehlt das Fundament. Sie ist brüchig und das, was ihnen ihre Eltern vorleben, macht diese Welt nicht unbedingt tragfähiger. Wie soll man in dieser Welt, in der so vieles Schein und Fassade ist, herausfinden können, was echt ist?
„Es ist an dieser Stelle fast unnötig zu erwähnen, dass Cecile zu den weniger durchgeballerten Charakteren in diesem Roman gehört, aber sehr sympathisch ist. Und ja, scheiße, apropos Roman.“
All das sind Fragen, mit denen sich Helene Hegemann in ihrem Roman “Jage zwei Tiger” beschäftigt. Die Geschichte, in dessen Mittelpunkt Kai und Cecile stehen, erscheint dabei lediglich als Hintergrundfolie, auf der die Autorin ihre Gedanken in alle Richtungen ausbreiten kann. Die Reise, auf die sie dabei ihre Leser mitnimmt, ist rasant und intensiv, an vielen Stellen aber leider auch wirr und hektisch. “Jage zwei Tiger” fehlt es an Stabilität, Fundament und Klarheit. Wohlwollend kann dies als literarischer Kunstgriff bezeichnet werden. Die Stabilität, die Kai und Cecile fehlt, wird auch in der Form des Romans gespiegelt.
Nach „Axolotl Roadkill“ erweist sich Helene Hegemann auch in ihrem zweiten Roman als eine sicherlich talentierte Erzählerin, die einen Roman mit vielen guten Ansätzen vorlegt, der es jedoch noch nicht gelingt, über 300 Seiten hinweg die Fäden der Erzählung in der Hand zu behalten. Stellenweise verliert sich die Erzählung in einem Geplapper, bei dem einem das Gefühl überkommt, der Autorin zuzuhören, die sich und ihre Gedanken plötzlich in den Vordergrund drängt und über die eigentliche Geschichte legt. Humor beweist Helene Hegemann durch die Erwähnung des Berghain, die Diskothek, die im Zentrum der literarischen Debatte um ihren letzten Roman stand.
“[…] es ging um die Auflösung von Grenzen. Zwischen Geschlechtern, zwischen Arm und Reich und Alt und Jung und Gut und Böse. Es ging um Madonna und alle, die sich ebenfalls von vorgegebenen Strukturen befreien mussten und in dieser Freiheit jetzt auf der Suche nach Liebe und Identität jenseits der biologischen Festlegung, nach Vertrauen und Geborgenheit jenseits restriktiver Moralvorstellungen waren.”
Helene Hegemann ist kein großartiger Roman gelungen und wir haben es auch keinesfalls mit einem literarischen Wunderkind zu tun. Auf der anderen Seite, ist “Jage zwei Tiger” auch kein Buch, das in der Luft zerrissen werden müsste. Helene Hegemann leidet unter dem Schicksal, zu polarisieren – doch für mein Empfinden treffen hier keine der beiden Extreme zu. Für mich ist “Jage zwei Tiger” ein guter Roman, dem es gelingt, unsere – wenn es denn so etwas überhaupt gibt – junge Generation zu porträtieren. Es ist eine Generation, die sich auf der Suche befindet. Eine Generation, die sich ungeliebt und ungewollt fühlt, ohne eine Perspektive für die eigene Zukunft zu besitzen. Eine Generation, die vor lauter Langeweile Steine auf die Autobahn wirft und Menschenleben zerstört. “Jage zwei Tiger” ist ein lesenswerter, wenn gleich auch experimenteller Roman, dessen Schwächen man nicht verschweigen sollte – ich kann die Lektüre dennoch empfehlen.
12 Comments
Bücherphilosophin
October 4, 2013 at 9:57 amIch hab das Hörbuch auf dem SuB und bin schon gespannt, wie mein Erlebnis mit dem Roman sein wird. Mit Axolotl habe ich mich vor Jahren eher schwer getan. Trotzdem bin ich schon neugierig, ob und wieviel ich mit diesem zweiten Roman anfangen kann.
Was sagst Du zum Tempo des Romans? Ich habe hier und da gehört, dass man als Leser kaum dazu kommt Atem zu holen. Hast Du das auch so erlebt?
LG, Katarina 🙂
buzzaldrinsblog
October 7, 2013 at 11:14 amLiebe Katarina,
ich finde es toll, dass du dich überhaupt noch einmal an die Autorin heranwagst und ihr eine zweite Chance gibst. Wenn ich einen Beitrag von dir noch richtig im Gedächtnis habe, hast du dich mit dem Plagiat ja doch eher schwer getan.
Auf deine Eindrücke bin ich mehr als gespannt! 😀
Liebe Grüße
Mara
Bücherphilosophin
October 7, 2013 at 2:00 pmDie Plagiatsgeschichte hatte mich schon sehr enttäuscht, aber solange Hegemann daraus gelernt hat und sich nicht mehr einfach so bei anderen bedient, bin ich bereit so einen Nachfolgeroman anzutesten. Denn so schnell gebe ich nicht auf 😉
skyaboveoldblueplace
October 4, 2013 at 11:21 amLiebe Mara,
dank auch für diese wiederum sehr deutliche Besprechung. Ich glaube, das ist ein Buch, was ich dann mal auslassen werde.
Ich hatte damals recht intensiv in Axolotl Dingsbums reingelesen und mich sehr gewundert. Über den Hype, der um das Buch gemacht wurde, dann aber auch über den Skandal, dessen Grund ich nicht sehen konnte (ok, mal abgesehen vom Abschreiben, das ist erbärmlich aber doch auch nicht ungewöhnlich, andere können das bloss besser) und ehrlich gesagt am meisten über diese vorsichtig ausgedrückt recht ungenaue Sprache, an der offensichtlich jeder Versuch der Lektorierung gescheitert ist.
Das trifft, wenn ich mir die Zitate anschaue, die Du uns dankenswerterweise in Deiner Besprechung bringst, wohl auch auf dieses Buch zu. Ist das Jugendsprache? Keine Ahnung, vielleicht bin ich ja wirklich einfach zu alt für das Buch, auch wenn ich immer gerne was neues kennenlerne. Mir fällt jedenfalls auf: Die jungen Menschen, mit denen ich zu tun habe (und das sind ne Menge) sprechen irgendwie anders.
Übrigens: im Gegensatz zu Frau Hegemann hast Du eine sehr genaue, klare Sprache. Da freu ich mich jedes mal wieder drüber.
Liebe Grüsse, Kai
dasgrauesofa
October 4, 2013 at 11:58 amLiebe Mara,
das wird auch dieses Mal kein Buch für mich. Auch ich finde die Zitate nicht gerade so einladend, dass ich meine, meine wertvolle Lesezeit mit diesem Roman verbringen zu müssen. Da scheinen sich andere Texte mehr zu lohnen, in denen Autoren einen schöneren Umgang mit der Sprache pflegen. Ist Helene Hegemann vielleicht ein Beispiel für den in der “LIteraturnovelle” beklagten “Tod des Textes”? Ich kenne mich zu wenig aus mit ihr und ihrem Werk, um dies wirklich beurteilen zu können, aber den Hype um so wenig Substanz konnte ich schon vor zwei Jahren nicht verstehen und es gibt ja durchaus auch junge Autoren, die besser schreiben können. Jedenfalls habe ich hier so einen Anfangsverdacht…Oder hat es wirklich, wie Kai vermutet, etwas mit dem Alter des Lesers zu tun?
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
October 7, 2013 at 11:12 amLiebe Claudia,
“Tod des Textes” halte ich für etwas übertrieben – Helene Hegemann hat sicherlich einen eigenen Stil und bricht mit der Vorstellung, dass Literatur immer verständlich und klar sein müsste. Sie hebt sich von vielen jungen Autoren der heutigen Zeit ab, auch, weil sie es sich leisten kann, aus der Reihe zu tanzen. Von “Axlotl Roadkill” wurden 130.000 Bücher verkauft, was eine riesige Menge ist, im Vergleich zu dem, was viele andere junge Autoren verkaufen.
Ich finde, Helene Hegemann kann schreiben, auch wenn sie immer noch etwas dazu neigt, schnodderig und rau zu schreiben – ich sehe in ihren Texten Talent und Potential, mehr aber auch nicht. Ich bin gespannt, was wir noch von ihr erwarten dürfen in der Zukunft, ich werde es auf jeden Fall lesen! 😀
Liebe Grüße
Mara
Eva Jancak
October 4, 2013 at 3:01 pmSpannend, spannend, ich habe ja “Axolotl Raodkill” vor kurzem gelesen und dann noch ein bißchen über das neue Buch recherchiert, bzeziehungsweise mir ein paar Hegemann Interviews angehört. Bin also gespannt, ob und wann das Buch zu mir kommt und wundere mich nur ein bißchen, daß das Buch in dem deutschen Buchpreis Hype offebar komplett untergegangen ist, zumindest habe ich eigentlich noch nicht sehr viel darüber gehört
buzzaldrinsblog
October 7, 2013 at 11:08 amStimmt, die Veröffentlichung war vielleicht ganz gut getaktet, so ist die junge Autorin im Buchpreishype ein bisschen untergegangen – sowohl was positive Besprechungen anbelangt, aber auch negative Kritik betreffend. Ich fände es sehr spannend, weitere Meinungen zu diesem Roman zu hören und würde mich deshalb sehr freuen, falls du dich entscheiden solltest, das Buch zu lesen. Wie hat die Axoltl Roadkill gefallen? 🙂
Eva Jancak
October 7, 2013 at 11:18 amDarüber haben wir ja, glaube ich, schon diskutiert. Nachzulesen http://literaturgefluester.wordpress.com/2013/08/08/axolotl-roadkill/
buzzaldrinsblog
October 13, 2013 at 3:40 pmOh, mein Gedächtnis lässt mich scheinbar im Stich – entschuldige bitte. Vielleicht sinds die vielen Bücher! 😉
Karo
October 5, 2013 at 10:00 amLiebe Mara, das war sicher keine leicht zu schreibende Rezension. Helene Hegemann ist ja eine Autorin, die sehr gemischte Gefühle auslöst und die man auch schwer rezipieren kann, ohne diesen Rattenschwanz an Hintergründen auszublenden. Respekt, dass du diese Herausforderung angenommen hast, unvoreingenommen geblieben ist und ein wirklich sehr differenziertes und sachliches Bild vom Roman gezeichnet hast!
buzzaldrinsblog
October 7, 2013 at 11:06 amLiebe Karo,
ich danke dir für dein Lob, über das ich mich besonder freue, da ich mich mit dieser Besprechung in der Tat unheimlich schwer getan habe und sie beinahe zwei Monate lang vor mir hergeschoben habe. Bei Helene Hegemann finde ich es immer auffällig, dass die Rezipienten häufig in zweit Extreme verfallen: entweder loben sie sie in den Himmel, oder sie verreisen das Buch und die Autorin. Ich finde, dass beides hier völlig unangemessen ist und ich finde es genauso rätselhaft, warum Helene Hegemann diese starke Polarisierung generiert. Es war mir wichtig in meiner Darstellung, darauf hinzuweisen.
Liebe Grüße
Mara