Lena Gorelik ist eine Schriftstellerin, die gerne erfindet, manchmal aber auch Ausflüge in die Wissenschaft und den Journalismus macht. In diesem Herbst wurde endlich wieder ein Buch von ihr veröffentlicht. Mit “Die Listensammlerin” stand sie zwar nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, ich habe den Roman aber dennoch ins Herz geschlossen. In meinem Interview mit ihr spreche ich nicht nur über Literatur.
Wir treffen uns im Rahmen der Frankfurter Buchmesse, warst du schon häufiger in Frankfurt?
Ja, ich schätze, dass diese Buchmesse bereits meine vierte Buchmesse ist.
Hat sich im Laufe der Jahre irgendetwas hier verändert?
Ich finde, verändert hat sich nichts. Die Themen sind immer die gleichen, die Gespräche sind immer irgendwie die gleichen – Philip Roth hat den Nobelpreis schon wieder nicht bekommen. Mir fällt auf, dass einige Dinge mehr gehyped werden, also zum Beispiel der Deutsche Buchpreis, der hier schon fast eine eigene Halle hat. Das war früher anders. Außerdem, dass die Branche sich immer mehr selbst feiert. Gerade habe ich die Buchmessenzeitung der FAZ gelesen, die man eigentlich nur verstehen kann, wenn man sehr viele aus der Branche kennt. Aber wahrscheinlich war das schon immer so.
Ist der Besuch der Messe für dich eher Spaß oder Verpflichtung?
Ich mag Messen nicht besonders. Die Leipziger Messe mag ich viel mehr, weil sie einfach weniger gestresst ist. Es hetzen nicht alle. Ich finde die Veranstaltungen in Leipzig immer ganz toll, die Veranstaltungsorte sind immer über die ganze Stadt verteilt und an ganz besonderen Orten. Aber die Buchmesse selbst begeistert mich nicht. Ich finde, dass es letztendlich relativ wenig um Bücher geht. Ich freue mich über jedes Jahr, an dem ich nicht zur Messe muss.
Vom Messewahnsinn zu deiner Biographie: Du wurdest 1981 in Sankt Petersburg geboren und bist 1992 mit deiner Familie nach Deutschland gekommen – was verbindest du noch mit deinem Herkunftsland?
Ganz viele Kindheitserinnerungen natürlich, alles das, was einen prägt. Die ersten Gerüche, die Kuchen, die ich als Kind gegessen habe, die Spiele, die ich gespielt habe. Mit meinem Herkunftsland verbinde ich Kindheit. Ich glaube auch, dass meine Vorstellung von Sankt Petersburg oder von dem Land, sehr wenig mit der tatsächlichen Realität zu tun hat, sondern in den achtziger Jahren hängengeblieben ist.
Hast du denn heutzutage noch Verbindungen mit deinem Heimatland?
Ja, ich habe Verwandte dort, fahre aber nicht so häufig dorthin, wie ich selbst gerne würde. Besuche finden lediglich alle paar Jahre statt. Und dann bin ich natürlich auch in der sehr abgeschlossenen familiären Welt. Ich bin nicht wirklich in dem Land, sondern ich bin in Sankt Petersburg. Das ist etwas anderes, als der Rest Russlands. Innerhalb von Sankt Petersburg bin ich außerdem in diesem familiären Verhältnis, wo ich auch immer noch das kleine Mädchen bin, das sehr behütet ist.
Seit über zwanzig Jahren lebst du nun in Deutschland, wie ist es dir gelungen, in einem fremden Land, aber auch in einer fremden Sprache, heimisch zu werden?
Ich war elf Jahre alt, als ich nach Deutschland gekommen bin und habe die Sprache schnell gelernt, weil ich damals auch einfach noch ein Kind war. Ich bin jemand, dass sieht man ja auch an meinem Beruf, der sich über Sprache definiert. Ohne Sprache würde ich nicht arbeiten, nicht schreiben, nicht lesen können. Durch die Sprache kam auch das Heimische. Ich habe angefangen, auch auf Deutsch zu denken, zu formulieren und zu lesen – natürlich, ich habe durch das Lesen überhaupt Deutsch gelernt. Ich war ein Kind in einem Alter, in dem man sich sehr bemüht, angepasst zu sein und so zu sein, wie die anderen. Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich das Deutsche aufgesaugt habe. Mein jetziges Ich würde zu meinem damaligen Ich sagen: calm down! Sei du selbst, das ist okay! Aber mit elf, zwölf oder dreizehn Jahren ist das anders. Weil ich mich aber auch eben so bemüht habe, ging es dann schnell für mich, die Sprache zu lernen.
Du bist Jüdin, lebst heutzutage in Deutschland und stammst ursprünglich aus Russland. Was bedeutet dir Identität?
Mir? Nichts! Das ist etwas, worauf mich alle ansprechen. Jetzt bei dem neuen Roman lustigerweise, wobei ich eher sagen würde schönerweise oder interessanterweise, weniger. Für mich ist das keine Frage, weil es für mich so klar ist, wer ich bin. Ich muss das nicht ständig definieren.
Stört es dich, in der Öffentlichkeit immer wieder auf bestimmte Identitäten reduziert zu werden: die Jüdin, die Migrantin, die Russin?
Ja, natürlich! Total! Deswegen freue ich mich, dass das bei meinem neuen Buch nicht der Fall ist. Ich werde nach dem Buch gefragt und wie ich es geschrieben habe und nach den Figuren. Es geht in den Gesprächen, vorhin hatte ich ein Interview am FAZ-Stand, um Literatur und nicht um die Frage, wer ich bin. Ich will nicht permanent über mich sprechen, so toll finde ich mich selbst auch gar nicht.
Wird die Tatsache, dass du Jüdin bist, in deinem heutigen Alltag überhaupt noch zur Kenntnis genommen? Begegnet dir Ablehnung oder spürst du Berührungsängste?
Im Alltag nicht und auch unter Freunden ist das kein Thema. In dem Moment, in dem man jemanden kennenlernt und gut kennt, ist das irgendwann kein Thema mehr. Ich mache mal einen Vergleich, bei dem ich gar nicht weiß, ob er politisch korrekt ist. Wenn du nie mit jemandem zu tun hast, der im Rollstuhl sitzt, dann siehst du jemanden und denkst: oh, soll ich den jetzt vorlassen, braucht er Hilfe oder ist das schon zu viel Aufmerksamkeit? Wenn du aber unter Freunden jemanden hast, der im Rollstuhl sitzt, dann ist es völlig alltäglich für dich. So geht es auch meinen Freunden mit mir. Wir reden über Bücher, Filme, meinen Hund und das Wetter, aber nicht über Identität.
Spürst in dieser Hinsicht einen Wandel in der Bevölkerung, ist man dir und deinen Eltern vor zwanzig Jahren noch anders begegnet?
Ich glaube, es ist kein Wandel in der Bevölkerung, sondern es ist ein Wandel in den Generationen. Ich glaube, dass das einfach in unserer jüngeren Generation alles nicht mehr so eine Rolle spielt.
Neben deiner Arbeit als Schriftstellerin und Journalistin, hast du auch dein Studium der Osteuropäischen Geschichte abgeschlossen. Planst du auch eine Karriere als Wissenschaftlerin?
Oh Gott, nein. Nicht nur, dass ich sie nicht plane, ich glaube tatsächlich – und das ist nicht abwertend gemeint – dass ich sie mir so wenig zutraue, dass ich eher eine Karriere in der Gastronomie anstrebe oder so. Ich erfinde gerne Dinge, und das darf man in der Wissenschaft eher nicht.
Woher nimmst du beim schriftstellerischen Schreiben die Inspiration?
Von überall! Ich schreibe immer Sachen mit, habe immer ein Notizbuch dabei und notiere mir Dinge, die ich erlebe. Selbst gestern Nacht, als ich um halb zwei von der Rowohlt-Party kam, habe ich mich hingesetzt und etwas aufgeschrieben. Ich beobachte die Menschen und mir fallen sofort Dinge zu ihnen ein. Im Zug nach Frankfurt habe ich eine ältere Frau beobachtet. Ein sehr junger und sehr gutaussehender Mann, hat sich zu ihr gesetzt und die beiden haben sich unterhalten. Ich weiß gar nicht mehr, worüber, aber das Gespräch dauerte schon sehr lange und in meinem Kopf hatte ich gleich eine Geschichte: die beiden fangen eine Affäre an, aber sie kehrt dann wieder zu ihrer Familie zurück und ihn lässt dies ein Leben lang nicht mehr los. Eigentlich haben sich lediglich zwei Menschen unterhalten, aber in meinem Kopf ist bereits eine Achterbahn gefahren. Das passiert mir ständig.
Sofia, die Hauptfigur aus deinem neuen Roman “Die Listensammlerin”, schreibt auch. Sie legt leidenschaftlich gerne Listen an. Bist du auch eine Listenschreiberin?
Ich schreibe Listen, aber mehr so Listen, wie sie jeder schreibt: Einkaufslisten und To-Do-Listen. Listen, wie sie Sofia schreibt, schreibe ich nicht. Aber ich habe einfach sehr viel nachgedacht, über Spleens, die Leute haben. Ganz viele Leute, habe ich dann festgestellt, haben kleine Neurosen, die im Alltag überhaupt nicht auffallen. Ich habe die auch, die äußern sich aber nicht in Listen. Darüber wollte ich schreiben, weil ich glaube, dass diese Neurosen oder Spleens für jeden einzelnen Menschen total wichtig sein können, auch wenn sie den Mitmenschen überhaupt nicht auffallen.
Wann weißt du, dass eine Szene, die du aufsammelst – wie die in der Bahn – das Potential hat, in einem Roman zu enden?
Erst einmal schaue ich, ob mich das Thema am nächsten Morgen, wenn ich aufwache, überhaupt noch interessiert. Oft ist es so, dass ich dann einfach anfange zu schreiben und mal zwei, drei Seiten zu Papier bringe und dann schaue, ob ich damit weiterkomme oder nicht. Ich sitze gerade bereits an einem neuen Roman, habe aber eigentlich fünf Romananfänge gerade auf meinem Schreibtisch liegen und ich meine zu wissen, welchen ich schreiben werde und welche vier nicht. Aber es kann auch sein, dass sich das noch einmal ändert.
8 Comments
dasgrauesofa
November 15, 2013 at 5:16 pmLiebe Mara,
wieder ein so schönes und super interessantes Interview. Vielen Dank!
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
November 18, 2013 at 9:34 amLiebe Claudia,
ich danke dir für deinen Kommentar und freue mich sehr darüber, dass dir das Interview gefallen hat. Auch das Buch “Die Listensammlerin” kann ich dir nur ans Herz legen, es ist ein wunderbares und ganz besonderes Buch.
Liebe Grüße
Mara
wildganss
November 15, 2013 at 8:37 pmOh ja, das mit den Notizbüchern gefällt mir- manche anderen Dinge auch- und nun steht das Buch von ihr im Vormerkregal meiner Bib und wartet auf mich….sehr anregendes Interview!
buzzaldrinsblog
November 18, 2013 at 9:42 amFreut mich sehr, ich habe die Begegnung mit Lena Gorelik auch als sehr anregend und inspirierend empfunden. Die Disziplin, meine Ideen und Gedanken ständig in ein Notizbuch zu übertragen, hätte ich aber wohl nicht und finde ich sehr bewundernswert. Mit “Die Listensammlerin” wünsche ich dir ganz viel Freude, für ist es ein Herzensbuch, das ich unheimlich gerne gelesen habe.
Liebe Grüße
Mara
Klappentexterin
November 15, 2013 at 9:32 pmGanz lieben Dank für dieses schöne Interview, liebe Mara!
buzzaldrinsblog
November 18, 2013 at 9:42 amGerne, liebe Klappentexterin. 😀 Ich freue mich ganz doll, dass das Buch von Lena Gorelik wieder ein gemeinsames Herzensbuch ist von uns. 🙂
Muromez
December 6, 2013 at 10:40 amVielen Dank für das Interview und die Listensammlerin-Rezension. Wieder einmal betreibst du Aufklärung. Madame Gorelik hat mir bisher überhaupt nichts gesagt, erscheint mir aber nun umso spannender… 🙂
buzzaldrinsblog
December 9, 2013 at 10:41 amLieber Muromez,
schön, schön – das freut mich sehr zu hören. 🙂 Für mich war die Listensammlerin eines der Highlights dieses Jahr und ich finde es sehr schade, dass es nicht die ganz große Bühne und Beachtung gefunden hat.
Liebe Grüße
Mara