Refugium – Claire Beyer

Claire-Beyer+RefugiumClaire Beyer scheint eine Vorliebe für den Buchstaben R zu haben, ihre letzten Veröffentlichungen tragen die Titel “Rauken”, “Rosenhain”, “Remis” und “Rohlinge”. In diesem Herbst erschien “Refugium”, der neueste Roman der Autorin, die 1947 im Bayrischen Allgäu geboren wurde. Neben ihrer Leidenschaft für Romane hat Claire Beyer nicht nur ein Musical verfasst, sondern veröffentlicht auch Erzählungen, Kurzprosa und Gedichte.

Ein Leben bricht auseinander, zumindest scheinbar. Claudia Feldwehr erfährt, dass ihr Mann Robert, der als Betriebsingenieur arbeitet und in Lappland für eine deutsche Firma Autos testet, verschwunden ist. Er ist  zu einer außerplanmäßigen nächtlichen Testfahrt aufgebrochen und nie zurückgekehrt, auch das Auto bleibt verschwunden. Claudia, die in Deutschland lebt, während ihr Mann den Großteil des Jahres in Lappland verbringt, wird telefonisch über das Verschwinden ihres Mannes informiert. Trotz ihrer Flugangst, die sie bisher immer daran gehindert hatte, Robert in seinem provisorischen Zuhause zu besuchen, fliegt sie nach Lappland und macht sich im eiskalten schwedischen Winter auf die Suche nach ihrem Mann.

“Er war verschwunden, weil er es so gewollt hatte, weil er ihr gemeinsames Leben nicht mehr haben wollte.”

Claudia ist besorgt über das Verschwinden ihres Mannes, aber gleichzeitig auch seltsam unbewegt und kühl – ihre Gefühlslage beschreibt sie selbst als ein “Parforceritt zwischen Hoffen und Bangen”. Früh in der Geschichte deutet sich an, dass die Beziehung der beiden bereits viel früher auseinander gegangen ist – man hat sich entfernt voneinander und an den wenigen Wochenenden, die man miteinander verbracht hat, herrschte weniger Wiedersehensfreude, als der Versuch sich erst einmal wieder aneinander zu gewöhnen. Die gemeinsamen Kinder sind längst erwachsen, doch vor allem der älteste Sohn Magnus hat noch lange nicht Fuß gefasst im Leben. Er arbeitet als Broker bei einer internationalen Großbank und schmeißt mit Geld nur so um sich. Während Claudia in Lappland ist, hütet er das Haus, doch bereits früh merkt die Mutter, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmt: er leiht sich Geld und den Nachbarn fällt auf, dass er am Nachmittag bereits nach Alkohol riecht.

“Das gelbe Haus war zu einem Refugium, zu einer Art Zauberberg geworden, wo die Sorge um Robert geteilt werden konnte.”

Der Begriff Refugium kommt ursprünglich aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Zufluchtsort oder auch Unterschlupf. Einen solchen Ort findet Claudia in Lappland. Es ist das gelbe Haus von Brigitta, in dem sie für die Zeit ihres Aufenthalts nicht nur ein Zimmer bezieht, sondern einen geschützten Ort findet, wo sie endlich wieder zu sich selbst finden kann. Claudia und die wesentlich ältere Brigitta, die bereits vier kinderlose Ehen hinter sich hat, bauen eine tiefe und intensive Verbindung miteinander auf. Dort, in ihrem Refugium, wird Claudia zum ersten Mal klar, wie zerrüttet ihre Familie und ihre Ehe ist. Die Suche nach ihrem Mann läuft noch immer, aber sie rückt scheinbar zunehmend in den Hintergrund. Viel mehr geht es um die Erkenntnis, dass hier eine Ehe nicht erst durch das plötzliche Verschwinden des Mannes zerstört wurde, sondern das die gegenseitige Liebe bereits viel früher gestorben ist. Es ist eine schmerzhafte und traurige Erkenntnis für Claudia, es ist bestürzend für sie, die lappländische Wohnung ihres Mannes zu betreten und das Gefühl zu haben, den Menschen, der dort gewohnt hat, nicht zu kennen. Die Gegenstände die ihr etwas bedeutet haben und ihren Mann an sie und die Kinder erinnern sollten, waren in einem Schrank verstaut. Es ist die Wohnung eines Fremden, von dem sich Claudia so weit entfernt hat, dass ihr nicht einmal der Geruch in der Wohnung vertraut vorkommt.

“Wer kennt den anderen schon wirklich, dachte sie, und was bedeutet inneres Wesen? Das Streben, die Triebe, Wünsche und Sehnsüchte eines Menschen, oder seine Fehlbarkeit? Sein Wille, zu überleben? […] Über dreißig Jahre war sie mit Robert verheiratet, kannte ihn noch länger. Doch fast zwei Drittel dieser Zeit hatte er in Schweden gelebt.”

Die Schocknachricht über das Verschwinden ihres Mannes, der scheinbare Zusammenbruch, wird für Claudia plötzlich zu einem Befreiungsschlag und zu dem Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Sie hat ihre Flugangst überwunden, ihr altes Leben zurückgelassen und sich zum ersten Mal seit Jahren von Verhältnissen befreit, in denen sie schon lange lebte und nie gemerkt hat, wie unglücklich sie eigentlich gewesen ist: “Ihre Familie hatte sich nicht entwickelt, sie hatte sich in ein hohles Gespinst verwandelt, dachte sie bitter”. Sie streift Verantwortung ab, löst die Fesseln einer Vergangenheit, die sie gebremst hat, ihr aber keine Freude mehr geschenkt hat. Claudia kehrt noch einmal kurz nach Deutschland zurück. Zurück in ein verwahrlostes Haus und zu einem alkoholkranken Sohn. Doch sie bleibt nicht lange, denn mit ihrer neu gewonnenen Kraft und Stärke gelingt es ihr, ihren Sohn zu konfrontieren.

“Die räumliche Distanz hatte einen tiefen Graben gerissen, ihre Solidarität war verebbt, und sie spürte keine Verantwortung mehr für ihr altes Leben. Vermutlich hatte es schon vor Roberts Verschwinden Anzeichen für diese Entfremdung gegeben, aber sie hatte sie nicht wahrnehmen wollen.”

Claire Beyer ist mit “Refugium” ein außergewöhnlicher Roman gelungen, der bezaubert und verstört. Die mystische und eiskalte schwedische Winterlandschaft gibt der Geschichte einen Hauch Magie. “Refugium” ist auch eine spannende Lektüre, wobei für mich weniger die Suche nach dem Verschwundenen im Vordergrund stand, als die Entdeckung der Hauptfigur ein eigenes Leben zu haben, das immer noch aus Träumen und Wünschen besteht. Claire Beyer ist ein sensibles Stück Literatur gelungen, ein feiner und leiser Roman, der irgendwo ganz tief in meiner Brust immer noch nachklingt.

9 Comments

  • Reply
    5 Fragen an Claire Beyer! | buzzaldrins Bücher
    November 18, 2013 at 9:22 am

    […] ein Musical verfasst und veröffentlicht Erzählungen, Kurzprosa und Gedichte. Ihr neuester Roman “Refugium” erschien in diesem Literaturherbst. Mehr über Claire Beyer erfährt man auf ihrer […]

  • Reply
    madameflamusse
    November 18, 2013 at 9:22 am

    Wow, klingt sehr berührend. Ich glaube es ist manchmal die Loyalität die wir für unsere Lieben mehr haben als für uns selbst, die uns in solches sein treibt. Und schön wenn es Auslöser gibt die ein Konfrontieren, Öffnen, Ändern möglich machen…

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      November 18, 2013 at 9:45 am

      Liebe Madame Flamusse,

      ja, für mich war der Roman auch eine sehr berührende Lektüre. Es mag sein, dass andere, die Geschichte anders lesen, doch für mich stand die Tatsache, dass Claudia sich aufgrund des Verschwinden ihres Mannes noch einmal aufrafft und aus ihrem alten, längst zu eng sitzendem Leben befreit, im Mittelpunkt. Ich habe diese Frau, die im dann doch bereits hohem Alter entscheidet, ihr Leben noch einmal neu auszurichten, als sehr bewundernswert empfunden.

      Liebe Grüße
      Mara

      • Reply
        madameflamusse
        November 18, 2013 at 10:03 am

        Ja, ich finde das auch sehr bewunderswert und vorallem immer wert es zu tun, Gerade gestern traf ich jemandem dem ich das auch so sehr wünsche…die Fesseln des geschaffenen Korsetts zu sprengen (die ja von Jahr zu Jahr fester sitzen)..

        Liebe Grüße zurück!
        Dein Blog ist wie ein kleines Stück zuHause…schön (für mich)

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          November 20, 2013 at 11:12 am

          Liebe Madame Flamusse,

          ich danke dir sehr für dieses schöne Kompliment, dass dir mein Blog ein Stück Heimat geworden ist … ich freue mich über jeden Besuch und jeden Kommentar von dir und bei all der Arbeit, die ich in die Pflege meines Blogs hineinstecke, geben mir Sätze wie dieser, noch einmal ganz viel Kraft zum Weitermachen.

          Liebe Grüße
          Mara

          • madameflamusse
            November 21, 2013 at 7:22 pm

            Oooorhh, Danke Du Liebe. Du bist immer so freundlich und liebenswürdig, das ist mir schon bei den ersten Besuchen aufgefallen. Manchmal denke ich das ist wie so eine Parallelwelt im Internet, also in meinem persönlichem 🙂

  • Reply
    dasgrauesofa
    November 18, 2013 at 12:02 pm

    Liebe Mara,
    das “Refugium” hat auch schon immer mal wieder zu mir herübergeblinzelt – allein schon wegen des Namens der Protagonistin 🙂 -, und nun hast Du mir mit Deiner schönen Besprechung noch mehr Lust gemacht, den Roman zu lesen. Mal schauen, ob er doch noch auf dem sich immer höher türmenden Stapel landet.
    Viele Grüße, Claudia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      November 20, 2013 at 11:07 am

      Liebe Claudia,

      ich kann dir die berührende und bewegende Lektüre von “Refugium” nur empfehlen, ich habe das schmal Büchlein innerhalb kürzester Zeit gelesen und doch hat es noch ganz schön lange nachgewirkt. Ich würde mich freuen, wenn das Buch den Weg auf deinen Stapel finden würde, schon allein auch, um noch andere Meinungen dazu lesen zu können.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Indie-Adventskalender 2013 | We read Indie
    December 31, 2013 at 10:48 am

    […] “Claire Beyer ist mit Refugium ein außergewöhnlicher Roman gelungen, der bezaubert und verstört. Zusätzlich erhält die Geschichte durch die mystische und eiskalte schwedische Winterlandschaft einen Hauch von Magie. Refugium lässt sich als Kriminalliteratur lesen, wobei für mich jedoch weniger die Suche nach dem Verschwundenen im Vordergrund stand, als die Entdeckung der Hauptfigur ein eigenes Leben zu haben, das immer noch aus Träumen und Wünschen besteht. Claire Beyer ist ein sensibles Stück Literatur gelungen, ein feiner und leiser Roman, der irgendwo ganz tief in meiner Brust immer noch nachklingt.” (Weiterlesen/bestellen) […]

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