Sarah Stricker wurde 1980 in Speyer geboren und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Anschließend arbeitete sie für einige deutsche Zeitschriften, bevor es sie 2009 nach Israel zog. Der Auslöser war ein Stipendium, das sie erhielt, doch bis heute ist sie nicht zurückgekehrt. In Israel berichtet sie für deutsche und israelische Medien. Nebenbei hat sie ihren beeindruckenden Debütroman “Fünf Kopeken” geschrieben, der in diesem Literaturherbst im Eichborn Verlag erschienen ist.
“Meine Mutter war sehr hässlich. Alles andere hätte ihr mein Großvater nie erlaubt.”
Anna, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, nimmt sich der Lebensgeschichte ihrer Mutter an. Es ist eine Geschichte, die sich aus vielen kleinen Bruchstücken und Episoden zusammensetzt, die die Mutter ihrer Tochter auf dem Sterbebett erzählt. Dem Tode ins Gesicht blickend befreit sich die Mutter von einer Lebensgeschichte, die immer mal wieder auch Lebenslast gewesen ist. Die Tochter notiert das Gesagte, akribisch und detailliert, mit viel feiner Beobachtungsgabe.
“Solange ich denken kann, hatte meine Mutter immer nur über die Zukunft gesprochen. Erst jetzt, wo die zusammenschnurrte wie ein Planschbecken, wenn man am Ende des Sommers den Stöpsel zieht, fand sie plötzlich Geschmack an der Vergangenheit. Nur die Gegenwart rührte sie bis zuletzt nicht an.”
Annas Mutter ist zu hässlich, um es sich erlauben zu können, dumm zu sein. Dies wird ihr bereits früh im Leben klar gemacht. Die Mutter, die das ganze Buch hinweg namenlos bleibt, kommt als spätes Kind ihrer Eltern zur Welt. Ihr Vater Oskar hält weder etwas von Schönheit, noch von Liebe – es ist allein die Leistung, die für ihn zählt.
“Er ging nicht, er rannte. Er fuhr nicht, er raste. Er überlegte nicht, er wusste. Vor allem: es besser. In seinem Wortschatz gab es kein ‘Ich finde/glaube/würde sagen’, kein ‘Ich bin der Meinung, dass’, nur: ‘Es ist.'”
Er selbst hat sich mit seiner Modeboutique bis ganz nach oben gearbeitet und erwartet auch von seiner Tochter altehrwürdige deutsche Tugenden: Talent, Leistung, Klugheit. Ihre Mutter Hilde bleibt blass neben ihrem Mann, ihr Leben ist bestimmt von der Angst, die sie seit eines Bombenangriffs, den sie als Kleinkind miterlebt hat, in ihren Fängen hat.
“Die erste und einzig wahre Liebe meiner Großmutter war die Angst. Alles was danach kam, waren nur Variationen.”
Es ist die Kombination ihrer Eltern, die überängstliche Mutter und der strenge und leistungsbedachte Vater, die es der Mutter unmöglich machen, eine sorgenfreie Kindheit zu erleben. Sie ist hochintelligent und mit einer Vielzahl an Talenten gesegnet; die Schule erledigt sie im Vorbeigehen. Sie wird gefördert und gefordert, jedoch nicht geliebt. Wie soll es ihr da möglich sein, eine Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen? In der Schule fällt es ihr schwer, Freundinnen zu finden, ganz zu schweigen von einem liebenden Partner. Wie eine Partnerschaft funktionieren könnte, erlebt sie erst während ihres Studiums, als sie Arno kennen lernt. Arno liebt die Mutter, von ganzem Herzen, doch sie selbst hat die Fähigkeit zu lieben noch gar nicht entdeckt. Während sie mit Liebe überschüttet und erdrückt wird, fühlt sie sich selbst taub, wenn auch nicht unglücklich. Ähnlich wie in ihrem Elternhaus und in der Schule funktioniert sie lediglich und spielt die Rolle, die von ihr erwartet wird. Die Rolle der perfekten Tochter, der liebenden Freundin – eine Rolle, die sie bis an ihr Lebensende hätte spielen können, wenn ihr nicht Alex begegnet wäre. Alex, der Mann mit den vielen Namen, ist geheimnisvoll und derb, er ist abweisend und in sich gekehrt. Zum ersten Mal entdeckt die Mutter die Welt der Gefühle und der Liebe.
“Das ganze Leben will man von seinen Eltern weg, alles, nur nicht ‘du bist ja genau wie deine Mutter’, und am Ende glaubt man plötzlich, sich die Liebe oder Freundschaft oder wenigstens Achtung für sie einfach überstreifen zu dürfen, wie einen Pullover, den man im Schrank gefunden hat.”
Alex oder Arno? Das häusliche Glück oder das wilde Leben? Und wer ist Annas Vater? Das sind die Fragen, die im Mittelpunkt des Romans stehen und um die die Erinnerungen der Mutter kreisen. Ihrer Tochter, zu der sie zuvor ein ambivalentes Verhältnis hatte (“[…] ich erinnere mich an genau ein Mal, dass sie sagte, dass sie mich liebt.”), offenbart sie sich schonungslos. Sie erspart der Tochter nichts, thematisiert auch Intimitäten, die man als Mutter der Tochter eigentlich auch ganz gerne mal verschweigt.
“Anfangs fragte ich mich oft, warum sie mir das alles erzählte. Warum musste ich das wissen? Warum sollte überhaupt irgendjemand so etwas über seine Mutter wissen? Aber je weiter die Geschichte voranschritt, desto mehr begriff ich, dass es vor allem diese Stellen waren, die , die man ihr nicht zutrauen wollte, die sie erzählen musste, die sie laut aussprechen musste, um sich zu vergewissern, dass sie sich die Frau, die all die Jahre nur in ihrem Gedächtnis weitergelebt hatte, nicht nur ausgedachte hatte.”
Sarah Stricker ist mit ihrem Debütroman “Fünf Kopeken” ein faszinierendes Stück Literatur gelungen, das mich auf mehreren Ebenen überzeugen konnte. Es ist vor allen Dingen die Erzählperspektive, die beeindruckt. Sarah Stricker entwirft ein auf den ersten Blick verschachteltes Panorama: Anna erzählt die Geschichte ihrer Mutter und deren Eltern, wobei die Mutter den ganzen Roman über namenlos bleibt. Die Namenlosigkeit der eigentlichen Hauptfigur ist ein kluger Schachzug und zeigt auf, wie sich die Mutter ein Leben lang selbst gesehen hat: erst als Tochter, dann als Mutter – ohne eigene Identität, eines Namens nicht wert. Gepresst in ein Leben, das einem Korsett ähnelt und in dem Gefühle wie das der Verliebtheit als ein Fehler im System angesehen werden. Darüber hinaus gelingt es dem Roman aber auch sprachlich zu überzeugen. Der Erzählton bewegt sich zwischen allen möglichen Humorfacetten: von witzig bis ironisch, häufig finden sich aber auch bissige Spitzen. Unter dieser humorvollen Oberfläche verbirgt sich jedoch auch ganz viel Traurigkeit.
“Dieselbe Angst, die meine Großmutter hatte, das Gewonnene zu verlieren, hatte meine Mutter davor, das Verlorene wiederzufinden. Angst, von Erinnerungen überrollt zu werden. Angst, jede Nachlässigkeit, jeder noch so kleine Fehler könne ihr schön sortiertes, Kante auf Kante gefaltetes Leben noch mal durcheinander bringen.”
“Fünf Kopeken” ist die bewegende Lebensgeschichte einer Frau, die Tochter und Mutter gewesen ist, aber viel zu selten sie selbst. Es ist eine Lebensgeschichte, die mit einer gehörigen Portion Humor erzählt wird, mit Ironie und einem feinem Witz. In ihr steckt jedoch gleichzeitig auch eine schwermütige Traurigkeit. Ich habe das Gefühl, einen großartigen Roman gelesen und eine tolle Autorin entdeckt zu haben!
23 Comments
Petra Wiemann
November 25, 2013 at 10:35 amVielen Dank für die tolle Besprechung! Humor hätte ich bei dem Thema nicht erwartet. Jetzt bin ich furchtbar neugierig.
dasgrauesofa
November 25, 2013 at 12:01 pmLiebe Mara,
mich erinnert das, was Du über die Geschichte der Mutter erzählst – der Roman fängt ja mit dem ersten Satz schon ganz fulminant an – sehr an die Forschungsergebnisse, die Sabine Bode über die Nchkriegskinder und die Nachkriegsenkel publiziert hat. Die Angst der Mutter auf der einen Seite, die Leistungsorientierung des Vater, die ja vielleicht auch nur ein Weggucken von traumatischen Erlebnissen ist, auf der anderen Seite, sind doch ganz typische Verhaltensweien der Nachkriegsgeneration, mit denen sie dann ihren eigenen Kindern wiederum auch keine gute Kindheit ermöglicht haben. — Schön, dass Sarah Stricker dabei wohl den Humor nicht verloren hat und, so lassen es Deine Zitate schließen, auch sehr anpsrechend erzählt.
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
November 27, 2013 at 10:30 amLiebe Claudia,
ich danke dir ganz herzlich für deinen interessanten und aufschlussreichen Kommentar, da mir dieser Querverweis zu den Forschungsergebnissen nicht bewusst gewesen ist. Ich bin höchstwahrscheinlich in einer anderen Generation aufgewachsen, deshalb finde ich deinen Hinweis umso spannender. Da scheint Sarah Stricker nicht nur etwas “erfunden” zu haben, sondern ein tatsächliches Abbild von Familien geschaffen zu haben. Spannend!
Deinem Fazit kann ich mich nur anschließen: “Fünf Kopeken” ist ein humorvolles und großartig erzähltes Buch, das ich dir nur empfehlen kann. 🙂
Liebe Grüße
Mara
dasgrauesofa
November 27, 2013 at 10:44 amUnd nach dem tollen Interview werde ich mich dem Buch wohl wirklich nicht mehr entziehen können (ich glaube, es ist allein heute der 3. Roman, der auf meine Leseliste wandert – ganz schlimmes seufz!).
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
November 28, 2013 at 10:06 amDas kenne ich! Meine Wunschliste wächst auch stetig und unaufhaltsam, welche zwei anderen Romane sind denn noch dazu gewandert? 🙂
Liebe Grüße
Mara
dasgrauesofa
November 28, 2013 at 4:37 pmSophie hat ja gestern Martin Winklers Roman vorgestellt, der sich mit dem Thema Selbstbestimmung und Tod beschäftigt, und Karo so schön enthusiastisch über das zwei Sekunden längere Jahr berichtet. So unterschiedlich die beiden Themen wahrscheinlich sind, spannend liest sich beides. — Mittlerweile lasse mich ja nur noch von den Blogs zu neuer Lektüre inspirieren und das wird einfach von Tag zu Tag mehr. Und dann kommt ja noch meine eigene Buchauswahl dazu. Es ist gaaaaanz grausam mit Euren schönen Buchvorstellungen!!!
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
December 2, 2013 at 9:06 amLiebe Claudia,
ach ja, das kenne ich! 😀 Das Jahr, das zwei Sekunden länger ist, liegt hier übrigens auch schon bereit und wartet darauf gelesen zu werden. Nach Karos enthusiastischer Besprechung konnte ich daran im Buchladen einfach nicht mehr vorbeigehen. 🙂
Liebe Grüße
Mara
Xeniana
November 25, 2013 at 2:05 pmHach dieses Buch steht schon so lange auf meiner Warteliste.
buzzaldrinsblog
November 27, 2013 at 10:28 amDann wird es Zeit, es endlich zu lesen!!! 😀
Xeniana
November 27, 2013 at 6:27 pmIch häng noch eine Weile bei Proust fest fürchte ich….
buzzaldrinsblog
November 28, 2013 at 10:03 amOh, da kann man wohl auch eine Weile hängen bleiben. 😉 Proust steht auf meiner Leseliste, aber ich bezweifel, dass ich jemals dazu kommen werde, deshalb bewundere ich dich sehr für deine Auseinandersetzung mit Proust.
Xeniana
November 28, 2013 at 1:19 pmIch mich auch:))))
wildganss
November 25, 2013 at 2:40 pmWas für eine tolle Anheizbesprechung!!! Danke.
buzzaldrinsblog
November 27, 2013 at 10:28 amGerne! 😀 Ich freue mich, das ich dich “anheizen” konnte. Die Lektüre ist wirklich großartig, ich kann dir das Buch nur empfehlen. Gerade auch durch den Humor gelingt es Sarah Stricker eine ganz besondere Familiengeschichte zu erzählen.
Klappentexterin
November 25, 2013 at 7:41 pmHach Mara, einfach schön, so schön, dass ich mir jetzt wieder ganz warm ums Herz wird.
buzzaldrinsblog
November 27, 2013 at 10:27 amIch freue mich, bei dieser Kälte im Moment kann ein warmes Herz ja sicher nicht schaden! 🙂 Wir haben wirklich Glück, dass wir gemeinsam mit Sarah Stricker eine so tolle Autorin entdecken konnten und ich bin schon ganz gespannt, was wir von ihr noch erwarten dürfen.
Silberdistel
November 27, 2013 at 9:12 amDeine Besprechung hat mich jetzt doch ganz schön neugierig gemacht. … und schon steht das Buch auf meiner Musslesenliste. Danke für den Tipp!
Liebe Grüße von der Silberdistel
buzzaldrinsblog
November 27, 2013 at 10:25 amLiebe Silberdistel,
ich freue mich sehr, dass ich dich mit meiner Besprechung habe neugierig machen können! 🙂 Ich hoffe, dass das Interview mit Sarah Stricker, in dem man noch etwas mehr über die Autorin erfahren kann, den Ausschlag dafür geben wird, das Buch möglichst auch bald zu kaufen, denn mich hat es wirklich unheimlich begeistert.
Liebe Grüße
Mara
Sarah Stricker im Gespräch! | buzzaldrins Bücher
November 27, 2013 at 10:14 am[…] Strickers Roman „Fünf Kopeken“ war einer der Überraschungserfolge in diesem Herbst. Ich hatte die Möglichkeit die Autorin auf […]
Ein Jahr in Büchern … | buzzaldrins Bücher
December 29, 2013 at 1:04 pm[…] “Meine Mutter war sehr hässlich. Alles andere hätte ihr mein Großvater nie erlaubt.” (aus: Sarah Stricker – Fünf Kopeken) […]
Stöckchen… « Familienbande
March 29, 2014 at 5:49 pm[…] Zeit, gelingt es mir im Monat mehr als 3 Bücher zu lesen. In diesem Monat waren das ” 5 Kopeken von Sarah Stricker”(gefunden bei buzzaldrin),” Aus dem Berliner Journal” von Max Frisch , “Alles ist gutgegangen” […]
jancak
June 9, 2014 at 10:10 pmDas habe ich jetzt auch gefunden und freue mich schon auf das Lesen
buzzaldrinsblog
June 11, 2014 at 4:24 pmAch, dann bin ich schon gespannt, wie dir der Roman gefallen wird, liebe Eva. 🙂