Wenn man in die Biographie Patrick Flanerys schaut, mag man auf den ersten Blick überrascht sein: der junge Autor, der mit so viel Wissen und Detailtreue über Südafrika schreibt, ist gar kein Südafrikaner, sondern gebürtiger Amerikaner. Er lebt seit einigen Jahren in Großbritannien und arbeitet in London als Publizist. “ABSOLUTION” ist sein Debüt als Autor und wurde von Reinhild Böhne übersetzt.
Es ist bereits einige Jahre her, dass Sam Leroux das letzte Mal sein Heimatland Südafrika besucht hat. Als Student hat es ihn nach Amerika gezogen, um nicht nur das Land zurückzulassen, in dem er aufgewachsen ist, sondern auch, um die Vergangenheit endlich hinter sich lassen zu können. Begraben und vergessen. Doch so leicht funktioniert das nicht. Es ist ein literarischer Auftrag, der den jungen Mann schließlich wieder zurück in eine Vergangenheit führt, die er am liebsten vergessen hätte. Gleichzeitig ist dies der Versuch heimzukehren. Sam Leroux soll eine Biographie über Clare Wald schreiben, eine bekannte südafrikanische Schriftstellerin. Es sind eine Reihe an Interviews und Befragungen angesetzt, mithilfe derer Sam einen Einblick in das Leben der Autorin gewinnen soll, doch Clare Wald verweigert sich – verschlossen und abweisend präsentiert sich die alte Dame dem hilflosen Interviewer.
“Ich hätte meinen Biografen selbst ausgesucht, aber ich kenne keinen, der sich der Aufgabe stellen würde. Ich bin ein Albtraum.”
Es scheint Themengebiete zu geben, vor allen Dingen politische Themen, die vermint sind. Sowohl ihre Schwester Nora, als auch ihre Tochter Laura haben sich politisch engagiert und mussten für dieses Engagement auf unterschiedliche Art und Weise bezahlen. Ihre Schwester Nora ist gestorben, Laura für immer verschwunden.
“Es bedeutet Vivisektion, Verlust eines Körperteils. Keine Prothese kann Ersatz leisten. Die Familie ist verkrüppelt.”
Diese Aspekte ihrer Vergangenheit scheinen tabu zu sein, doch warum? Was hat Clare Wald zu verbergen? Doch auch Sam Leroux verbirgt ein dunkles Geheimnis: die Vergangenheit des jungen Mannes ist sehr viel enger mit dem Leben der Schriftstellerin verknüpft, als Clare Wald das vielleicht ahnen kann.
“Es gab und gibt eine größere Furcht. Ich habe sie eingepackt, mit altem Klebeband fixiert und mit morschem Strick verschnürt. Es ist mir schlecht gelungen. Ich fühle, wie sie zu entweichen sucht.”
Zwischen Sam Leroux und Clare Wald entwickelt sich ein literarisches und spannungsgeladenes Katz- und Mausspiel. Wer weiß was und wer verrät das, was er weiß, als erstes? Beide haben ihre eigene Version der Vergangenheit, doch welche der beiden stimmt? Eines der Themen, die im Zentrum des Romans stehen, ist die Frage nach Schuld. Sowohl Sam Leroux als auch Clare Wald bewahren ein Geheimnis; ihre Vergangenheit ist von dunklen Stellen befleckt. Beide wünschen sich Absolution, Vergebung. Die Frage, ob man sich nicht erst einmal selbst vergeben lernen muss, bevor einem andere vergeben können, ist eine der Fragen, die durch den Roman aufgeworfen werden.
“Ich gieße Milch und Nektar auf das Feuer, Wein und Wasser, verstreue Mehl, reibe es gegen mein Fleisch, schneide mir die Kehle durch, um dich heraufzubeschwören, opfere mich, um dir Gestalt zu geben, doch du willst nicht auferstehen. Wenn du nicht auferstehen willst, bist du nicht tot. Ich habe keine sterblichen Überreste gesehen. So muss es sein.”
“ABSOLUTION” ist ein literarisches Puzzlespiel und Aufgabe des Lesers ist es, die Wahrheit – wenn es überhaupt so etwas wie eine Wahrheit geben kann – herauszufinden. Daneben wirft Patrick Flanery aber auch einen Blick auf das heutige Südafrika und thematisiert die tiefe Spaltung dieses Landes: die Reichen des Landes leben abgeschottet in ihrer eigenen Welt, immer gequält von der Angst vor Einbrechern und Überfällen, während die Armen immer ärmer und gleichzeitig aggressiver werden.
“Du brauchst Mauern. In diesem Land kann man ohne Schutzmauern nicht bleiben. Mauern und NATO-Draht, elektrisch geladen. Auch Wachhunde.”
Neben allem anderen ist „ABSOLUTION“ auch ein politischer Roman. Es geht um politischen Aktivismus, um Selbstmordattentate, um Bombenanschläge und die Wahrheitsfindungskommission. Darüber hinaus geht es aber auch um Zensur und die Frage, wie Schriftsteller und Schriftstellerinnen sich in ihrem Schreiben mit Politik auseinandersetzen können. Für den Leser bedeutet dies, dass einiges an politischem Hintergrundwissen über die Situation in Südafrika gefordert ist. Aber auch losgelöst von Südafrikas Politik ist die Frage danach, warum man sich politisch engagiert und wann politisches Engagement zu politischer Gewalt werden kann, interessant. Laura, Clares Tochter, wächst in einer intellektuellen Familie heran, die sie darin fördert, eigenständig zu denken. Doch Vater und Mutter sind entsetzt davon, wie sich diese Anlagen in ihrer Tochter entwickelt haben.
“Ich verstehe, dass dein Vater und ich auf irgendeine Weise eine Frau herangezogen hatten, die nicht zufrieden damit war, zu tun, was sicher war, am wenigsten, was ihr befohlen wurde. Ich verstehe dein Gefühl, keine andere Wahl zu haben, als zu handeln. Aber wir haben dir nie beigebracht zu töten.”
Patrick Flanery ist mit “ABSOLUTION” ein lesenswerter Roman gelungen. Er erzählt eine unheimlich dichte Geschichte, die angereichert ist mit detailliertem Hintergrundwissen. “ABSOLUTION” ist das Porträt eines zersplitterten Landes, eine Auseinandersetzung mit Zensur und Politik und gleichzeitig die ganz persönliche Geschichte zweier Menschen, die ein Leben leben, das geprägt ist von dunklen Geheimnissen und der Hoffnung auf Absolution.

4 Comments
Karo
December 2, 2013 at 1:46 pmLiebe Mara, danke für diesen schönen Leseeindruck eines Romans, den ich auch schon auf dem Schirm hatte. Er klingt nach einer guten Mischung aus psychologischem Kammerspiel und politischer Aufarbeitung – möglicherweise ist es da sogar von Vorteil, dass Flanery selbst kein gebürtiger Südafrikaner ist, sondern ‘von außen’ auf dieses tief gespaltene Land schaut. Seit ich in diesem Jahr selbst das erste Mal in Südafrika war, beschäftigt mich die Geschichte und Identität des Landes jedenfalls sehr. Herzlichst, Karo
buzzaldrinsblog
December 4, 2013 at 2:26 pmLiebe Karo,
ja, vielleicht lässt sich ein solcher Roman – geschrieben aus einer kritischen Perspektive – auch besser aus der Distanz verfassen. 🙂 Die Lektüre hat mir gefallen, auch wenn ich einschränken muss, dass der Roman sicherlich nicht einfach zu lesen ist. Ich verbinde mit Südafrika bisher nur Nadine Gordimer: ich habe im vergangenen Jahr an einer wahnsinnig anstrengenden Leserunde teilgenommen habe, wo wir ein Buch von ihr gelesen haben. Diese Erfahrungen haben wohl auch diese Lektüre ein ganz bisschen überschattet, weil mich Clare immer an Nadine Gordimer erinnert hat. Nichtsdestotrotz habe ich das Porträt dieses seltsam zersplitterten Landes als spannend empfunden und werde versuchen, das ein oder andere weitere Buch der südafrikanischen Literatur zu lesen.
Liebe Grüße
Mara
Franziska
January 19, 2014 at 8:31 pmHallo,
ich habe gerade deine Rezension entdeckt und mit Interesse gelesen, da ich mich mitten in der Lektüre dieses nicht leicht zu lesenden Romans befinde. Wie du schreibst, ist es ein wirklich dichte Erzählung mit viel dunkler Vergangenheit.
Ich habe bei Südafrika bisher immer an Coetzee gedacht. Vielleicht auch eine Leseempfehlung für dich?
Lieber Gruß!
buzzaldrinsblog
January 20, 2014 at 1:58 pmLiebe Franziska,
ich freue mich über deinen Besuch und deinen Kommentar! Herzlich Willkommen auf meinem Blog! 🙂 Für mich war “Absolution” ein interessantes Leseerlebnis, aber auch ein nicht leicht zu lesendes Buch. Ich weiß nicht genau, warum ich mich so schwer getan habe mit der Lektüre – die Grundideen und die Figuren fand ich eigentlich sehr interessant. Ich wünsche dir auf jeden Fall noch viel Lesevergnügen und danke dir für den Hinweis auf Coetzee, den ich aber bereits für mich entdeckt habe! 🙂
Liebe Grüße
Mara