“Dieses schmale Büchlein ist für mich ein kleiner literarischer Schatz.”
Für die Ausgabe des BÜCHER Magazins, die in diesem Dezember erschien, habe ich bereits eine Besprechung geschrieben zu Erich Hackls Erinnerungsbuch “Dieses Buch gehört meiner Mutter”. Damals habe ich gemerkt, wie schwer es mir fällt, mich zu beschränken: mir standen für meine Kurzrezension 1000 Zeichen zur Verfügung, wenn man von einem Buch berührt und bewegt wird, sind 1000 Zeichen viel zu wenig. Wie soll ich denn bloß in 1000 Zeichen meine Begeisterung ausdrücken? Das scheint eine Kunst zu seien, die ich noch nicht beherrsche – deshalb freue ich mich darüber, euch das Buch auf meinem Blog in gewohnter Ausführlichkeit präsentieren zu können.
Erich Hackl wurde 1954 in Steyr geboren. Nach einem Studium der Germanistik und Hispanistik, arbeitete Hackl einige Jahre lang als Lehrer und Lektor. Später gab er seinen Brotberuf auf und war fortan als freier Schriftsteller und Übersetzer tätig. Seine Erzählungen wurden bereits in über 25 Sprachen übersetzt und einige seiner Werke sind heutzutage Schullektüre.
“Ich bin nun, nach ihrem Tod, drangegangen, mich der früheren Welt zu versichern, sie mit ihrem Blick und in ihren Worten wahrzunehmen, und deshalb gehört dieses Buch meiner Mutter.”
Die erste Seite des Buchs, die allererste, bevor es überhaupt richtig los geht, ziert ein Zitat von Edgardo Cozarinsky: “Geschichten werden nicht erfunden. Sie werden vererbt.” Man hätte dem Buch kein besseres Zitat voranstellen können, als dieses hier. Erich Hackl erfindet nicht, er erzählt die Geschichten, die ihm seine Mutter ein Leben lang erzählt hat. “Dieses Buch gehört meiner Mutter” ist eine Lebensgeschichte, gelebte Geschichte. Erich Hackl erzählt von der Welt ihrer Kindheit und Jugend. Als ich beginne, das Buch zu lesen, bin ich im ersten Augenblick überrascht: rechts und links auf der Blattseite befindet sich viel weiße Leere. Erich Hackl hat die Geschichte seiner Mutter nicht unbedingt in Verse gegossen, aber er hat die Erinnerungen so notiert, dass die Reichhaltigkeit der Sprache, neben dem Schweigen und der lastenden Stille existiert.
“Wer bis dreißig zählen konnte, / hatte das ganze Dorf erfaßt: / zwei Dutzend Höfe und Häusl, / zwei Wirtshäuser, / eine Schmiede, / eine Kapelle, / ein Feuerwehrhaus.”
Die Welt, die Erich Hackl beschreibt, liegt im Unteren Mühlviertel, einer nördlich der Donau und nahe der tschechischen Grenze gelegenen Hügellandschaft. Es ist eine Welt, von der seine Mutter ihm immer wieder erzählt hat. Nicht nur von ihrem eigenen Leben, das sie in Armut und Kargheit verbracht hat, sondern auch von dem Leben vor ihrem Leben, von dem sie selbst nur durch Erzählungen erfahren hatte. Die Mutter wächst in einfachen Verhältnissen heran, auch wenn ihre Familie die einzige ist, die einen Kirschbaum in der Mulde neben dem Haus stehen hat. Und doch sind die Erinnerungen nicht nur von Trauer geprägt, sondern auch von viel Heiterkeit und Frohsinn. Den Verhältnissen, in die die Mutter hineingeboren wird, wird der Wunsch entgegengesetzt, sich bald möglichst darauf zu befreien. Man hat es nicht schwer, man kann nur versuchen, es besser zu haben.
“Eine kleine Semmel kostete fünf Groschen. / Eine Rippe Schokolade zehn Groschen. […] / Ich hatte es gut: meine Mutter gab mir jeden Tag / eine halbe Semmel mit in die Schule.”
In wenigen Worten und klarer Sprache beschwört Hackl eine Welt heraus, die längst vergessen erscheint. Es ist eine Welt der Mühsal, die jedoch nicht vom Unglück beherrscht wird. Doch eines fehlt ganz eklatant: es sind die Emotionen, es sind Gefühle. Man nimmt hin, was das Leben bringt, aber über allem steht die Weigerung sich näher damit zu beschäftigen. Es ist die Liebe, die fehlt. Oder fehlt vielleicht bei all der Arbeit, die zu tun ist, weniger die Liebe, als die Zeit, sich damit beschäftigen zu können? Die Mutter der Mutter liest viel, “im Stehen wie im Sitzen”, und zwar alles, was sie in die Hände kriegen kann. Für den Vater dagegen geht eine Gefahr von den Buchstaben aus, die er nicht verstehen kann: was hätte Wissen schon helfen können?
“Im gedruckten Papier wittere er Gefahr, / im Lesen überschüssige Kraft, die verpuffte.”
Hackl übernimmt in den Erinnerungen der Mutter, deren Haltung. Er hinterfragt nicht, er analysiert nicht, er verschwendet kaum Worte an Gefühle. Er ist ein Chronist, der festhält. Er hält die damalige Welt fest, dessen größtes Unglück war, wenn der Hof abbrannte, oder jemand sein ganzes Geld verspielte oder versoff. Das größt mögliche Glück war es für eine Frau, ledig schwanger zu werden. Aus den Augen unserer heutigen Welt, ist die Welt der Mutter beängstigend eng und beinahe ohne Fluchtmöglichkeiten. Möglichkeiten, die Frauen heutzutage haben, ihr Leben zu gestalten, waren damals völlig undenkbar. Der Weg der Frauen war vorgeschrieben, Abweichungen davon nicht vorgesehen.
“Sie ließen sie nichts lernen, / sie ließen sie nichts wagen, / sie ließen sie nicht fort, / außer zum Einheiraten / auf einen anderen Hof, / außer als Dienstmagd / auf einen größeren Hof, / außer als Stubenmädchen / in die Stadt hin und wieder / und das war dann: / Abstieg wie Befreiung.”
Mit fünfundzwanig Jahren erhält die Mutter die Möglichkeit zur Flucht und sie nützt diese; sie verlässt die dörfliche Enge, ohne lange nachzudenken. Das Dorf konnte sie verlassen, doch die Geschichten und die Erinnerungen an die Vergangenheit hat sie ein Leben lang mit sich herum getragen – selten haben sie ihr Trost gespendet.
“Wäre ich eine andere geworden in der Fremde, / wäre mir die Fremde Heimat geworden. /Das hätte mich schon gereizt: mir gegenüberzutreten als die andere.”
Erich Hackl legt mit “Dieses Buch gehört meiner Mutter” eines der stillsten und unaufgeregtesten Bücher dieses Literaturherbstes vor und doch nisten die Erinnerungen, von denen er erzählt, sich direkt im Herzen ein. Er hat nicht nur seiner Mutter ein literarisches Denkmal gesetzt, sondern auch eine mutige und starke Frau porträtiert. “Dieses schmale Büchlein ist für mich ein kleiner literarischer Schatz.” Manchmal braucht es auch einfach nicht sehr viel mehr Zeichen und Worte.
10 Comments
jancak
December 22, 2013 at 9:08 pmFinde ich toll, daß das Buch so gut gefallen hat, ich war ja vor kurzem bei der http://literaturgefluester.wordpress.com/2013/12/10/erich-hackls-neues-buch/ und war auch ein bißchen beeindruckt, hat Erich Hackl ja seine eigene wahrscheinlich unverwechselbare Schreibweise und ist damit auch eine sehr erfolgreiche Stimme im österreichisch, deutschen und verlagsbedingt wahrscheinlich auch schweizer Literaturbetrieb
buzzaldrinsblog
December 26, 2013 at 1:49 pmLiebe Eva,
für mich war dies die erste Begegnung mit Erich Hackl, die mich aber in der Tat sehr tief beeindruckt hat. Es wird wohl nicht das letzte Buch gewesen sein, das ich von ihm gelesen habe. Er hat eine ganz eigene – wie du schreibst: unverwechselbare – Stimme und ich freue mich, diese auch in seinen anderen Büchern wiederzufinden.
Liebe Grüße
Mara
Eva Jancak
December 26, 2013 at 7:33 pm“Abschied von Sidonie”, das Buch mit dem er wahrscheinlich bekannt geworden ist, ist sehr zu empfehlen, das wird bei uns glaube ich auch in den Gymnasien durchgenommen.
buzzaldrinsblog
December 28, 2013 at 11:42 amDanke für die Empfehlung – habe ich mir gleich notiert! 🙂
mickzwo
December 23, 2013 at 3:30 pmEs ist immer erstaunlich, Deine Rezensionen zu lesen. Jeder wie er es kann und jeder wie er es mag. Ich wünsche Dir auch im neuen Jahr viele Leseerlebnisse. Auf die Berichte darüber freue ich mich schon.
mick.
buzzaldrinsblog
December 26, 2013 at 1:45 pmLieber mick,
danke für deine lieben Wünsche – mir ist einfach aufgefallen, dass es mir deutlich leichter fällt, ausführliche Besprechungen zu schreiben, als mich kurz zu fassen. Ich glaube, dass es auch ein Talent ist, in kurzen Worten auszudrücken, was einen begeistert hat – vielleicht lerne ich das noch irgendwann.
Liebe Grüße
Mara
Susanne Haun
December 25, 2013 at 6:57 amIch habe einige Bücher von Erich Hackl in meinem Regal. Dieses noch nicht… aber ich werde es auf jeden Fall auf meine Liste setzen…
buzzaldrinsblog
December 26, 2013 at 1:40 pmFür mich war es die erste Lektüre von Erich Hackl, aber sicherlich nicht die letzte. Ich mag seinen leisen Erzählton, der aber umso tiefer nachwirkt. Hast du noch eine spezielle Empfehlung von ihm? 🙂
Susanne Haun
December 26, 2013 at 6:03 pmAbschied von Sindoni und Sara und Simon mochte ich auch gerne.
Bücher, die nachdenklich machen.
buzzaldrinsblog
December 28, 2013 at 11:42 amDanke für die Empfehlung, beide Bücher habe ich mir notiert – ich freue mich schon auf die Lektüre! 🙂