Nicola Karlsson wurde 1974 geboren und wuchs in West Berlin auf. Sie studierte Modedesign und lebt heutzutage gemeinsam mit ihren beiden Töchtern in Berlin. “Tessa” ist ihr Debütroman.
“Der weite Himmel. Sie fühlt sich klein, unbedeutend. Der Himmel sieht weit weg aus. Die dunklen Vögel formieren sich um. Einer der Vögel kriegt es nicht hin und fällt zurück. Hektisch flattern seine Flügel, aber er bleibt im Abseits.”
Von der ersten Seite an wird der Leser rücksichtslos in das Leben von Tessa gestoßen. Tessa ist achtundzwanzig Jahre jung, schön und begehrenswert. Sie hat einen Freund, viele Freundinnen und einige gute Bekannte. Sie hat gemodelt, Werbung gemacht und gutes Geld verdient. Doch glücklich? Glücklich ist sie nicht. Tessa sehnt sich fortlaufend nach Bestätigung und Aufmerksamkeit. Tessa möchte gesehen und wahrgenommen werden. Ihre Beziehung zu Nick zerbricht an ihren Forderungen, an ihrem Drang nach Beachtung, an ihrer krankhaften Eifersucht, an einem hysterischen Verfolgungswahn und dem Gefühl, nicht genug geliebt zu werden. Die Bedürftigkeit, dieses Bedürfnis nach Liebe, ist etwas, das Tessa nicht zeigen kann. Es ist etwas, über das sie nicht sprechen kann, von dem sie aber wünscht, dass es gesehen wird. Nick versteht sie nicht und um ihren Wunsch nach Liebe zu erkennen, ist er zu blind.
“Aber es macht mich müde, dir dabei zuzusehen, wie du dich kaputt machst. Diese ewige Suche nach dem Drama. Ich kann das nicht mehr. Ich habe da keine Lust mehr drauf.”
Das Einzige, was Tessa dabei hilft, der Verständnislosigkeit der Welt und ihrer Mitmenschen zu begegnen, ist Alkohol. Wodka, Bier – egal was, Hauptsache, es betäubt Tessas Angst und Bedürftigkeit. Hauptsache es betäubt so stark, dass Tessa nichts mehr spüren muss. Wenn der Alkohol nicht reicht, greift sie auch zu härteren Drogen: sie nimmt Tabletten und schnupft Kokain. Wenn das Geld ausgeht, findet sich ein Mann, der Tessa Nachschub besorgt – sie besorgt sich Stoff und Nähe, doch beides wird immer schneller schal. Fühlt sich falsch an.
“Immer ist sie allein. Ihr Herz zieht sich zusammen, und ihre Brust fängt an zu schmerzen. Sie schnieft und muss wieder anfangen zu heulen, weil sie so unendlich traurig ist. Es soll alles wieder schön werden.”
Als sie und Nick entscheiden, eine Pause zu machen, wird immer deutlicher, dass von dem alten Glanz nichts mehr übrig ist in Tessas Leben. Die großen Werbeverträge sind längst ausgelaufen, nur ab und an sieht sie sich selbst noch im Kino – bevor der Film beginnt. Es ist fürchterlich, den Verfall Tessas mitzuerleben, der sich förmlich in Lichtgeschwindigkeit vollzieht – in Momenten, in denen sie sich angeekelt von Pennern in der Straßenbahn abwendet, schreit es in meinem Kopf bereits: Du bist doch genauso, Tessa! Sie bestiehlt Freunde, um Alkohol zu kaufen, auch wenn sie sich selbst schwört, das Geld wieder zurückzulegen. Womit soll sie überhaupt Geld verdienen? Von ihrer Modellagentur wurde sie schon lange nicht mehr angefragt und für ihren aktuellen Job hat sie auch schon ewig keinen Finger mehr gerührt. Genauso fürchterlich wie Tessas eigener Absturz, ist das Weggucken der Gesellschaft, in der sie sich bewegt: die Psychiaterin stellt, ohne Nachfragen, weitere Rezepte aus für Tabletten, die Tessa schon lange nicht mehr nimmt, um gesund zu werden. Der Sanitäter nimmt Tessa, trotz eines Selbstmordversuchs, nicht mit ins Krankenhaus. Ihre beste Freundin wendet sich ab, bietet aber keine Hilfe an. Niemand stellt Fragen, oder nimmt sich die Zeit zuzuhören. Tessa schreit, nein, sie verzehrt sich förmlich nach Aufmerksamkeit, doch niemand um sie herum möchte hinsehen. Unsere Gesellschaft hat kein Sicherheitsnetz für diejenigen, die ins Abseits geraten.
“Der Mann hat ihr schlechte Laune gemacht, sein abschätziger Blick, als sei sie eine Alkoholikerin.”
Tessas Leben ist ein Balanceakt, eine Gratwanderung – immer wieder droht sie vom Seil zu kippen und immer häufiger fällt sie. Die Abstürze werden von Mal zu Mal tiefer, bodenloser. Niemand ist da, um ihr zu helfen. Alle, die mal da waren, hat sie weggestoßen. Die letzten Seiten des Romans schneiden beim Lesen ins Fleisch, wie eine scharfe Rasierklinge. Ich habe sie gelesen, die letzten Seiten des Romans, immer wieder. In meinem Hals haben sie sich zu einem sperrigen Knoten zusammengeschnürt, den ich nur unter Schmerzen herunterschlucken konnte. Das Ende des Romans ist weit entfernt von einem dieser klassischen Happy Ends im Film. Genauso leer wie Tessas Vergangenheit, über die man nichts erfährt, erscheint auch die Zukunft – sie bleibt dem Leser verborgen und ich kann nur hoffen, dass es Tessa gelingt, etwas im Leben zu finden, was sie immer öfter auf dem Drahtseil halten wird.
Nicola Karlsson hat mit Tessa eine schwierige Figur geschaffen – ich habe mich dabei ertappt, wie ich mit Tessa sympathisiert habe und mich doch gleichzeitig von ihrem Selbstmitleid und dem künstlich von ihr erschaffenem Drama abgestoßen gefühlt habe. Es ist nicht leicht, Tessa zu mögen und doch ist es schwer, sie nicht zu mögen. Zu viel von einem selbst kann man in Bruchstücken ihres Charakters wiederentdecken. “Tessa” ist ein erschreckend authentisches Buch, was die Frage aufwirft, wie viel von Nicola Karlsson in ihrer Hauptfigur steckt – eine Frage, die ich nicht zu beantworten mag. Wieviel es auch sein mag: Nicola Karlsson hat uns mit “Tessa” ein schonungslos ehrliches, radikal offenes und erschreckendes Buch geschenkt. Ich glaube, dass es in unserer Gesellschaft viel zu viele Tessas gibt und ich hoffe, dass dieses Buch Aufmerksamkeit und Achtsamkeit schaffen wird, um solche Menschen nicht haltlos abstürzen zu lassen, sondern sie irgendwie aufzufangen.

9 Comments
literaturen
December 28, 2013 at 11:37 amIch finde es ja bei solchen Romanen immer schade, wenn der Kontext fehlt. Wenn da nur das Drama ist, ohne zu beleuchten, woher es kommt. Meistens haben solche Abstürze ja Hintergründe, wenn es von außen auch so aussieht, als ob sie aus dem Moment entspringen. Nur Drama um des Dramas willen finde ich ja eher unsympathisch – wie du schon andeutest.
buzzaldrinsblog
December 29, 2013 at 1:23 pmLiebe Sophie,
interessanterweise habe ich beim Lesen des Buches etwas ganz ähnliches gedacht, wie du – ich habe gedacht, dass Gründe für Tessas Verhalten fehlen, dass der Kontext fehlt. Ich befürchte jedoch, dass das etwas zu einfach gedacht ist. Es gibt sicherlich Auslöser für solche Abstürze, aber häufig sind diese sehr komplex und schwer zu durchschauen. Wenn jemand in seiner Kindheit geschlagen wurde oder eine Vergewaltigung erlebt hat, bedeutet das nicht, dass derjenige zum Alkoholiker wird. Ich befürchte, für Tessas Absturz gibt es nicht so etwas wie eine “Erklärung” oder gar einen nachvollziehbaren Grund – vielleicht ist es genau diese Tatsache, die den Roman so eindrücklich macht.
Liebe Grüße
Mara
literaturen
December 29, 2013 at 1:29 pmMeine Skepsis liegt vielleicht auch in der Tatsache begründet, dass ich viele Menschen kenne, die ihr Leid um seiner selbst willen hegen und pflegen. Ohne, dass die konkrete Ansätze finden wollten, es zu beseitigen. Denn Leiden und Schmerz haben ja immer etwas Mystisches, insbesondere dann,wenn sie möglichst unkonkret sind und sich gegen das Leben im Allgemeinen richten. Ich würde auch keine Schema-F Erklärung erwarten, denn wie du schon richtig sagst, gibt es nicht die eine Erklärung oder den einen Lebenslauf, der zwangslogisch aus dieser und jener Biographie folgen muss. Aber es gibt immer Entwicklungen, die sich ergeben. Vielleicht nicht aus einem einzelnen Ereignis, manchmal womöglich auch mehr aus einer Stimmung heraus, mit der man aufgewachsen ist. Ich kann die konkrete Umsetzung im Roman jetzt natürlich nicht beurteilen, ..aber irgendwie bin ich skeptisch. 😉
Konstantin [derschoeneblog.de]
February 3, 2014 at 5:24 pmIch möchte mich der Skepsis von Literaturen anschließen und ebenso den aus deinem Reply resultierenden Überlegungen – Zustimmung ist ja nicht verkehrt. Schon rückblickend auf mein eigenes Leben bin ich nicht der Meinung das Erlebnis X zu Verhalten Y führt – aber ich finde es in Büchern und Filmen, in Geschichten, gerade spannend zu erfahren welches Ereignis zu welcher Entwicklung führte; dieses Netz an Erlebnissen und Personen ist es, dass mich beim Lesen reizt. Eine möglicherweise authentische Darstellung eines Dramas für sich allein ist mE “zu wenig”. Ich kann es nicht einschätzen, grübele aber aktuell sehr wie ich im Rahmen unserer Abstimmung für die Lesegruppe in Bezug auf “Tessa” stimmen soll. Das Thema reizt mich an sich sehr, die Ausführungen könnten mir zu dünn, zu oberflächlich sein … ich bin hin- und hergerissen.
buzzaldrinsblog
February 5, 2014 at 2:39 pmLieber Konstantin,
ohne zu viel verraten zu wollen, werden im Roman natürlich auch Ereignisse dargestellt, die Tessas Absturz begünstigen – bei anderen Menschen wiederum hätten diese Erigenisse möglicherweise weniger schlimme Folgen gehabt. Es gibt jedoch keine Erklärung nach dem Schema F, die seziert, warum Tessa so geworden ist, wie sie schließlich im Buch beschrieben wird.
Ich kann dich nur ermutigen das Buch zu lesen, ich glaube, es bietet viel Diskussionsstoff für eine Lesegruppe.
Liebe Grüße
Mara
Henni
December 28, 2013 at 11:44 amEine sehr gute Rezension. Ich befürchte, dass ich mir das Buch auch noch einmal genauer anschauen muss, ich hab es kurz angesehen gehabt in der Buchhandlung und wieder ohne weitere Beachtung weg gelegt. Das pack ich direkt mal auf die Wunschliste.
Grüße und einen schönen Tag wünsche ich! 🙂
buzzaldrinsblog
December 29, 2013 at 1:18 pmLieber Henni,
eine sehr gute Entscheidung – dem Buch solltest du in der Tat noch einmal einen zweiten Blick widmen. Es ist keine leichte Lektüre, aber ich habe sie als sehr lohnend und interessant empfunden. Auf deiner Wunschliste steht das Buch auf jeden Fall schon mal genau richtig! 🙂
Liebe Grüße
Mara
Henni
December 29, 2013 at 1:41 pmIch denke, auf deine Meinung kann man sich super verlassen. 🙂
Ein Jahr in Büchern … | buzzaldrins Bücher
December 29, 2013 at 1:04 pm[…] aus “Tigermilch” und was wohl aus ihnen werden wird. Dieselbe Frage stelle ich mir bei Tessa, die mit dem Zuklappen der letzten Seite nicht aus mir verschwunden ist, sondern über die ich […]