Schroders Schweigen – Amity Gaige

“Schroders Schweigen” ist ein gutes Beispiel dafür, welchen Effekt blurbs haben können – ohne das Zitat von Jonathan Franzen, das die Rückseite des Buches ziert, hätte ich es vielleicht gar nicht in die Hand genommen und gelesen. Entgangen wäre mir eine lesenswerte und ungewöhnliche Lektüre Aber von vorn: Amity Gaige wurde 1972 geboren und veröffentlicht mit “Schroders Schweigen” bereits ihren dritten Roman, der gleichzeitig in 14 Ländern erscheint. Übersetzt wurde das Buch von Monika Schmalz, die als freie Übersetzerin in Berlin lebt.

Collage Amity Gaige

“Was folgt, ist ein Bericht darüber, wo Meadow und ich seit unserem Verschwinden gewesen sind.”

Eric Kennedy ist für seine kleine Tochter Meadow ein liebenswerter, wenn auch immer mal wieder etwas exzentrischer, Vater. Nachdem er in Folge der Finanzkrise seine Arbeit als Immobilienmakler verliert, verbringt er ein Jahr als Hausmann zu Hause – Meadow war damals drei Jahre alt und ihr Vater brachte ihr nicht nur bei, wie man lesen lernt, sondern auch einige Brocken Japanisch und die Fähigkeit, die Kraft ihrer Fantasie zu nutzen. Doch das gemeinsame Jahr endet und auch die Ehe mit Meadows Mutter Laura bricht auseinander.

“‘Ich will wissen, wie das passieren konnte. Warum wir so verschieden geworden sind. So gegensätzlich. Wie diese riesige Kluft zwischen uns entstanden ist.’ Mit bittendem Blick sahst du mich an. ‘Waren wir schon immer so? Ich glaube nicht. Ich vermisse den, für den ich dich gehalten hatte.”

Als Meadow sechs ist, hat sie keine Eltern mehr, sondern zwei Parteien, die im Scheidungskrieg liegen. Als Eric Gefahr läuft, das Besuchsrecht für seine geliebte Tochter zu verlieren, verliert er auch die Nerven: was als gemeinsamer Vater-Tochter-Ausflug beginnt, endet in einer waghalsigen Flucht. Die Angst davor, dass ihm seine Tochter entzogen wird, bringt Eric dazu, falsche und sogar gefährliche Entscheidungen zu treffen. Die gemeinsame Flucht endet für Meadow im Krankenhaus und für Eric im Gefängnis. Die Vorwürfe der Polizei beantwortet er mit einem eisernen Schweigen. Statt zu sprechen, fängt Eric an zu schreiben: in einem Brief an Laura schreibt er sich sein Leben und all die dunklen Geheimnisse, die er verbirgt, von der Seele.

“Liebe Laura, wären wir wieder nur zu zweit und säßen spätnachts zusammen am Küchentisch, würde ich diesen Bericht wahrscheinlich einfach nur eine Entschuldigung nennen.”

Eric Kennedy beginnt seinen Bericht wie ein Märchen: es war einmal im Jahre 1984, als er zum ersten Mal einen Bericht aufsetzte, der sein ganzes Leben verändern sollte. Damals gab sich der vierzehnjährige Erik Schroder, gebürtiger Deutscher, als Eric Kennedy aus, um an einem Ferienlager für Jungen in New Hampshire teilnehmen zu können. Erik Schroder hat eine Biographie, die in tausend Teile zersplittert ist. Als Kind ist er gemeinsam mit seinem Vater aus der DDR ausgereist, ihr Ziel war Boston. Es war nicht nur eine Ausreise, sondern eine Flucht des Vaters: die Mutter wurde in der DDR zurückgelassen. Die Gründe dafür hat der Sohn nie erfahren. Als Kind in einem fremden Land hatte Erik Schroder es nicht leicht, von den anderen Kindern wurde er entweder gehänselt oder ignoriert. Das Ferienlager war für ihn eine Chance aus dem Leben eines eingewanderten Ausländers auszubrechen und eine neue Identität anzunehmen. Aus Erik Schroder wurde Eric Kennedy.

“Warum kauften sie mir mein Märchen ab? Weiß der Geier. Ich kann nur sagen, es war 1984. Man konnte seine Sozialversicherungsnummer per Post beantragen. Datenbanken existierten nicht. Man musste reich sein, um eine Kreditkarte zu kriegen. Man bewahrte sein Testament im Banksafe auf und packte sein Geld zu einem dicken Bündel. Der Mensch war noch nicht gläsern. So etwas wollte niemand.”

Doch das, was zunächst lediglich die Erfindung eines Jugendlichen gewesen ist, wird zunehmend zu einer neuen Identität. Eric Kennedy geht nach der Schule ans Mune College in Troy – unter seinem neuen Namen. Stück für Stück, baut er seine neue Identität aus und erfindet eine Vergangenheit, die zu der neuen Gegenwart passt. Eine Vergangenheit, in der er über hundert Ecken mit den berühmten Kennedys verwandt ist und in Cape Cod aufgewachsen ist. Eric Kennedy erschafft sich ein Lügengebilde, in dem die Lüge wie eine neue Realität erscheint. Auch als er Laura kennen lernt, sich in sie verliebt und beide heiraten, ergreift er an keiner Stelle die Chance, aufzuklären, wer er wirklich ist.

“Ich bin nicht der, der ich zu sein behaupte, hätte ich fast gesagt. Als ich fünf war, verließ ich an der Hand meines Vaters ohne Hab und Gut (hätte ich fast gesagt) die DDR. Meine beschissene Pubertät verbrachte ich in einem Einwandererghetto in Dorchester, Massachusetts. Und das ist erst der Anfang (hätte ich fast gesagt).”

Collage Amity Gaige 1

Amity Gaige legt mit “Schroders Schweigen” einen ungewöhnlichen Roman vor. Ungewöhnlich ist zunächst einmal die Form, denn der ganze Roman ist wie ein Berich aufgebaut. An vielen Stellen sind erklärende Fußnoten oder Verweise eingefügt. Es ist diese Form, die gleichzeitig zu einem ungewöhnlichen Lektüreerlebnis führt, denn als Leser erfährt man parallel die Hintergründe der Lebensgeschichte von Erik Schroder, die von Flucht, Lügen und Schweigen geprägt ist und erlebt die Flucht von Eric Kennedy und seiner Tochter Meadow. Dadurch entsteht ein interessanter Effekt: als Leser beginnt man für diesen Lügner, Hochstapler und Kindesentführer, der sein Leben auf einer erfundenen Vergangenheit errichtet hat und nun in den Trümmern davon sitzt, Verständnis oder gar Mitgefühl zu entwickeln. Vielleicht ist das die ganz große Kunst von Amity Gaige: sie macht Erik Schroder nicht nur zu einem Verbrecher, sondern stellt ihn auch als Menschen dar, in all seiner Exzentrik und Absonderlichkeit.

“Schroders Schweigen” ist ein facettenreicher Roman über Väter und Kinder, über Lügen und Erfindungen, über Phantasie und Realität und darüber, wie sehr uns die Vergangenheit prägen kann. Amity Gaige gelingt das außergewöhnliche Kunststück, dass mir eine Figur ans Herz gewachsen ist, die ich eigentlich verabscheuen sollte. Das macht “Schroders Schweigen” für mich zu einem lesenswerten Roman.

7 Comments

  • Reply
    wildgans
    January 23, 2014 at 4:52 pm

    Wieder was gelernt: was blurbs sind- komischer Ausdruck, aber hilfreich im Buchhandel!

  • Reply
    Bücherphilosophin
    January 23, 2014 at 7:09 pm

    Auf diesen Roman bin ich mal in einem Artikel des Guardian gestoßen. Seitdem habe ich die Leseprobe auf dem Kindle, aber bisher leider noch nicht angetestet. Das möchte ich nun unbedingt nachholen. Danke, dass Du mich via Deiner Rezi darauf aufmerksam gemacht hast, was für Schätze sich in meinen virtuellen Regalen verbergen.

    LG, Katarina 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 25, 2014 at 11:45 am

      Liebe Katarina,

      vielleicht findest du ja mal Zeit in die Leseprobe reinzulinsen – ich würde mich freuen, wie deine Meinung zu diesem Roman ausfällt. Ich fand ihn auf jeden sehr ungewöhnlich; Amity Gaige beherrscht die hohe Kunst des Erzählens. Ich freue mich schon auf weitere Bücher von ihr.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    julesiswriting
    January 24, 2014 at 6:30 am

    Vielen Dank für diesen Bericht, den ich nur als Empfehlung bezeichnen kann 😉 Ist soeben auf dem Wunschzettel gelandet, ebenso bin ich gespannt auf Deine nächste Kritik: Das Haus aus Erde spricht mich allein vom Cover extrem an…Regnerische Grüße, Julia

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      January 25, 2014 at 11:44 am

      Liebe Julia,

      freut mich, dass ich dich neugierig machen konnte! 🙂 Die Rezension zu “Haus aus Erde” ist gerade eben online gegangen – ein großartiger Roman, durch den ich gleich auch noch einen mir bisher unbekannten Musiker entdeckt habe. Klasse!

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    (Die Sonntagsleserin) KW #04 – Januar 2014 | Bücherphilosophin.
    January 26, 2014 at 7:03 am

    […] Franzen hat es empfohlen und Buzzaldrins Bücher hat es gelesen, Amity Gaiges “Schroders Schweigen”. Ein Buch, das mit den Sympathien […]

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