Ein Teelöffel Land und Meer – Dina Nayeri

Dina Nayeri wurde während der Islamischen Revolution im Iran geboren – mit zehn Jahren emigrierten ihre Eltern gemeinsam mit ihr nach Oklahoma. In Amerika besuchte sie die Universitäten Harvard und Princeton. Ihr Debütroman “Ein Teelöffel land und Meer” wurde bereits in dreizehn Sprachen übersetzt und als Barnes and Nobel Discover Great New Writers book ausgewählt. Ins Deutsche übertragen wurde das Buch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Collage Teelöffel

“Wenn ein Mensch zu alt für Geschichten wird, kann er sich gleich begraben lassen. Mit Geschichtenerzählen finden wir zu den Menschen zurück, die weit weg von uns sind.”

Saba Hafezi ist elf Jahre, als sich ihr Leben verändert. Von einem Tag auf den anderen ist ihr altes Leben vorbei, wie ein Pullover aus dem man herausgewachsen ist und das neue Leben kneift und will einfach nicht richtig sitzen. Als Saba elf Jahre alt ist, verschwindet nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihre geliebte Zwillingsschwester Mahtab. Schon wenige Monate zuvor, war ihr Leben einer einschneidenden Veränderung unterworfen: als gläubige Christen sind ihre Eltern dazu gezwungen, beim Ausbruch der Islamischen Revolution, Teheran zu verlassen und sich mit ihren Töchtern in dem Dorf Cheshmeh niederzulassen, wo sie Ländereien besitzen.

“Das Folgende ist alles, was Saba Hafezi von dem Tag in Erinnerung hat, an dem ihre Mutter und ihre Zwillingsschwester für immer fortflogen, vielleicht nach Amerika, vielleicht in ein noch ferneres, noch unerreichbareres Land. Wenn man sie bitten würde, zu erzählen, woran sie sich erinnert, würde sie die vielen Teile aus einem Wust von Erinnerungen zusammenstückeln, zwei laue Tage in Gilan, die irgendwo in ihrem elften Sommer schwebten.”

Das Verschwinden von Mutter und Zwillingsschwester ist mysteriös, als würde ein Schleier darüber liegen – dunkel und schwer. Sind sie nach Amerika geflohen und haben Saba und ihren Vater zurückgelassen? Oder sind beide ums Leben gekommen? Auf welche Art und Weise? Sicher ist: sie sind spurlos verschwunden. Sabas Vater und die uralten Dorfbewohner weigern sich, über das Verschwinden zu sprechen. Vielleicht sprechen sie auch darüber, doch Saba möchte nicht zuhören, sondern lieber an ihre eigenen Erinnerungen glauben. Die Wahrheit ist verschwommen, falls es überhaupt so etwas wie eine richtige Wahrheit gibt.

“Der Faden, der Schwestern auf der ganzen Welt zusammenhält, ist zerrissen und es gibt keine Symmetrie mehr zwischen uns.”

Mahtab soll bei einem Badeunfall der Zwillinge im Kaspischen Meer ertrunken sein, die Mutter sei beim Versuch das Land zu verlassen verhaftet worden. Doch an diese Wahrheit zu glauben, ist mehr, als Saba ertragen kann. Sie glaubt stattdessen daran, dass ihre Mutter und Mahtab nach Amerika geflohen sind. Sie hält sich an ihren Geschichten über das amerikanische Leben, das beide nun führen, fest, wie an einer Planke. Sie liebt amerikanische Filme und Musik, taucht ab in diese Welt, in der sie glaubt, ihre Mutter und ihren verlorenen Zwilling finden zu können. Es ist eine Phantasie, doch es ist eine tröstliche und heilsame Phantasie.

“All diese Bilder sind mit einer diesigen Schicht Unsicherheit überzogen, mit der sie sich mittlerweile abgefunden hat. Die Erinnerung ist trügerisch. Doch ein Bild ist klar und sicher, und nichts und niemand wird sie je vom Gegenteil überzeugen. Nämlich dieses: ihre Mutter […] wie sie in ein Flugzeug nach Amerika steigt und Mathab an der Hand hält, die glückliche Zwillingsschwester.”

Sabas Vater erschafft seiner Tochter ein Leben aus drei Ersatzmüttern, die jedoch nicht in der Lage sind, das zu ersetzten, was verloren gegangen ist. Alle drei kommen im Roman abwechselnd zu Wort, geben der Geschichte eine weitere Perspektive, in dem sie auf vieles aus einem ganz anderen Blickwinkel schauen, als Saba das tut. Das, was ihr verloren gegangen ist, können auch ihre Freunde – Reza und Ponneh nicht ersetzen. Doch Saba hat ihre Geschichten, ihre Phantasie, ihre amerikanische Vorstellungswelt – zusammengesetzt aus dem, was sie in Filmen gesehen hat. Als Saba erwachsen wird, muss sie jedoch schmerzhaft erfahren, dass eine solche Phantasiewelt einen nicht für immer vor der Wahrheit schützen kann. Saba macht sich auf die Suche nach Antworten auf die einzige wichtige Frage in ihrem Leben: was ist Wahrheit und was ist Lüge?

“Vielleicht gibt es keinen Körper, weil Mahtab nie existiert hat. Vielleicht war sie nur Sabas eigenes Bild im Spiegel. Ist sie jetzt dort gefangen? Kann Saba das Glas mit der Faust zerschlagen und Mahtab herausziehen?”

Collage Teelöffel 2

Dina Nayeri erzählt eine Geschichte, die einen Zeitrahmen von zwanzig Jahren umfasst – vom Sommer 1981 bis zum Herbst 2001. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Saba erzählt, aber auch ihre Ersatzmütter kommen zu Wort. Ich habe Saba als junges Mädchen kennengelernt und sie in das Leben einer erwachsenen Frau begleitet. Ich habe mit Saba gelitten, mit ihr, die sich diesem fürchterlichen Verlust in ihrem Leben einfach nicht stellen kann. Weder Erklärungen hat, noch Gewissheit oder Frieden findet. Eine Phantasiewelt kann einen nicht über ein ganzes Leben hinweg trösten. Ich habe mit ihr gelitten, wenn sie dazu gezwungen gewesen ist, Entscheidungen zu treffen – in einer Welt, die hauptsächlich von Männern dominiert wird. Saba kämpft darum, in diesem schwierigen Land, in dem sie leben muss, eine Position zu finden: entscheidet sie sich für die Freiheit oder für die Anpassung?

“An all das erinnere ich mich jetzt, wo die Entfernung zwischen ihnen nicht mehr von kleinen Fingern gemessen wird oder von schwatzhaften Mündern an lauschenden Ohren, sondern von unendlich viel Land und Meer. Nach dem großen Verlust ihrer halben Familie hat Saba mich mal gefragt: Wie oft müsste ich mit dem Teelöffel schaufeln, um den ganzen Weg von hier nach dort zu kommen?”

“Ein Teelöffel Land und Meer” ist hochpoetisch und beschert einem ein Leseerlebnis, das man mit Haut und Haaren genießen kann. Ein Leseerlebnis, das man schmecken, riechen und fühlen kann. Die fremdländischen Eindrücke aus dem Iran werden so lebensnah wiedergegeben, dass man sich schon fast nach Teheran versetzt fühlt. Ich habe nicht nur eine bezaubernde Geschichte gelesen, sondern bin mithilfe von Dina Nayeri in ein mir unbekanntes Land gereist: ich habe Begriffe kennengelernt wie Tschador, Hidschab, maast-mali und Joghurtgeld und etwas über die schwierige politische Situation in diesem zerrissenen Land erfahren.

Dina Nayeri legt mit “Ein Teelöffel Land und Meer” ein wunderbares Buch vor: es ist traurig, berührend, voller Wärme und Zärtlichkeit, aber auch angefüllt mit einer dunklen Bösartigkeit. Es ist ein Buch darüber, dass man auch schlimme Dinge überleben kann, wenn man sich Geschichten erzählt. Es ist ein Buch über Phantasie und Wirklichkeit und wie wichtig es ist, sich der Realität zu stellen. Und es ist ein Buch über Träume. Ja, “Ein Teelöffel Land und Meer” erzählt eine Geschichte davon, dass wir nie vergessen sollten, uns unsere Träume zu erfüllen …

Dina Nayeri: Ein Teelöffel Land und Meer. Roman. mare verlag. Hamburg 2013. 528 Seiten, € 22,00.

 

9 Comments

  • Reply
    Ariana
    January 31, 2014 at 3:14 pm

    Hach, wieder mal eine Rezension vor dir, die mich sehr anspricht … Und schon ist das Buch auf die “Mal lesen”-Liste gewandert. Gut, dass ich gerade nur Bücher aus dem eigenen Regal lese, sonst würde ich es mir demnächst bestimmt aus der Bibliothek holen und den SuB wieder völlig vernachlässigen. 😉

    Und dann hast du auch noch “Fast Car” von Tracy Chapman mit dazu verlinkt! Da fällt mir ein, dass ich die CD schon lang nicht mehr eingelegt habe. Warum eigentlich? Muss ich gleich ändern … Danke auch für diese Anregung!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 1, 2014 at 9:12 am

      Liebe Ariana,

      schön, dass ich dich auf dieses ganz besondere Buch neugierig machen konnte, vielleicht wandert es ja auf irgendeinem Wege bald zu dir ins Regal. 🙂

      “Fast car” habe ich übrigens verlinkt, weil das Lied eine wichtige Rolle spielt im Roman, es ist quasi die Lebenshymne von Saba und gleichzeitig ein wunderbarer Soundtrack zur Geschichte.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Eva Jancak
    January 31, 2014 at 6:04 pm

    Das soll ein tolles Buch sein, habe ich gehört, bzw. wurde es bei der Literatur im Herbst kurz vorgestellt. Mal sehen ob es mal zu mir kommt

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 1, 2014 at 9:13 am

      Oh ja, es ist DEFINITIV toll und wenn es auf irgendwelchen Wegen zu dir kommt, solltest du es unbedingt lesen. 😀

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    February 1, 2014 at 1:20 pm

    Liebe Mara,
    danke für die schöne Rezension, die mal wieder Ales auf den Punkt bringt. Ich habe das Buch letztes Jahr gelesen und es war sicher eines meiner Highlights. Ein hochpoetisches, trauriges, melancholisches, in seiner unterschwellig mitlaufenden Aussagen über den postrevolutionären Iran aber auch hochpolitisches Buch.
    Liebe Grüße, Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      February 2, 2014 at 8:44 am

      Lieber Kai,

      danke für deine Worte zum Roman, in denen ich mich wiederfinde. Ich hatte das Buch schon lange im Regal stehen, habe es aber irgendwie nie in die Hand genommen – warum nur? Es ist wirklich wunderbar. Das Jahr ist noch jung, aber für mich ist dieses Buch ein eindeutiges Lese-Highlight gewesen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    SuB am Samstag #8 | Frau Hauptsachebunt
    February 22, 2014 at 3:31 pm

    […] und vor kurzem hat die liebe Mara von buzzaldrins Bücher genau dieses Buch rezensiert. Die Rezension solltet ihr unbedingt lesen, dann kauft ihr euch das Buch und wir lesen es gemeinsam. Machen wir […]

  • Reply
    [Rezension] Ein Teelöffel Land und Meer – Dina Nayeri | Lovely Mix
    April 4, 2015 at 8:40 am

    […] Buzzaldrins Bücher […]

  • Reply
    {Indiebookday 2016} Indiebuchtipps | Büchernische
    March 26, 2016 at 6:19 pm

    […] intensiv ans Herz gelegt und warten auf dem Stapel ungelesener Bücher. Sowohl Sophie als auch Mara haben zu Dina Nayeris Titel sehr intensive Besprechungen […]

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