Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren und studierte nach ihrem Schulabschluss Jura. Mit dem Schreiben begann sie nach ihrem Studium und legte 1998 ihren ersten Roman “Amy & Isabelle” vor. 2009 erhielt die Autorin für ihren Roman “Mit Blick aufs Meer” den Pulitzerpreis. “Das Leben, natürlich”, ihr neuester Roman, erschien im vergangenen Literaturherbst und wurde gemeinsam von Sabine Roth und Walter Ahlers übersetzt.
“Und so fing es an. Wie bei einem Fadenspiel, das meine Mutter mit mir verband und mich mit Shirley Falls, reichten wir Erinnerungen, Neuigkeiten und Tratsch über die Burgess-Kinder zwischen uns hin und her. Wir berichteten und wiederholten.”
Shirley Falls ist eine typische amerikanische Kleinstadt: es gibt kaum Arbeit und die jungen Bewohner ziehen aufgrund einer trostlosen wirtschaftlichen Zukunft weg. Zurück bleiben die alten Menschen, die starre und eingefahrene Vorstellungen von der Welt haben und kaum offen für etwas Neues sind. Zu allem Überfluss ist Shirley Falls in den vergangenen Monaten zu einem Aufnahmeort für somalische Flüchtlinge gemacht worden. Die Geschwister Bob, Jim und Susan Burgess sind hier aufgewachsen. In Shirley Falls nennen alle sie nur die Burgess-Geschwister. Doch die einzige von ihnen, die sich dafür entschieden hat, in ihrem Heimatort zu bleiben, ist Susan. Ihr Mann hat schon vor vielen Jahren beschlossen, dass er lieber in Schweden leben möchte, als in einer amerikanischen Kleinstadt. Geblieben sind Susan der gemeinsame Sohn Zach, der mittlerweile neunzehn Jahre alt ist und viele Kindheitserinnerungen.
Zach ist ein seltsamer Junge, Elizabeth Strout zeichnet ihn als Sinnbild eines Außenseiters. Er ist schüchtern, zurückhaltend und packt im Walmart Einkaustüten ein. Eines Tages entscheidet sich Zach dazu, einen halb aufgetauten Schweinekopf in die provisorische Moschee rollen zu lassen. Warum? – Das weiß niemand so genau, wahrscheinlich nicht einmal Zach selbst. Doch das, was auch ein dummer Jungenstreich gewesen sein könnte, wird von den Medien als ein terroristisches Hassverbrechen aufgebauscht. Ein willkommener Skandal, um von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken – das FBI wurde bereits eingeschaltet.
“Unser Neffe Zachary Olson hat einen tiefgefrorenen Schweinekopf durch die Tür einer Moschee geworfen. Zur Gebetszeit. Mitten im Ramadan. Susan sagt, Zach hätte keine Ahnung, was Ramadan ist, was ich ihr unbesehen glaube – Susan wusste es auch nicht, bevor sie es in der Zeitung gelesen hat.”
Susan holt sich ihre beiden Brüder, Bob und Jim, zur Hilfe. Beide arbeiten als Anwälte in New York, doch trotz dieser mutmaßlichen Ähnlichkeit, könnten beide nicht unterschiedlicher sein: Jim ist aalglatt und karrieregeil, gemeinsam mit seiner Frau Helen lebt er in einem herrschaftlichen Anwesen, das nach dem Auszug der drei Kinder jedoch bedrückend still geworden ist. Bob hingegen ist der Prototyp des typischen Losers: die Frau ist weg, aber nicht so ganz, denn sie ist nun seine beste Freundin, er ist ein bisschen dicklich, trinkt gerne einen über den Durst und ein erfolgreicher Anwalt wird er wohl nie so wirklich werden.
Bob und Jims Rückkehr in den Ort, in dem sie aufgewachsen sind, weckt in den beiden Brüdern ganz unterschiedliche Gefühle. Längst vergessene Ereignisse schleichen sich plötzlich zurück in das Gedächtnis, das von Erinnerungen überflutet wird. Die Konfrontation mit der Vergangenheit, setzt gleichzeitig auch neue Maßstäbe für die Gegenwart. Doch Bob und Jim haben nicht viel Zeit für Sentimentalitäten. denn sie müssen gleichzeitig ihren Neffen Zach vor einer Verurteilung bewahren …
“Eine Wehmut blühte in ihm auf, so brennend, dass es ans Lustvolle grenzte: ein Verlangen, ein stummes innerliches Aufseufzen wie im Angesicht unaussprechlicher Schönheit, eine Sehnsucht, den Kopf in den breiten, schlaffen Schoß dieser Stadt zu betten, Shirley Falls.”
“Das Leben, natürlich” ist ein Roman, der mich zunächst ratlos zurückgelassen hat. Elizabeth Strout erzählt eine gut durchdachte Geschichte, sie erzählt in einer einwandfreien Prosa – gut lesbar und fesselnd. Doch im Laufe des Romans hatte ich den Eindruck, dass die Geschichte an den Rändern immer stärker ausfranst. “Das Leben, natürlich” möchte nicht nur Familienroman sein, sondern auch ein kritischer Gesellschaftsepos. Die Geschichte der drei Burgess-Geschwister, deren Lebensläufe und Beziehungsgeflecht unter die Lupe genommen wird, konnte mich begeistern. Wie sich die Brüder von ihrer Herkunft abgewendet haben, um in ein neues Leben zu starten, wird ergreifend geschildert. Ebenso berührend ist ihre Rückkehr in die heimatliche Kleinstadt, als würden sie einen Anzug anziehen, der nicht passt und überall kneift. Doch Elizabeth Strout möchte ihre Erzählung nicht auf der Ebene eines Familienromans belassen, sondern möchte daneben auch die amerikanische Gesellschaft zu Thema machen. Vorherrschend thematisiert sie den Unterschied zwischen Stadt und Land – New York und Shirley Falls wirken wie zwei Welten. Während in der amerikanischen Großstadt der Kontakt zu ausländischen Mitbewohnern selbstverständlich ist, tun sich die Bewohner von Shirley Falls mit der Aufnahme von somalischen Flüchtlingen schwer. Süffisant und mit scharfer Zunge beschreibt Elizabeth Strout die kleinstädtische Enge und Ignoranz (“Solange es nicht zu viele werden …”).
“In einer Welt, in der man von ständigem Unverständnis umgeben war – sie verstanden ihn nicht, er verstand sie nicht -, atmete man die Unsicherheit mit der Luft ein, und das zermürbte etwas in ihm; er hätte nicht mehr genau zu sagen gewusst, was er wollte, was er dachte, nicht einmal, was er fühlte.”
Elizabeth Strout erzählt in ihrem Roman “Das Leben, natürlich” eine Geschichte, die ich als Mosaik empfunden habe. Sie fügt Geschichte an Geschichte, lässt daraus einen Weg entstehen, der immer wieder in neue Richtungen führt – sich mal da und mal dorthin verzweigt, sich durch dichtes Gestrüpp schlängelt und ab und an in einer Sackgasse mündet. Als Leser muss man bereit sein, der Autorin zu folgen, die sprachgewandt und kraftvoll erzählt, doch Gefahr läuft, ihren Roman zu überfrachten.
Elizabeth Strout: Das Leben, natürlich. Roman. Luchterhand Verlag, München 2013. 400 Seiteb, € 19,99.
17 Comments
Birgit
February 3, 2014 at 3:20 pmDeine Besprechung erinnert an meine Eindrücke vom Blick ans Meer – sprachlich wirklich brillant (soweit man das aufgrund der Übersetzungen beurteilen kann), aber hinterher blieb doch so ein Eindruck der Unzufriedenheit (als Leserin) bei mir zurück. Jedenfalls war es nicht so, dass ich das Gefühl hatte, ich muss jetzt mehr von ihr lesen…
buzzaldrinsblog
February 5, 2014 at 2:43 pmLiebe Birgit,
oh, deine Eindrücke dämpfen meine Erwartungen an das Buch, das ich eigentlich unbedingt noch lesen möchte. “Das Leben, natürlich” wird auch toll erzählt, aber leider ist es einfach überfüllt – es gibt so viele Abschweifungen, zu viel Personal, zu viele Handlungsstränge. Der Roman in abgespeckter Form, bspw. als reiner Familienroman, hätte mich wahrscheinlich stärker begeistern können.
Liebe Grüße
Mara
buchstabentraeume
February 3, 2014 at 4:36 pmVon Elizabeth Strout habe ich “Mit Blick aufs Meer” gelesen, vielleicht ist das ja auch etwas für dich, liebe Mara. Wenn ich das Buch richtig in Erinnerung habe, erzählt die Autorin hier vom Leben in einer Kleinstadt. Viele Charaktere kommen vor, es werden viele Episoden und Anekdoten aus dem Leben der Einwohner des kleinen Ortes erzählt. Und doch dreht sich die Handlung eigentlich immer um ein bestimmtes Ehepaar. Den Stil der Autorin empfand ich als recht anspruchsvoll. Bislang habe ich noch kein weiteres Buch von ihr gelesen.
buzzaldrinsblog
February 5, 2014 at 2:41 pm“Mit Blick aufs Meer” kenne ich noch nicht, das Buch wandert aber – trotzdessen, das mir ihr aktueller Roman nicht ganz so gut gefallen hat – auf die Wunschliste. Ich bin überzeugt davon, dass sie gut erzählen kann und würde mich deshalb gerne noch einmal an einem anderen Buch von ihr versuchen. Danke für diesen Hinweis! 😀
buchstabentraeume
February 5, 2014 at 4:22 pmSehr gerne, liebe Mara! 🙂
wildgans
February 3, 2014 at 5:12 pmNein, ich lese diese Besprechung jetzt noch nicht. Habe es mir in meiner Bib vorbestellt und heute abgeholt. Will mir keine Spannung und Lesevorfreude nehmen. Also…
buzzaldrinsblog
February 5, 2014 at 2:40 pmDann freue ich mich einfach schon mal auf deine Eindrücke zu dieser Lektüre! 🙂
buchpost
February 3, 2014 at 6:12 pmDein Eindruck erinnerte mich an meinen Leseeindruck bei ihrem Vorgängerroman, bei dem sie auch immer wieder abschweifte und sich nicht nur auf zwei Hauptpersonen begrenzen mochte. Zwischendurch anrührend, toll geschrieben, aber es ging mir wie Birgit, sodass ich auch nicht dachte, sofort mehr von der Autorin lesen zu müssen. Also, meine Liste atmet auf 🙂 LG und weiterhin alles Gute für die Jobsuche! Anna
buzzaldrinsblog
February 5, 2014 at 2:37 pmLiebe Anna,
die Meinungen zu Elizabeth Strout scheinen ja wirklich gespalten zu sein. Trotz dieses Lektüreerlebnisses möchte ich mich dennoch noch mal an “Mit Blick aufs Meer” versuchen und bin gespannt darauf, wie es mir gefallen wird. An der überbordenden Überfüllung des Romans – sowohl thematisch als auch durch die Figuren – krankt auch ihr neues Buch- Eigentlich wirklich schade, denn erzählen kann sie!
Liebe Grüße
Mara
buechermaniac
February 3, 2014 at 10:43 pmBei Elizabeth Strout enden die Leseeindrücke anscheinend als Berg- und Tal-Fahrt. Fand ich “Mit Blick aufs Meer” grossartig, wusste ich bei “Amy und Isabelle” nicht so recht, was ich vom Buch halten sollte. Der neue Roman scheint nach deiner Beschreibung eher wieder auf der Talfahrt zu sein.
buzzaldrinsblog
February 5, 2014 at 2:35 pmTalfahrt klingt sehr hart, aber im Grund trifft es mein Lektüreerlebnis ganz gut. “Das Leben, natürlich” ist leider etwas überfrachtet. Das Buch würde als Familienroman, ohne die gesellschaftliche Ebene, möglicherweise besser funktionieren. Ich gebe aber noch nicht auf und werde mich auf jeden Fall an “Mit Blick aufs Meer” versuchen. 🙂
Petra
February 6, 2014 at 11:09 amsubt bei mir noch; ich liebe sie ihrem ersten buch; war für mich ein unglaublich leises buch.
🙂
buzzaldrinsblog
February 7, 2014 at 12:11 pmDann bin ich gespannt, wie du die Lektüre empfinden wirst. 🙂
Bücherphilosophin
February 6, 2014 at 11:15 amDas Buch habe ich meiner Mutter zu Weihnachten geschenkt und ihr Eindruck war ähnlich wie Deiner – gut geschrieben, aber manchmal etwas viel auf mal. Viele Geschichten in der Geschichte und schwer nachzuerzählen, wenn man mit jemandem zu tun hat, der es nicht gelesen hat 😉
Ich möchte das Buch auf jeden Fall auch mal lesen. Sobald meine Mutter es ausgelesen hat, bzw. sobald ich wieder mal auf Besuch bin.
LG, Katarina 🙂
buzzaldrinsblog
February 7, 2014 at 12:10 pmLiebe Katarina,
ich finde es interessant, dass sich mein Eindruck mit dem deiner Mutter deckt. Für mich war es in der Tat auch nicht leicht eine Besprechung zu schreiben, da es einfach so viele Handlunsgfäden und – stränge gibt und ein ungeheures Personenensemble.
Liebe Grüße
Mara
Bücherphilosophin
February 7, 2014 at 12:55 pmIch denke, dass sich jeder Leser zunächst an die Struktur gewöhnen muss. Man muss ja auch alle Personen und Handlungsstränge im Kopf erst einmal sortieren.
Ich kann mich erinnern, dass ich meine Mutter fragte, worum es in dem Buch ging – da ich ebenfalls plane es zu lesen – und sie Schwierigkeiten hatte es für mich zusammen zu fassen, bzw. ich mich irgendwann gar nicht mehr zurecht fand.
Mich erinnert das, was ich vom Buch bisher kenne an Joyce Hinnefelds “Wie ein Fremder in der Nacht”, da gibt es auch etliche Handlungsstränge und Figuren, die zu mehreren Generationen einer Familie gehören.
Ist das eigentlich typisch amerikanisch, dieses fast schon etwas Überladene? Fällt Dir spontan ein europäischer Schriftsteller ein, der ähnlich weit ausholt?
Als Leser freue ich mich natürlich eine Geschichte in all ihren Facetten erzählt zu bekommen, aber irgendwann muss sich ein Erzähler auch mal auf das wesentliche beschränken.
Ich bin schon sehr gespannt darauf, welchen Eindruck ich von “Das Leben, natürlich” haben werde.
LG, Katarina 🙂
(Die Sonntagsleserin) KW #06 – Februar 2014 | Bücherphilosophin.
February 9, 2014 at 7:09 am[…] “Das Leben, natürlich” erzählt Elizabeth Strout eine Verästelung von Geschichten, buzzaldrins Bücher ist jeder davon bis zum Ende gefolgt, hat sich jeden Stein des Mosaiks einzeln […]