Räuberhände – Finn-Ole Heinrich

Finn-Ole Heinrich wurde 1982 geboren, er ist Autor und Filmemacher. Er ist in Cuxhaven aufgewachsen und hat in Hannover ein Filmstudium absolviert. Er hat bereits eine Vielzahl an Veröffentlichungen vorzuweisen und wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Finn-Ole Heinrich betreibt eine eigene Homepage, auch zu seinem Roman “Räuberhände” gibt es einen virtuellen Ort im Netz, an dem man viele lesenswerte Zusatzinformationen findet.

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“Und damit hat es angefangen. Manchmal hat Samuel Ideen, die mir völlig fremd sind. Sein Geschenk war eine dieser Ideen. Ich bin nicht allein verantwortlich. Unter normalen Umständen wäre das alles nicht passiert.”

In seinem Debütroman “Räuberhände” erzählt Finn-Ole Heinrich die Geschichte von Janik und Samuel, die eine ungewöhnliche und intensive Freundschaft miteinander verbindet. Beide machen zu Beginn des Romans gerade ihr Abitur, befreundet sind sie seit fast sieben Jahren. Wenn Janik seinen Freund ärgern möchte, nennt er ihn manchmal Adoptivkind, denn Janik und Samuel sind nicht einfach nur Freunde, sondern beinahe schon Brüder, Samuel hat ein eigenes Bett in Janiks Zimmer und es gibt kaum eine Nacht, in der er nicht darin schläft. Während Janik aus einem liberalen Elternhaus kommt, in dem alles scheinbar richtig läuft, es für jedes Problem eine Lösung gibt und jeder über seine Gefühle und Beobachtungen sprechen kann, ist Samuel das Kind einer Alkoholikerin – seinen Vater hat er nie kennengelernt, doch er ist überzeugt davon, dass dieser unbekannte Mann, der angeblich Osman heißen soll, aus der Türkei kommt. Samuel wird von dieser Vorstellung verfolgt, er geht auf in dieser fiktiven türkischen Identität, in die er sich – einem Phantasieland gleich – hineinbegeben kann, die er sich überstülpen kann, als würde es nichts anderes mehr geben.

Es ist der große Traum von Janik und Samuel, nach dem Abitur nach Istanbul zu reisen, dort vielleicht noch einmal neu anzufangen und möglicherweise sogar Samuels Vater zu finden. Doch kurz bevor sie nach Istanbul abreisen, wird durch ein Ereignis alles in Frage gestellt, was sie zuvor verbunden hat. Das Ereignis hat nur wenige Minuten gedauert, einen Wimpernschlag lang, doch es hat eine Wirkung, die einer Bombenexplosion gleichkommt. Es zerfetzt alles um sich herum, nichts ist mehr so, wie zuvor. Janik und Samuel fliegen dennoch nach Istanbul, Janik mit schweren Schuldgefühlen und Samuel mit viel Wut im Bauch. Doch kann das, was sich die beiden einstmals von Istanbul versprochen haben, jetzt überhaupt noch in Erfüllung gehen?

“Er hat kaum noch Haut an den Seiten seiner Nägel. Es sind die Räuberhände, die ihn verraten. Ich kenne seine Bewegungen: Er nimmt die Hand zum Mund. Er tippt in einem geheimen Rhythmus jede seiner Fingerkuppen an die Oberlippe.”

“Räuberhände” ist nur 200 Seiten schmal, doch auf diesen 200 Seiten bringt Finn-Ole Heinrich eine ganze Menge an Themen unter. Auf mich hat das Buch gewirkt, als würde es aus ganz vielen unterschiedlichen Schichten bestehen. Im Zentrum des Romans steht natürlich die ungewöhnliche Freundschaft von Janik und Samuel, die wie Brüder zusammenleben, aber keine sind. Irgendwie ist von Anfang an und immer wieder ein seltsames Ungleichgewicht zwischen ihnen zu spüren. Janiks Familie ist so perfekt, dass es dem Jungen die Luft zum Atmen abschnürt, er wünscht sich manchmal die Mutter Samuels als Mutter oder träumt davon, von einem Auto angefahren zu werden, er träumt von Überfällen und Katastrophen. Er träumt davon, dass endlich etwas passiert, das Kratzer in diese perfekte und makellose Oberflächenschicht macht. Samuel dagegen genießt die Sicherheit von Janiks Elternhaus, er genießt die Kontinuität, die Sorglosigkeit. Über seine alkoholkranke Mutter spricht er nur wenig und wenn er dann doch mal spricht, dann lacht er häufig über seine Kindheitserinnerungen.

“Ich möchte Samuel anfassen, ihn nur ein kleines bisschen berühren, wie zufällig. Aber ich traue mich nicht. Was plötzlich alles anders ist und nicht mehr sicher. Mir fehlt das bisschen Mut, das nötig wäre. Und sei es nur, um endlich aufzustehen, schnaubend zu atmen und unsere Stille in dieser lauten Wartehalle mit einem knartschenden Tanz auf dem glänzenden Plastikfußboden zu zerfetzten.”

Das Leitmotiv des Romans findet sich im Buchtitel wieder: der Begriff Räuberhände ist ein Phantasiewort von Janik, was er benutzt, wenn er sich in seine Gedankenwelt zurückzieht. Mit diesem Phantasiewort beschreibt Janik seinen Freund, den ordnungsliebenden Samuel, der gerne den Staubsauger benutzt und immer auf sein Äußeres achtet, doch seine Fingernägel wund beißt, bis sie entzündet sind. Die Räuberhände machen den Unterschied, Samuel versucht ein äußerlich normales Leben zu leben, losgelöst von seinem schwierigen Zuhause, doch seine Hände verraten ihn immer wieder. Janik glaubt in ihnen die Geschichte seines Freundes lesen zu können, für die dieser keine Worte hat. Die Räuberhände stehen für all das Ungesagte, was sich zwischen Janik und Samuel befindet.

“Ich wollte, dass etwas passiert, damit sie sich nicht so widerlich sicher fühlen. Ich habe mir gewünscht, dass wir überfallen und geschändet werden, damit wir merken, dass wir verletzbar sind, dass alles zerbrechen kann, wenn man nur hart genug darauf schlägt.”

Darüber hinaus bin ich beim Lesen des Romans auf die Themen Heimat und Identität gestoßen, aber auch auf den Wunsch nach Freiheit, danach, sich losgelöst von den Eltern neu erfinden zu können. Es geht auch um Schuld und wie es gelingen kann, einander von Schuld freizusprechen – Finn-Ole Heinrich entlässt den Leser happyendlos und doch habe ich beim Zuklappen der letzten Seite die leise Hoffnung gespürt, dass alles gut werden wird für Janik und Samuel.

Die Sprache ist der Sprache von Jugendlichen nachempfunden, dies macht den Roman zu einer flüssigen Lektüre und doch besteht nie die Gefahr, dass der Ton an Authentizität verlieren könnte. Finn-Ole Heinrich braucht nur wenige Sätze, nur wenig Worte, um intensive Panoramen zu entfalten – nicht nur Janik und Samuel sind nach Istanbul gereist, ich hatte das Gefühl mitzureisen und mit ihnen über die türkischen Basare zu stolpern.

“Ich hasse, dass Eltern diese Macht besitzen, sich immer und ständig einzumischen und alles durcheinander zu bringen. Man muss sie ausschließen, so oder so, egal, ob sie Heroin spritzen oder Plätzchen backen. Sie werden immer einen Platz in unserem Leben fordern, sie schummeln sich hinein, mit Tränen, Blumen oder Häkelsachen. Eltern müssen egal sein, man muss sie vergessen, vergraben, man muss sich gegen sie verhärten. Oder man wird ewig ihr Kind bleiben.”

Finn-Ole Heinrich hat ein Buch für junge Erwachsene geschrieben, es ist ein Buch über das Erwachsenwerden, das man aber auch als Erwachsener lesen kann. “Räuberhände” erzählt von der vielleicht wichtigsten Lektion im Leben: nichts hat Bestand, alles kann sich – manchmal in Sekunden, manchmal in Minuten, manchmal über einen langen Zeitraum – verändern. Von diesen Veränderungen erzählt Finn-Ole Heinrich und er erzählt so authentisch und mit so viel Kraft, dass ich am liebsten immer weiter gelesen hätte.

8 Comments

  • Reply
    tinelesemomente
    April 6, 2014 at 2:06 pm

    Oh, das hört sich wirklich toll an. Das Buch setze ich gleich mal auf meine Wunschliste! 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 6, 2014 at 2:07 pm

      Wie schön! 😀 Ich freue mich, dass ich dich neugierig machen konnte!

      • Reply
        jamshidi
        May 14, 2019 at 2:22 pm

        gibt information über diese buch in internet?

        • Reply
          Linus
          May 19, 2019 at 9:43 am

          entschuldige bitte?

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    April 6, 2014 at 2:45 pm

    Liebe Mara,
    Du musst jetzt mal wieder ein nicht so dolles Buch lesen, sonst kommt man ja in Teufels Küche. Ich lese gerne gute Jugendbücher, und das scheint offensichtlich eines zu sein. Trotzdem, jetzt fliegt morgen hoffentlich erstmal Frau Ozeki ein und die hat ja 560 Seiten, da werden die Räuberhände erstmal weit zurückgestellt werden müssen.
    Liebe Grüße und Dir einen schönen Restsonntag, Kai

  • Reply
    Der Mann fur den Text
    April 6, 2014 at 6:44 pm

    Reblogged this on [Leipzig.Lebensmittel.Punkt.].

  • Reply
    Rezension: Finn-Ole Heinrich, Räuberhände | Leipzig.Lebensmittel.Punkt.
    May 14, 2014 at 11:28 am

    […] Ursprünglich veröffentlicht auf buzzaldrins Bücher: […]

  • Reply
    Finn-Ole Heinrich im Gespräch! - Buzzaldrins Bücher
    November 21, 2014 at 1:20 pm

    […] er mit 23 Jahren und hat seitdem zahlreiche Bücher veröffentlicht. Hier vorgestellt wurden Räuberhände und die drei Bände der Maulina-Schmitt-Reihe. Ich hatte das große Glück, dass der Autor mir […]

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