Die Illusion des Getrenntseins – Simon van Booy

Simon van Booy wuchs in Wales auf und lebt heutzutage mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter in Brooklyn. Er ist nicht nur Romanautor, sondern hat auch bereits drei Philosophiebücher veröffentlicht, darüber hinaus schreibt er Artikel für die New York Times, den Guardian und die BBC. Weitere Informationen zum Autor finden sich auf seiner Homepage. Übersetzt wurde der Roman, der in diesem Bücherfrühjahr erschien, von Claudia Feldmann.

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“‘Unsere Liebe zu dir’, sagte sie, ‘wird immer größer sein als irgendeine Wahrheit.'”

Martin verlebt eine glückliche Kindheit, aber die Umstände seiner Geburt sind rätselhaft. Seine Eltern kümmern sich so um ihn, als wäre er ihr leibliches Kind, doch das ist Martin nicht. Es war Sommer und es war Krieg, als ein fremder Mann ihr das Baby in die Arme drückte. All das erfährt Martin als er alt genug ist, um in die Schule zu gehen. Es ist ein schwieriges Gespräch, doch die Mutter versichert ihrem Sohn, dass ihre Liebe zu ihm immer größer sein wird, als irgendeine Wahrheit. Es wird sein ganzes Leben dauern, bevor Martin dem Mann begegnen sollte, der ihn seiner Mutter in die Arme gedrückt hat und selbst in diesem Moment weiß er nicht, wer da eigentlich vor ihm steht.

“Bald fielen die Tropfen schneller, als meine Hand schreiben konnte, aber ich hörte nicht auf, ich schrieb weiter, bis es nichts mehr zu sehen gab, nichts mehr zu lesen, nur noch den Augenblick des Drucks, nichts davor und nichts danach.”

Während der Klappentext den Eindruck erweckt, als würde die Geschichte von Martin im Zentrum des Romans stehen, kreist die Geschichte in Wirklichkeit um fünf Charaktere, deren Schicksale auf ganz unterschiedliche Weise miteinander verwebt ist. Manche von ihnen wissen voneinander, manche sind auf seltsame Art miteinander verbunden, ohne dies jedoch zu wissen. Die Geschichte beginnt in Los Angeles im Jahr 2010, danach lernen wir einen entstellten Kriegsveteranen kennen, der 1981 in Manchester lebte. 1968 begegnen wir einem Schuljungen in Saint-Pierre, 1942 einem Liebespaar auf Coney Island und wir lernen Amelia kenne, eine blinde Frau, die mit ihren Eltern in den Hamptons lebt.

“Manchmal wache ich auf und liege so still da, dass ich hören kann, wie aus dem Strauß in der Vase ein Blütenblatt herabfällt. Manchmal liege ich wach und wünsche mir, dass es jemanden gäbe, der hört, wie ich falle. In der Sicherheit meines Bettes, auf dem Drahtseil zwischen Wachen und Träumen, fühlen sich meine Fantasien so wirklich an, als wären sie nur wenige Schritte entfernt, hinter einer Ecke, die niemals endet.”

Simon van Booy verwebt all diese Erzählstränge miteinander. In jedem Kapitel widmet er sich einer anderen Figur und nähert sich dabei Stück für Stück den Elementen, die alles miteinander verbinden. Beim Lesen habe ich mich immer wieder nach den Querverbindungen gefragt, nach den Zusammenhängen, die manchmal offensichtlich sind, doch manchmal auch im Verborgenen liegen. Manche Verbindungen offenbaren sich erst auf den letzten Seiten. Ein Großteil meiner Lesefreude hat sich aus dieser ungewöhnlichen Erzählweise gespeist, über die ich nicht zu viel verraten darf, um euch die Freude nicht zu verderben. Darüber hinaus haben mich vor allen Dingen die Passagen beeindruckt, in denen Simon van Booy in das Kriegsgeschehen eintaucht und das Schicksal eines Amerikaners beschreibt, der während des Krieges mit seinem Flugzeug in Frankreich abstürzt. An den Stellen, an denen das Kriegsgeschehen beschrieben wird, wird die Erzählung so dicht, dass ich kaum noch Atem holen konnte.

“Sein Bild ist unfertig. Die Skizze einer anderen Welt. Er fühlt diese Welt, in dem er sich andere ausmalt. Das Spiel ist der Raum, in dem er sich erkennt. Mit seiner Zimmertür schließt er ein Leben, denn es gibt so viele.”

Die Sprache des Romans ist überaus poetisch, die Sätze sind kurz. Simon van Booys Figuren weinen nicht, ihre Tränen malen Punkte auf die Tischdecke. Manchmal offenbart sich auf den Seiten so viel weise Leere, dass ich geglaubt habe, in einem Gedicht festzustecken und nicht in einem Roman. An manchen Stellen tritt die Erzählung hinter den Versuch zurück, bei jedem Satz eine größt mögliche Schönheit zu erreichen. Der wunderbare Titel des Romans bezieht sich auf ein Zitat von Thich Nhat Hanh, der sagt: “Wir sind hier, um aus der Illusion unseres Getrenntseins zu erwachen.” Doch auch im Roman selbst findet sich eine Anspielung auf den Titel, denn es ist der Titel einer Museumsausstellung, die Amelia mitorganisiert hat. Es ist eine Ausstellung über amerikanische Fotografien, die während des Zweiten Weltkriegs in Europa verloren gegangen sind.

“In seiner Vorstellung lebten sie immer noch zusammen.”

Der Roman hätte keinen besseren Titel tragen können, denn in diesen Worten spiegelt sich das wider, was den Kern des Romans ausmacht: es geht darum, dass wir alle – auf die ein oder andere Art und Weise – miteinander verbunden sind. Simon van Booy beschreibt das Leben von fünf Menschen, die über mehrere Jahrzehnte miteinander verbunden sind, die sich vielleicht auf der Straße nicht erkennen würden und fremd wären, die aber ein gemeinsames Schicksal teilen. Natürlich, natürlich – der Autor lässt die Lebenslinien seiner Figuren derart miteinander kreuzen, dass man vor Ungläubigkeit aufschreien möchte. Und doch: wir wissen vielleicht nichts voneinander, doch manchmal ist man sich näher, als man glaubt und Lebenslinien kreuzen sich, ohne, dass man dies bemerkt.

Simon van Booy webt in “Die Illusion des Getrenntseins” einen dichten Erzählteppich, voller poetischer und todtrauriger Sätze. Man muss sich auf die Illusion des Autor einlassen, wenn dies gelingt, dann wird man nicht nur mit einer traurigen und unheimlich berührenden Geschichte belohnt, sondern auch mit einer wunderbaren Sprache.

14 Comments

  • Reply
    saetzebirgit
    April 16, 2014 at 4:03 pm

    Das liest sich sehr schön!

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 16, 2014 at 4:05 pm

      Freut mich! Mir hat die Lektüre wirklich sehr gut gefallen, es fiel mir nur schwer eine Besprechung dazu zu schreiben, weil es schwer ist, über das Buch zu schreiben, ohne zugleich zu viel zu verraten. Ich freue mich, dass ich dich dennoch habe neugierig machen können. 🙂

      • Reply
        saetzebirgit
        April 16, 2014 at 5:15 pm

        Ja, neugierig bin ich jetzt wirklich sehr! 🙂

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          April 16, 2014 at 5:16 pm

          Na, dann los! Es hat auch nur knappe 200 Seiten … 🙂

  • Reply
    masuko13
    April 16, 2014 at 8:31 pm

    Liebe Mara, ich mochte die Geschichte auch so sehr, wollte sie gleich ein zweites Mal lesen. Am Ende scheint alles ganz klar, dennoch bleiben viele Fragen. Die Geschichte lebt weiter im Kopf und irgendwie macht sie was mit einem, oder? Sie jedoch zu besprechen, schien mir einfach unmöglich. Ich hab’s versucht! Dir ist es auf wirklich schöne Weise gelungen. Und ohne auch nur etwas anzudeuten.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 18, 2014 at 2:36 pm

      Liebe masuko,

      ja, die Geschichte lebt definitiv noch einige Zeit weiter, gerade auch durch die vielen offenen Fragen, durch die losen Enden – ich habe nach dem Zuklappen der letzten Seite noch ganz schön viel in meinem Kopf weitergesponnen. Die Rezension ist mir auch schwer gefallen, ich wollte nämlich keinesfalls zu viel verraten, denn ich glaube, dass man durch zu viele Hinweise Lesern bei diesem Buch ganz viel Lesefreude nehmen kann.

      Liebe Grüße und schöne Ostern!
      Mara 🙂

  • Reply
    mickzwo
    April 17, 2014 at 5:52 am

    Ich habe es auf die Leseliste gesetzt!! Danke für den Tipp.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 18, 2014 at 2:33 pm

      Ich freue mich, dass ich dich neugierig machen konnte! 🙂

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    April 17, 2014 at 7:44 am

    Liebe Mara,
    das klingt schon wieder nach so einer Perle. Ich werde es auf die Liste setzen, aber es muss noch ein bisschen warten. Aber nach Deiner einfühlsamen, neugierig machenden Besprechung muss es einfach drauf. Und Masukos Kommentar schiebt einen ja auch noch in diese Richtung…
    Liebe Grüße, Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 18, 2014 at 2:33 pm

      Hallo Kai,

      es gibt einfach zu viele gute Bücher, die man lesen möchte – ich kann vor lauter anwachsenden Lesestapeln kaum noch aus den Augen gucken, dabei wird mir doch schon immer nachgesagt, so viel zu lesen. 😉

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    juttareichelt
    April 17, 2014 at 8:14 am

    Auch meine Neugierde hast du erfolgreich geweckt – nicht zuletzt wegen deiner Hinweise auf die Konstruktion … Schönen Dank – auch für die Grüße 😉 J.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 18, 2014 at 2:31 pm

      Die Konstruktion des Romans ist wirklich etwas ganz besonderes – ebenso die Sprache. Wenn du das Buch lesen solltest, wäre ich sehr auf deine Meinung gespannt! 🙂

  • Reply
    Imandra777
    April 24, 2014 at 7:34 am

    Mich hat das Buch ebenso begeistert wie dich. Einfach nur toll erzählt, toll konstruiert. Auf wenigen Seiten würde eine ganze Welt geschaffen und der Leser auf eine Zeitreise mitgenommen.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      April 24, 2014 at 10:49 am

      Liebe Imandra,

      ich habe deine schöne Besprechung bei den Büchereulen gelesen, toll, dass wir bei diesem Buch einer Meinung sind. Auch mich hat vor allen Dingen die Konstruktion des Romans begeistert, wirklich klasse!

      Liebe Grüße
      Mara

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