Angelika Reitzer wurde 1971 geboren. Nach einem Studium der Germanistik in Salzburg und Berlin, lebt sie heutzutage als freie Schriftstellerin in Wien. Sie hat bereits einen Erzählband und zwei Romane veröffentlicht und erhielt für diese zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Reinhard-Priessnitz-Preis und mehrere Stipendien. Mehr Informationen zu der Autorin gibt es auf ihrer eigenen Homepage.
“Da spürt sie die Stille. Das ganze Haus ist ruhig, es ist leiser und größer als sonst. Es ist ein großes Haus, und natürlich ist es stiller, seit Lukas in Wien studiert.”
Marianne ist Anfang vierzig. Sie ist alleinerziehende Mutter, doch ihr Sohn Lukas ist mittlerweile erwachsen und hat das Mutterhaus zum Studium verlassen. Marianne lebt in Niederösterreich, ihr gehört ein großes Haus und der Betrieb einer Baumschule. Beides hat sie von ihrer Großmutter geerbt, die bis zu ihrem Tod mit Marianne zusammen gelebt hat. Nun bleibt sie alleine zurück, die Großmutter ist gestorben, der Sohn ausgezogen – sie ist zwar Teil einer weitverzweigten Familie, doch wirklich nahe fühlt sie sich niemanden. “Wie konnte sie sich hier, unter all den Menschen allein fühlen, es war unlogisch.” Sie bleibt zurück mit einem Haus und einem Betrieb, den sie geerbt, doch nie wirklich gewollt hat. Marianne ist mit siebzehn schwanger geworden, sie hat die Schule geschmissen und ein wildes Leben geführt – die Übernahme der Baumschule, war ihre einzige Möglichkeit, einen Weg zurück in die Normalität zu finden. Das, was damals eine Rettung war, ist nun beinahe ein Fluch – durch das Haus und den Betrieb ist Marianne ortsgebunden, sie ist festgelegt in einem Leben, in dem sie so fest verwurzelt ist, dass es ihr die Luft zum Atmen abschnürt.
“Den Lärm der Vögel hinter dem Haus, das Anschlagen der alten Kellertür, die aber immer geschlossen war, ein Geräusch, das Jutta nie gehört hatte. Wie konnte das gehen, all das nicht zu haben? Wie konnte man es austauschen gegen andere Aussichten, andere Geräusche, andere Gewohnheiten?”
200 Seiten lang begleiten wir Marianne durch ein Leben, das wie erstarrt wirkt. Sie erlebt die Widrigkeiten des Alltags – den Tod der Großmutter, den Tod eines Freundes, die Erkrankung einer Bekannten – wie durch einen Schleier. Die Erzählweise ist so nüchtern und neutral, dass die Ereignisse beim Lesen beinahe emotionslos an mir vorbeigezogen sind. Es ist eine erschreckende Lethargie, die sich über Mariannes Leben gelegt hat. Hin und wieder wird erwähnt, dass sie zu viel trinkt – dieser Umstand ist sicherlich auf die erdrückende Einsamkeit, in der sie lebt, zurückzuführen. Sie hat ein Leben geerbt, das sie nun am Leben hindert – ihr französischer Liebhaber geht zurück in seine Heimat, über die Option, mit ihm zu gehen, darf Marianne gar nicht erst nachdenken, zu viele Verbindlichkeiten lassen sie wie festgewurzelt in ihrem Zuhause bleiben.
“Wenn sie sich an jeden Streit, an jede Auseinandersetzung in der Familie erinnern könnte, würde sie wohl schon lange niemanden mehr einladen. Wenn sich alle daran erinnern könnten, was sie je zueinander gesagt haben, dann wäre doch längst alles explodiert. Aber das war wahrscheinlich in allen Familien so.”
Es kommt einem Schock gleich, wenn Angelika Reitzer ihre Hauptfigur nach 200 Seiten einfach fallen lässt und sich im zweiten Teil ihres Romans auf Siri konzentriert, eine entfernte Bekannte von Marianne. Siri ist mit ihrer Offenheit und Unbedarftheit das Kontrastprogramm zu Mariannes Sesshaftigkeit. Die junge Frau, die mit ihren Eltern aus der DDR geflüchtet war, verschlägt es mal nach Japan, mal nach Amerika – ihren Studienwunsch ändert sie immer mal wieder, genauso wie die Vorstellungen ihrer Zukunft. Die Eltern hatten nach ihrer Flucht in den Westen, keine Zukunft dort für sich gesehen – die Rückkehr ist unvermeidlich. Diese Rastlosigkeit vererben sie an ihre Tochter weiter: Siri legt sich auf keine Heimat fest, stattdessen wagt sie immer wieder einen neuen Anfang, bricht immer wieder zu neuen Zielen auf, erfindet sich und ihre Geschichte in immer neuen Varianten.
“Welcher freie Mensch möchte sich diktieren lassen, wie es um ihn bestellt ist? Woran er denkt, vor dem Einschlafen, und was er macht, wenn die Angst einmal so groß ist, dass sie wirklich unüberwindbar scheint. Man ist umstellt, es ist doch nicht so, dass einem nur der eine Zugang zur Zukunft versperrt ist. Auch was war, gehört dir dann nicht. Deshalb, und das ist wichtig, muss ich mir meine eigene Geschichte erfinden.”
Angelika Reitzer hält sich mit Deutungen und Erklärungen zurück, als Leser wird man in diese beiden Leben eingeführt und es bleibt einem selbst überlassen, zu welchen Schlüssen man kommt. Siri und Marianne stehen sich beinahe wie ein Gegensatzpaar gegenüber – Siri beginnt immer wieder neue Leben, doch nie gelingt es ihr, etwas von den Anfängen auch zu beenden, stattdessen lässt sie sich treiben. Marianne dagegen ist festgelegt in einem Leben, das ihr zwar eine materielle Sicherheit bietet, dafür aber keinen Raum zur freien Entfaltung lässt. Beide Frauen sind Erbinnen, sie haben ein Leben geerbt, sie haben eine Tendenz zum Leben geerbt und beide versuchen Wege zu finden, mit diesem Erbe umzugehen.
“Wir Erben” ist ein Buch, das nachdenklich stimmt – ein Buch, das viele offene Fragen aufwirft und dabei dazu anregt, über Fragen nach Herkunft, Heimat und dem eigenen Leben nachzudenken. Die Erzählstimme ist monoton und nüchtern, auf der einen Seite habe ich das als sehr authentisch empfunden, auf der anderen Seite krankt das Buch manchmal an einem gewissen Gefühl der Langeweile. Es passiert eigentlich so viel, doch nichts scheint die Schutzschicht von Marianne wirklich durchbrechen zu können.
“Wut ist manchmal auch dabei. Immer will die eine von der anderen etwas, aber noch mehr will jede von sich selber. Es geht darum, wie man aus der Welt eine bessere machen kann. Eine Möglichkeit oder eigentlich viele, aber einmal anfangen.”
Angelika Reitzer legt mit “Wir Erben” einen wunderbaren Roman vor, den ich gerne gelesen habe. Es ist ein Roman über das Leben, über das Leben, das wir führen und über das, was wir gerne führen würden. Es ist ein Roman über Heimat und Wurzeln, über Freiheit und Träume und ein Roman über den Wunsch danach, einen Platz im Leben zu finden.
6 Comments
jancak
April 22, 2014 at 4:23 pmIch kenne Angelika Reitzer sehr gut weil sie in der “Alten Schmiede” regelmäßig Veranstaltungen organisiert, da zum Beispiel die Textvorstellungen, wo sie immer sehr feine sprachlich begabte bzw. experimentierende Autoren, wie Anna Weidenholzer, Valerie Fritsch etc vorstellte, umso mehr war ich erstaunt, wie realistische diese Familiengeschichte ist, ich habe schon darüber gebloggt, daß es mich ein wenig gewundert hat, daß hier eigentlich nicht sehr viel passiert, was mir ja immer vorgeworfen wird. Das mit der zweiten Geschichte am Schluß hat mich nicht sehr geschockt, aber ein bißchen hineingeflickt, bzw. viel kürzer, als die erste war sie halt, das kenne ich auch von meinem Schreiben, wenn einem dann nichts mehr einfällt, etc.
Ich habe auch den ersten Roman gelesen und finde diese Verquickung von sprachlichen Experiment und dann doch realistischen Ansatz eigentlich sehr spannend. Eine Reihe die Angelika Reitzer machte war auch “Wie im echten Leben” und hat sich mit der Revolution beschäftigt. Eine feine Schreibende halt, die sich durch den literarischen Alltag kämpft, kennengelernt habe ich sie in der Hauptbücherei bei einem Lesezirkel, wo ich ein Buch vorestellte, den sie organisierte.
Hier meinehttp://literaturgefluester.wordpress.com/2014/03/20/wir-erben/
buzzaldrinsblog
April 24, 2014 at 11:04 amLiebe Eva,
danke für den Link – ich werfe später mal einen Blick in deine Besprechung. Realistisch ist der Roman in der Tat, weniger experimentell. Manches von dem was geschieht, wirkt aber schon beinahe unrealistisch, weil es in dieser ewigen Monotonie an dem Leser förmlich vorbeizieht. Ich glaube aber, dass das in gewisser Hinsicht von der Autorin auch gewollt gewesen ist – ich habe mich aber dennoch damit schwer getan.
Liebe Grüße
Mara
Petra Gust-Kazakos
April 22, 2014 at 4:26 pmHm, thematisch klingt es interessant … Wunderschön ist auf jeden Fall das Cover!
Liebe Grüße
Petra
buzzaldrinsblog
April 24, 2014 at 11:01 amLiebe Petra,
oh ja, das Cover hat in meiner Besprechung gar keine Erwähnung gefunden, es ist aber in der Tat wunderschön! 🙂 Thematisch ist das Buch sehr interessant, es hat vieles in mir angestoßen und mich immer wieder nachdenklich gemacht, schwer getan habe ich mich lediglich ab und an mit der Monotonie, diese Lethargie Mariannes, die sich ab und an auch schon fast über den Leser legt!
Liebe Grüße
Mara
seitengeraschel
April 23, 2014 at 5:25 pmDas Fazit, das du ziehst, spricht mich sehr an. Schon wieder ein Buch für die Merkliste… oh weia, das nimmt langsam Ausmaße an…
buzzaldrinsblog
April 24, 2014 at 10:50 amIch kenne das, denn ich kenne die Ausmaße meiner eigenen Wunschliste – manchmal ist das ein kleines bisschen erschlagend! 😉 Auf deine Meinung zu “Wir Erben” wäre ich sehr gespannt, in mir hat es viele Gedanken angestoßen …