Matthias Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde, erzählt in “Unternehmer” eine Geschichte mit doppeltem Boden, eine Geschichte, die man – trotz besseren Wissens – einfach glauben möchte. Er erzählt von Arbeit, familiärem Zusammenhalt und dem modernen Unternehmertum und all dies findet statt in einer abenteuerlichen und unglaublich anmutenden post-apokalyptischen Welt.
“Vielleicht ist das überhaupt das Wesen der Arbeit: dass sich stets – so schön die Arbeit auch sein mag – eine zweite Person in einem regt, die nicht arbeiten will. Und fehlt dieses Nichtwollen in einem drin bei einer Tätigkeit, dann handelt es sich nicht um Arbeit.”
Im Zentrum des Romans steht die dreizehnjährige Lipa, die ein ganz anderes Leben führt, als so viele andere Mädchen. Sie ist Assistentin in einem Unternehmen, in einem Familienunternehmen. Gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Bruder Berti, dem nur noch ein Arm bleibt, den anderen hat er bei einem Arbeitseinsatz verloren, durchforstet sie alte Industrieruinen im Schwarzwald, immer auf der Suche nach Tantal und Wolfram, die die Familie reich machen sollen. Sie arbeiten, um sich einen Traum zu erfüllen: im nächsten Jahr möchte die Familie nach Neuseeland auswandern. Gemeinsam schlachten sie verlassene Fabriken aus, eine gefährliche Arbeit. Das Risiko ist hoch (Ein Unternehmen fordert seine Opfer) und der Ertrag ist gering, es bleibt unklar, ob die Familie wirklich daran glaubt, von dem Klimpergeld, das sie verdienen, irgendwann nach Neuseeland auswandern zu können.
“Was soll das sein, freie Zeit?, fragt Vater. Zeit, in der ich unternehmensfreie Dinge machen kann, sage ich. Was willst du machen?, fragt Vater. Topsecret, sage ich, und Vater sagt: Heute ist Spezialtag, du bist Assistentin.”
Was das genau für eine Apokalypse gewesen ist, die mitten im Schwarzwald ihr Unwesen getrieben hat, bleibt unklar. Die Welt scheint zweigeteilt worden zu sein: Lipa führt das Leben einer Erwachsenen, Ferien kennt sie nicht, der Blick ist auf den Profit und auf das Unternehmen gerichtet und dafür werden Opfer in Kauf genommen. Doch es gibt auch noch eine andere Welt, es gibt Computer und Tankstellen, es gibt einen Supermarkt. Es gibt eine normale Welt, die Lipa kennenlernt, als sie zum ersten Mal die Schule besucht: in der normalen Welt springt man Trampolin und taucht im Schwimmbecken. Es ist eine Welt, die Lipa verschlossen bleibt, die so sehr in der Unternehmerideologie ihres Vaters gefangen ist, dass sie sich jede Freizeitaktivität untersagt. Lipa glaubt, dass nur Kinder, die arbeitslos sind, Zeit dafür haben können, eine Schule zu besuchen. Auch Müdigkeit hält sie für eine Erfindung der Arbeitslosen, Unternehmer haben gar keine Zeit dafür müde zu werden.
Beim Lesen des Romans überkommt einen fast das Gefühl, als hätte Matthias Nawrat einen eignen Wortschatz erfunden: Unternehmer-Chef, Unternehmer-Händeschütteln, Unternehmer-Stellung. Es ist eine Welt, in der es um Termine geht, um Auskundschaftungen, um Inventur und Kundenanfragen. Überhaupt neigt Lipa dazu, sich eine Welt der Wörter zu erfinden: die Täler des Schwarzwaldes werden von Gebiets-Veränderten bewohnt und als ihr Vater eine ganze Weile im Bett bleibt und das Familienunternehmen vernachlässigt, hält sie fest, dass sich im Haus eine Vaterschwere breit macht.
“Das Unternehmertum, sagt er später im Mercedes am Wiedener Eck, ist eine Teamarbeit, eine Arbeit für drei. Das merkt euch, fällt nur einer von uns aus, ist es vorbei.”
Lipa wird von Matthias Nawrat wunderbar gezeichnet, sie ist erfrischend sympathisch, aber auch erschreckend naiv und gefangen in den familiären Vorstellungen von Ethik und Arbeitsmoral. Als sie zum ersten Mal eine Schule besucht und der Lehrer sie fragt, wie es ihr geht, antwortet Lipa mit den Worten: “Es ist ein schöner Morgen”. Das Familienunternehmen presst das junge Mädchen in eine Lebensform, in der sie nicht mehr differenzieren kann zwischen den Bedürfnissen des Unternehmens und den eigenen Bedürfnissen – wenn sie diese denn überhaupt kennt. Vielleicht ist dieses postapokalypitsche Zukunftsszenario eine Warnung an unsere Hochleistungsgesellschaft, die kleine Kinder zu Höchstleistungen drängt – ohne Rücksicht auf Verluste. Eine Hochleistungsgesellschaft, in der das einzelne Individuum zunehmend verschwindet. Lipa lebt ein seltsames Leben, doch ihr erscheint es logisch, so sehr ist sie gefangen in der väterlichen Ideologie. Als Leser läuft man immer wieder Gefahr, den Krakenhänden dieser Ideologie ebenfalls in die Fänge zu geraten. Erst die Liebe zum langen Nasen-Timo bietet Lipa einen Ausweg aus dem Arbeitsleben, das sie lebt – es ist ein Ausweg aus dem Unternehmen und aus der eigenen Familie. Beiden wollen in die Vogesen auswandern, die Vogesen scheinen dann doch auf jeden Fall erreichbarer zu sein, als Neuseeland.
Auf knapp 140 Seiten erzählt Matthias Nawrat virtuos eine vielschichtige Geschichte, die als Gesellschaftsroman gelesen werden kann, als Sozialstudie, als Zukunftsszenario, aber auch ein ganz kleines bisschen als Liebesgeschichte. Er trifft einen herrlich poetischen Ton, der manchmal heiter und naiv ist, aber auch immer wieder tieftraurig und schwer klingt. “Unternehmer” ist ein wahres Kleinod, das nachdenklich macht, das bewegt und das man lesen sollte.
7 Comments
Fabian Thomas
May 10, 2014 at 8:41 amHabe manchmal den Faden verloren, wenn die poetische Sprache zu sehr mit Matthias Nawrat durchging, aber doch, ja, gutes Buch, das man lesen sollte!
buzzaldrinsblog
May 12, 2014 at 2:42 pmIch muss ja gestehen, dass ich diese poetische Sprache unheimlich genossen habe – ich kann aber auch verstehen, dass man ab und an den Faden verlieren kann! 🙂 Ich freue mich auf jeden Fall schon darauf, nun den Debütroman des Autors zu lesen, den ich noch immer nicht kenne …
dasgrauesofa
May 10, 2014 at 11:38 amLiebe Mara,
ich habe den “Unternehmer” auch gerne gelesen. Für mich ist es beim Lesen besonders beeindruckend gewesen, wie gut Matthias Nawrat es schafft, uns Leser in diese merkwürdig-fremde Welt zu entführen, sodass wir uns so bereitwillig auf sie einlassen. Und Lipa ist ja schon ganz schön deformiert von der väterlichen Unternehmens-Indoktrination, bis in ihre Liebesgeschichte hinein. Das gibt auf jeden Fall zu denken und zu überlegen, wie weit wir schon sind auf diesem Weg, in dem das Wirtschaftliche in alle Lebensbereiche vordringt.
Viele Grüße, Claudia
buzzaldrinsblog
May 12, 2014 at 2:41 pmLiebe Claudia,
oh ja, dieser Aspekt hat auch mir besonders gut gefallen. Eigentlich fällt es mir normalerweise schwer, mich auf fremde oder auch “surreale” Welten einzulassen, doch Matthias Nawrat lässt seine Welt einfach so wirklich erscheinen, dass er mich sofort gepackt hat. Das Buch hat mich in der Tat auch sehr nachdenklich zurückgelassen, mit vielen Fragen. Ich hoffe für diese wunderbare Erzählung, dass das Buch noch viele Leser finden wird.
Liebe Grüße
Mara
jancak
May 10, 2014 at 5:33 pmDie merkwürdige fremde Welt ist mir bei der Bachmannpreislesung und in Leipzig auch aufgefallen und so ganz habe ich es ja nicht mit der surrealen Schreibweise, aber trotzdem, vielleicht finde ich einmal das Buch, dann freue ich mich auf das Lesen
buzzaldrinsblog
May 12, 2014 at 2:39 pmAuch ich bin kein Fan von surrealen Erzählungen, wirklich nicht, in diesem Fall, passt es aber einfach für mein Empfinden. ich habe das Buch sehr gerne gelesen und freue mich schon darauf, dass hoffentlich noch mehr von diesem Autor in Zukunft zu lesen sein wird. 🙂
Matthia Nawrat im Gespräch! | buzzaldrins Bücher
May 12, 2014 at 1:26 pm[…] Roman “Wir zwei allein” bei Nagel & Kimche veröffentlicht, sein zweiter Roman “Unternehmer“ ist bei Rowohlt erschienen. Ein Wechsel, den der Autor vor allen Dingen damit begründet, dass er […]