Die niedrigen Himmel – Anthony Marra

Ein junger amerikanischer Autor, der gerade einmal dreißig Jahre alt ist und einen Debütroman vorlegt, dessen Schauplatz das vom Krieg zerstörte Tschetschenien ist … klingt ungewöhnlich? Ist es auch, aber Anthony Marra gelingt genau dies und das auch noch auf einem ausgesprochen hohem literarischem Niveau.

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“Sobald man etwas im Kopf hat, kann es einem keiner mehr wegnehmen.”

Anthony Marra erzählt in “Die niedrigen Himmel” eine vielschichtige Geschichte, die eigentlich nur fünf Tage lang dauert und doch einen Zeitraum von zehn Jahren umfasst und eine Vielzahl an Figuren, die nicht nur einfach Romanfiguren sind, sondern sich in mein Herz geschlichen haben und sich dort immer noch aufhalten. Der Autor siedelt seinen Roman in Eldar an, einem archaischen Bergdorf. Es ist ein Dorf, von dem nur noch ein ausgehöhltes Skelett übrig geblieben ist, seit der Tschetschenienkrieg ausgebrochen ist. Männer und Frauen werden verschleppt, Häuser zerstört. In diesem Dorf lebt Achmed, der die Tochter eines Freundes rettet, nachdem dieser verschleppt wurde. Er bringt Hawah in die Stadt, er bringt sie bei Sonja unter, einer Frau, die als Chirurgin im Krankenhaus arbeitet. Es ist kein Zufall, der darüber entscheidet, dass Achmed ausgerechnet Sonja zur Mädchenretterin erwählt – erst viele Seiten später erfahren wir all das, was sich hinter dieser Entscheidung verbirgt.

“Die Finger des Mädchens lagen wie ein Armband um sein Handgelenk. Er wollte sich Hawah über die Schulter werfen und mit ihr nach Norden rennen, bis der Wald das Dorf verschluckte, aber als sie vor den verkohlten Balken standen, fehlte ihm die Kraft, ein Wort des Trostes über die Lippen zu bringen, die Hand des Mädchens zu halten oder die Füße in die gewünschte Richtung zu lenken.”

Die Rettung Hawahs ist Ausgangspunkt des Romans, an dem sich alle andere Erzählstränge und -fäden entknoten und entwickeln. Anthony Marra erzählt von Achmeds Leben, von Hawahs Familie und von Sonja, der es gelingt aus Tschetschenien zu fliehen und in London zu studieren, nur um dann doch wieder in die Heimat zurückzukehren, immer auf der Suche nach ihrer verschwundenen Schwester Natascha. “Die niedrigen Himmel” erzählt darüber hinaus eine Geschichte eines fürchterlichen Krieges, eine Geschichte von menschlicher Grausamkeit, von Gewalt und von Familien, die an den Kriegswirren zerbrechen. Die Beschreibungen des Krieges sind frei von Kitsch und Pathos, Anthony Marra findet nüchterne Worte für das Kriegsgeschehen, die vielleicht gerade in all ihrer Nüchternheit ihre größte Wirkung entfalten.

“Auch wenn es ein Schock ist, eine leere Wohnung zu betreten, macht sich die Abwesenheit nicht sofort bemerkbar, eher schon verblasst eine geteilte Gegenwart, schmilzt in die Vergangenheit hinüber, wird nicht ausgelöscht, sondern wechselt die Gestalt, aus dem Dasein wird Erinnerung, Festes verflüchtigt sich, und der Mensch, den man einst berührte, rinnt einem jetzt die Wangen hinab, bildet eine Gänsehaut auf dem Rücken, und man kann in der Erinnerung baden, versinken und ertrinken, aber halten können die Finger sie nicht.”

“Die niedrigen Himmel” ist eindeutig ein Roman, der seine ungeheure Faszination in der fortlaufenden Geschichte entfaltet. Je tiefer sich Anthony Marra in die Zusammenhänge hinein begibt, desto beeindruckender ist das Panorama, das sich vor den Augen des Lesers entfaltet. Es ergeben sich Querverbindungen, von denen man auf den ersten Seiten noch nichts ahnen konnte und auch die Beziehungen zwischen den Figuren kristallisieren sich nach und nach immer stärker heraus, Schicht um Schicht dringt der Autor hinein in das Herzstück seines Romans.

“[…] wie konnte man mit einem so stumpfen Instrument wie der Sprache einen so eigenartigen und flüchtigen Menschen wie Natascha erfassen? Die Metaphern versagten; Natascha ließ sich nicht zusammenfassen. Greifen konnte Sonja nur, was sie verloren hatte: Nataschas Lachen, Nataschas Hohn und ihre widerspenstige Liebe; und genau wie ein fehlendes Glied noch schmerzen und kribbeln kann, so lachte ihre verlorene Natascha noch immer, gab noch immer höhnisch und widerwillig ihre Liebe und strotzte noch immer vor Leben, so dass Sonja sich manchmal fragte, ob nicht vielmehr sie selbst verschwunden war.”

Der Tschetschenienkrieg fungiert bei Anthony Marra keineswegs nur als Folie oder Schablone, es gelingt ihm mit beeindruckender Klarheit, geschichtliche und politische Zusammenhänge aufzuzeigen und zu thematisieren. Er beschreibt fünf Tage im Jahr 2004, er braucht dafür fast 500 Seiten, weil er eben nicht nur diese fünf Tage beschreibt, sondern immer wieder zurückgeht in die Vergangenheit, in das, was gewesen ist und nie wieder so sein wird. Es ist das Thema der Erinnerung, das im Roman eine zentrale Rolle spielt: während Sonja in den Erinnerungen an die Schwester lebt und sich dabei fast selbst aufgibt, gibt Ula, die Frau Achmeds, ihre Erinnerungen auf und lebt in einem demenzähnlichen Zustand vor sich hin. Die Umgangsweise der beiden Frauen mit ihren Erinnerungen ist ganz unterschiedlich, gemeinsam ist ihnen jedoch die Tatsache, dass Erinnerungen etwas Flüchtiges sind.

Anthony Marra legt mit “Die niedrigen Himmel” einen großartigen Roman vor, der eine eindringliche und kraftvolle Geschichte erzählt. Es ist ein Roman, der sich komplexen Themen annimmt: im Mittelpunkt steht natürlich das Kriegsgeschehen, es geht aber auch um Liebe, um Treue, um Verrat. Und es geht um Freundschaft und menschliche Güte, beides findet sich hier, mitten im Krieg. “Die niedrigen Himmel” ist ein Roman, der mir noch lange in Erinnerung bleiben wird.

10 Comments

  • Reply
    Franziska Fischer
    May 16, 2014 at 6:17 pm

    Schöne Rezension für einen großartigen Roman! 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 16, 2014 at 6:40 pm

      Hast du ihn auch schon gelesen? 🙂

      • Reply
        Franziska Fischer
        May 17, 2014 at 5:26 pm

        Ja, eines meiner Lesehighlights dieses Jahr 🙂

        • Reply
          buzzaldrinsblog
          May 19, 2014 at 12:48 pm

          Für mich ist es – neben Ruth Ozeki und Donna Tartt – auch eines meiner bisherigen Highlights! 🙂

          • Franziska Fischer
            May 19, 2014 at 1:03 pm

            Der “Distelfink” steht auch schon auf meiner unübersichtlicher Wunschliste …

  • Reply
    keeweekat
    May 16, 2014 at 10:47 pm

    Ein wirklich eindrücklicher Roman, der mich noch lange nach der Lektüre zum Nachdenken gebracht hat!
    Habe mich von Stil und Thema her beim Lesen ein wenig an Adam Johnsons “Das geraubte Leben des Waisen Jun Do” erinnert gefühlt – und tatsächlich hat Anthony Marra bei ihm auch studiert. Lustig, wie alles zusammenhängt. 🙂

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 19, 2014 at 1:00 pm

      Liebe Katja,

      zwischendurch hatte ich lustigerweise die selbe Assoziation und habe auch an Adam Johnsons lesenswerten Roman denken müssen, ich wusste nicht, dass Anthony Marra bei ihm studiert hat – danke für diesen interessanten Hinweis. Irgendwie schön, wie sehr manche Dinge doch zusammenhängen.

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    Anthony Marra – Die niedrigen Himmel | Muromez
    May 29, 2014 at 7:01 am

    […] Weitere Rezensionen finden sich bei Buzzaldrins Bücher, Coffee and Books, BirthesLesezeit und […]

  • Reply
    tobiaslindemann
    June 4, 2014 at 4:15 pm

    Das Buch interessiert mich sehr, kommt auf die Liste. Und übrigens finde ich Deine Fotos toll, auf denen die vielen Stickers zu sehen sind, die Du Dir auf die Seiten geklebt hast. So sehen meine Bücher auch häufig nach der Lektüre aus 🙂

  • Reply
    Liebe im Miniaturformat (2) | Buzzaldrins Bücher
    July 19, 2015 at 10:23 am

    […] Marra – Die niedrigen Himmel (erschien am 9. Mai […]

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