Das Wort Heimflug beinhaltet das Gefühl, nach Hause zu kommen. Doch was ist, wenn man zwar um die Welt fliegt, doch gar kein Zuhause mehr hat? Kein Heim, keinen Ort, an dem man sich geborgen fühlt? Brittani Sonnenberg legt mit “Heimflug” einen wunderschönen Roman über Heimat vor und erzählt eine Geschichte vom Wunsch danach, irgendwo anzukommen.
Familie Kriegstein ist immer unterwegs. Vater Chris Kriegstein arbeitet in einem internationalen Unternehmen, er ist die Karriereleiter empor geklettert, doch der Preis, den er dafür zahlen muss, sind häufige Umzüge: in achtzehn Jahren sind er und seine Frau Elise acht mal umgezogen. Deutschland, England, China, Singapur – das sind nur einige ihrer Stationen. Elise folgt ihrem Mann immer wieder in fremde Länder und sie gibt für ihn auch immer wieder alles auf: die neu gewonnene Heimat, die neu erlernte Sprache, die neu gefundenen Freunde. Elise schwankt zwischen dem Wunsch danach, neue Länder zu entdecken und einem seltsamen Heimweh. Eine unglückliche Kindheit hat sie früh aus dem Elternhaus vertrieben, so weit fort, wie möglich. Nun sehnt sie sich zurück, doch wie geht das – Heimweh nach einem Heim haben, das es eigentlich gar nicht mehr gibt?
“Wie es sich aber konkret anfühlte, in einer fremdsprachigen Umgebung zu leben, wurde ihr erst bewusst, als sie am Flughafen landeten und ihr die Wörter um die Ohren schwirrten wie sommers die Zikaden in Vidalia.”
Es ist nicht das Zuhause, nach dem Elise sich sehnt, sondern ein Gefühl – das Gefühl anzukommen, das Gefühl, nicht mehr fremd zu sein, nicht seltsam angeschaut oder gar ausgegrenzt zu werden. Später reisen die Kriegsteins nicht mehr nur zu zweit durch die Welt, sondern gemeinsam mit ihren Töchtern Leah und Sophie, für die die ständigen Neuanfänge nur schwer zu bewältigen sind. Unsicherheiten und Enttäuschungen begleiten jeden ihrer Umzüge. Einmal im Jahr gibt es eine vom Unternehmen verordnete Heimreise, doch das Gefühl für die ehemalige Heimat geht immer mehr verloren. Weder da, noch dort fühlt sich die Familie wirklich zu Hause. Es ist ein fürchterlicher Schicksalsschlag, der das ganze bisherige Leben der Familie Kriegstein schließlich auf den Kopf stellt…
“Wie soll Leah Evgenia an der amerikanischen Schule von Schanghai den Trost vermitteln, den es birgt, auf der vorderen Hüttenveranda heiße Schokolade zu trinken, in die Steppdecke ihrer Großmutter gehüllt, während im Tal die Kirchenglocken des Städtchens läuten, und sie den ganzen Tag lesend verbringen kann, ohne dass irgendetwas ihr signalisiert, sie gehöre nicht hierher – weder die überfüllten Bürgersteige einer Stadt mit zwölf Millionen Einwohnern noch das Kichern und Schnattern einheimischer Schulkinder, die mit dem Finger auf sie zeigen, noch die Speisekarten, die lauter unentzifferbare Gerichte anführen.”
Die Autorin verfolgt ihre Figuren über viele Jahrzehnte, bis zu dem Moment, in dem Leah erwachsen ist und sich endlich den Wunsch nach einem festen Zuhause erfüllen möchte. Doch dann muss die junge Frau feststellen, dass es als Nomade nicht einfach ist, sesshaft zu werden – sie spürt dieses Fernweh in sich, diesen seltsamen Drang danach, wegzulaufen, immer immer weiter zu laufen.
Brittani Sonnenberg erzählt eine Familiengeschichte, die nicht nur mehrere Generationen umfasst, sondern auch mehrere Kontinente umspannt. Es dürfte also nicht verwundern, dass in ihrem Roman auch eine Vielzahl an unterschiedlichen Stimmen und Erzählperspektiven zu Wort kommen. Erzählt wird das Leben der Familie Kriegstein aus der Sicht aller Familienangehöriger, jeder von ihnen kommt abwechselnd zu Wort. Dadurch entsteht ein vielstimmiges Panorama, das sich aus ganz vielen unterschiedlichen Blickwinkeln, Gedanken und Perspektiven zusammensetzt. Eine der Erzählperspektiven ist besonders ungewöhnlich, denn das erste Kapitel des Romans wird aus der Sicht von Elises Elternhaus erzählt – für mich gehört dieses Kapitel zu den berührendsten des ganzen Romans.
“Für eine Heimstatt ist es schlimm, keine Macht über das eigene Erscheinungsbild zu haben, das Schlimmste aber ist, dass man nicht einschreiten kann, wenn sich unheilvolle Dinge in einem abspielen. Man kann nur hilflos zusehen.”
“Heimflug” ist ein Roman über Heimat und das Nachhausekommen. Brittani Sonnenberg erzählt von globalen Nomaden, die im Rahmen ihrer Arbeit immer weiterziehen – sich von ihrem Ursprung wegbewegen, ohne irgendwo wirklich anzukommen. Sie erzählt davon, was passiert, wenn Heimat nicht mehr an einen Ort gebunden ist, sondern das Konstrukt Familie die einzige Heimat ist, die einzige Sicherheit, die einzige Geborgenheit, die man bekommen kann. Und sie erzählt davon, was passiert, wenn dieses Konstrukt anfängt zu bröckeln und Risse zu bekommen.
Positiv besprochen wurde der Roman übrigens auch im Bücherwurmloch.
6 Comments
skyaboveoldblueplace
August 7, 2014 at 5:58 pmLiebe Mara,
das ist ja wirklich furchtbar. Bin kaum mit dem Tangohund fertig und habe noch so viele Bücher auf dem Stapel – und nun kommst Du schon wieder mit so einem Muss-Buch. Deine Besprechung zwingt einen ja geradezu dazu, das Buch zu lesen….
Habe gerade mal auf die Seite dieser sehr interessanten Autorin geschaut und hier Ihre Recent Wirsings gefunden. Kann man teilweise lesen, teilweise d´sogar hören. Z.B. einen schönen Beitrag über den Schlachtende in Berlin (dort wohnt die Frau). Alles in Englisch, kann man aber gut verstehen.
Ein tolles Fass hast Du da aufgemacht, vielen Dank für den klasse Tip und liebe Grüsse vom immer noch trauernden Kai
Mara
August 8, 2014 at 5:34 pmLieber Kai,
ich finde das auch fürchterlich, ich hatte – ganz ohne große Erwartungen – am letzten Wochenende in das Buch reingelesen und konnte dann nicht mehr aufhören zu lesen, es hat mich einfach begeistert.
Ein bisschen schmunzeln musste ich gerade über deinen Vertipper: recent Wirsings klingt vor allen Dingen lecker. 😉 Danke auf jeden Fall für den Tipp mit der Homepage, dass die Autorin in Berlin lebt, hatte ich gelesen, ihre Webseite hatte ich jedoch noch nicht entdeckt – da schaue ich gleich mal rein und bin schon gespannt.
Ich hoffe, der Tangohund hat dir gefallen und sende dir eine kraftspendende Umarumg!
Liebe Grüße
Mara
skyaboveoldblueplace
August 26, 2014 at 8:11 pmLiebe Mara,
ja der Tangohund hat mir sehr gut gefallen, aber erstmal zum kürzlich Wirsing: Als ich das gerade nochmal nachgelesen habe musste ich doch erstmal selber wiederr auf der Sonnenberg Seite schauen um herauszufinden, dass es also eigentlich kürzlich Writings heissen sollte. Dieses blöde Wortfalscherkennungstool ist wirklich manchmal grandios. Ich überlege nun die ganze Zeit, wie ich so einen recent Wirsing wohl zubereiten soll…
So, das wär geklärt und jetzt zum eigentlichen Grund meines Kommentars: ich habe vor ein paar Tagen den Heimflug von Frau Sonnenberg zuende gelesen und ich wollte hier nur nochmal kundtun, dass es wirklich ein ganz tolles Buch ist. Die Themen Heimat, Heimatlosigkeit, Zugehörigkeit werden grossartig verarbeitet – und wenn ich Britannia Sonnebergs Lebenslauf sehe, spielt da eine ganze Menge eigene Erfahrung mit. Besonders gelungen fand ich die verschiedenen Erzählperspektiven und insbesondere Leahs Kapitel über die Suche nach Heimat und die Schwierigkeiten eines Menschen, der sozusagen immer auf der Reise gelebt hat.
Danke also noch einmal für den tollen Tip und liebe Grüsse
Kai
skyaboveoldblueplace
August 26, 2014 at 8:12 pmund lieben Dank für die umarmende Kraftspende – ich glaube, die hat ein bisschen geholfen…
Kai
Mariki
August 24, 2014 at 2:29 pmIch fand das Buch so so so toll!
http://buecherwurmloch.wordpress.com/2014/07/10/brittani-sonnenberg-heimflug/
Mara
August 26, 2014 at 8:16 amLiebe Mariki,
ach, schön zu hören, dass es dir ebenso gut gefallen hat, wie mir! 🙂