Elisabeth de Waal ist die Großmutter von Edmund de Waal, der vor drei Jahren die Geschichte seiner Familie niederschrieb und unter dem Titel Der Hase mit den Bernsteinaugen veröffentlichte. Im Vorwort von Donnerstags bei Kanakis erzählt Edmund de Waal davon, wie er den Roman seiner Großmutter, der zu ihren Lebzeiten nie veröffentlicht wurde, gelesen und empfunden hat.
Elisabeth de Waal wurde 1899 als Elisabeth von Ephrussi geboren und wurde damit Teil einer jüdischen Familiendynastie in Wien. Geschrieben hat sie schon immer: für den Figaro, später dann für das Times Literary Supplement. Auch Romane hat sie geschrieben, wenn sie nicht gerade mit Rilke über ihre große Leidenschaft des Dichtens konferierte. Doch alle fünf Texte von ihr blieben während ihrer Lebzeiten unveröffentlicht. Donnerstags bei Kanakis hat Elisabeth de Waal auf Englisch niedergeschrieben und es ist – dreiundzwanzig Jahre nach ihrem Tod – der erste Roman von ihr, der in die Buchläden gelangt.
Auch im gesellschaftlichen Umgang würde er die Gewissheit der Zugehörigkeit nicht finden, und wenn er sich dieses Dazugehörens nicht sicher warm dann hätte es keinen Sinn gehabt, zurückgekehrt zu sein; er musste zu den Wirzeln, den Wurzeln.”
Die Geschichte spielt im Wien der fünfziger Jahre, der Krieg ist vorbei, doch es ist nichts mehr so, wie es zuvor gewesen ist: Gebäude sind zerstört, Geschäfte mussten schließen, das Geld ist knapp und die Kriegstraumata immer noch allzu präsent. Die ganze Gesellschaft muss sich neu strukturieren. Das alte Adelsgeschlecht, das vor dem Kriegsausbruch ein unbeschwertes Leben führte, findet sich plötzlich in einer befremdlichen Welt wieder: alle Privilegien, allen Status haben sie verloren. So findet sich Nina Grein, die eigentlich Prinzessin von Grein-Lauterbauch ist, plötzlich als niedere Hilfskraft in einem wissenschaftlichen Labor wieder. Anpassungsschwierigkeiten an die neue Realität, die kennt auch Kuno Adler. Vor dem Krieg hat er das richtige Gespür gehabt und ist rechtzeitig mit Frau und Kindern ausgereist, um in den folgenden fünfzehn Jahren erfolgreich in den USA tätig zu sein. Erfolg bedeutet jedoch nicht immer Zufriedenheit. Kuno Adler hat Heimweh, er vermisst Wien und all das, was er jemals damit verbunden hat. Er lässt Frau und Kinder zurück, um aus dem sicheren Exil nach Hause zurückzukehren. Doch schnell muss Professor Adler feststellen, dass ihm sein Zuhause fremd geworden ist: plötzlich kämpfen ganz unterschiedliche Empfindungen in ihm, nicht nur die Heimatliebe, sondern auch Zorn und Verzweiflung. Der Ort, an dem Kuno Adler groß geworden ist, der Ort, der seine Identität, sein ganzes Sein geprägt hat, hat sich plötzlich so sehr verändert, dass er ihn kaum noch wiederkennt. Im Exil hat er eine sichere Stellung aufgegeben, um in Wien wieder ganz unten anfangen zu müssen: obwohl er schon fünfzig Jahre alt ist, wird Professor Adler nur als Assistent eingestellt.
Wieder dort, wo er bereits gewesen war! Das war es, was Restitution, was Wiedereinsetzung bedeutete. Aber was man, noch in seinen Dreißigern, für richtig, für angemessen, für ein Versprechen auf die Zukunft gehalten hatte, sah in den Fünfzigern nicht mehr so aus. Die Zeit war nicht stehengeblieben.
Ganz anders ist die Rückkehr nach Wien für den Millionär und Lebemann Theophil Kanakis, er kehrt mit den Taschen voller Geld zurück und möchte sich die Kriegswirren zu nutze machen, um günstig Immobilien aufzukaufen. Er träumt davon, einen kleinen Pavillon wieder aufbauen zu lassen, um sich dort mit allerlei irdischen Freuden zu vergnügen: er wird von zahlreichen interessanten Persönlichkeiten besucht und umgibt sich am liebsten mit jungen Männern. Als eines Tages die wunderschöne Marie-Therese auftaucht, die von allen nur Resi genannt wird, nimmt das Schicksal für ihn eine ganz neue Wendung …
Seine Einsamkeit dort war wie eine unheilbare Krankheit gewesen, bei der es keine Hoffnung auf Besserung und keine tröstlichere Aussicht gab als den Tod. Aber sein gegenwärtiges Alleinsein, das begann er zu verstehen, war einfach eine Begleiterscheinung des Alterns, der Reife, und wenn es Einschränkungen gab, dann würde es auch einen Ausgleich und eine Bereicherung geben.
Elisabeth de Waal konzentriert sich intensiv und mit großer Liebe für das Detail auf all diese Charaktere und Figuren, verfolgt ihre Lebenswege, nimmt Anteil an ihren Sorgen, ihren Nöten und Gedanken. Ihre Beobachtungen zeichnen sich durch eine große Feinfühligkeit und Zärtlichkeit aus. Wobei sie nicht nur ihre Figuren ganz genau beobachtet, sondern auch alles, was um diese herum geschieht: es ist vor allem die Zeit des Umbruchs, die sich bei Elisabeth de Waal zwischen den Zeilen Bahn bricht. Sie beschreibt den Übergang von einer alten, in eine neue Welt – erzählt von den damit neu erwachenden Möglichkeiten, warnt aber auch davor, was geschehen kann, wenn man in der alten Zeit und in veralteten Denkmustern haften bleibt. Der Schlusspunkt des Romans ist fulminant und doch irgendwie zwangsläufig.
Donnerstags bei Kanakis ist ein leiser und nostalgischer Roman, dem man die ein oder andere Länge verzeihen kann. Elisabeth de Waal erzählt einfach so gekonnt und atemberaubend von Heimat, Exil und davon, was es bedeutet, nach Hause zurückzukehren, dass ich am liebsten immer weiter gelesen hätte.
8 Comments
Desirée Löffler
August 12, 2014 at 4:14 pmHach, da stand ich eben in der Buchhandlung noch vor, habe mich dann aber für ein finnisches Buch entschieden. Das sieht auch ganz toll aus – Eis heißt es -, trotzdem wünsche ich mir jetzt, nachdem ich Deine Rezension gelesen habe, ich hätte doch diesen Roman mitgenommen. Na, was soll’s, bald hab ich Geburtstag…
Mara
August 12, 2014 at 4:16 pmLiebe Desirée,
was für ein toller Zufall, was für eine tolle Geschichte! 🙂 “Eis” steht übrigens auf meiner Wunschliste, da wäre ich sehr auf deine Eindrücke gespannt. Ansonsten kann ich dir diesen Roman nur ans Herz legen – ganz anders, als vieles, was heutzutage erscheint, aber sehr lesenswert.
Liebe Grüße und ich drücke dir die Daumen, dass du das Buch geschenkt bekommst! 🙂
dj7o9
August 12, 2014 at 5:15 pmklingt gut – kommt aber mal sofort auf die Wunschliste. Danke für die tolle Rezension 🙂
Mara
August 16, 2014 at 9:01 amFreut mich sehr! 🙂 Der Roman ist so ganz anders, als vieles andere, das heutzutage erscheint, aber unheimlich lesenswert – auf deine Meinung wäre ich sehr gespannt! 🙂
flattersatz
August 12, 2014 at 5:19 pmoje, schon wieder ein MUSS. nachdem mir der hase mit seinen bernsteinaugen anfang januar so begeisternd zublinzelt hat, komm ich um die mutter nicht drum herum. danke, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast!
lg
fs
Mara
August 16, 2014 at 8:59 amLieber flattersatz,
ach, über deinen Besuch freue ich mich sehr und noch mehr darüber, dass dich meine Besprechung neugierig machen konnte. Ich habe den Hasen mit den Bernsteinaugen auch unheimlich gerne gelesen und dieses Buch steht dem nicht nach, es ist zwar ein Roman, dieser lässt sich aber auch schon fast als Autobiographie lese. 🙂
Liebe Grüße
Mara
skyaboveoldblueplace
August 13, 2014 at 1:27 pmLiebe Mara,
das ist ein schönes Déja Vù. Das Buch habe ich vor ein paar Monaten gelesen, eben weil ich vorher den Bernsteinhasen mit Begeisterung verschlungen und gehofft hatte, dass das Talent in der Familie liegt. Das tut es eindeutig – und die Familiengeschichte als Thema fliesst ja auch in diesen wunderbar altmodischen und wie Du so treffend schreibst leisen Roman als Erfahrung von Exil und Heimatlosigkeit ein. Ich habe es sehr gerne gelesen und kann Deine Besprechung nur in allen Facetten, die Du herausarbeitest unterschreiben. Es ist ein sehr sehr lesenswerter Roman für Leute, den man nur weiterempfehlen kann.
Liebe Grüsse
Kai
Mara
August 16, 2014 at 8:50 amLieber Kai,
schön, dass du das Buch auch gelesen hast und noch schöner, dass es dich auch begeistern konnte. Ich habe den Hasen mit den Bernsteinaugen bereits vor einigen Jahren gelesen, dieses besondere Gefühl beim Lesen ist aber in diesem Roman sofort wieder aufgeflammt. Die Familiengeschichte ist wirklich außerordentlich beeindruckt und es erstaunt mich sehr, dass Elisabeth de Waal zu ihren Lebzeiten nie einen Verlag finden konnte für ihre Texte.
Altmodisch ist der Roman in gewisser Hinsicht sicherlich, ich habe das aber sehr genossen, diese Ruhe und Langsamkeit. Ein ganz anderes Tempo im Vergleich zu vielen modernen Romanen, ich habe das aber als sehr passend empfunden.
Liebe Grüße
Mara