Lutz Seiler steht mit seinem Roman Kruso auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis und das vollkommen zu Recht. Er erzählt von einer Gemeinschaft der Schiffbrüchigen, von einer ungewöhnlichen Freundschaft, von der Insel Hiddensee und vom Ende der DDR. Kruso ist voller Poesie und ein wahrlich großer und großartiger Roman.
Lutz Seiler erzählt eine Geschichte in dessen Zentrum die verwunschene Ostseeinsel Hiddensee steht. Hiddensee war eine Nische für Andersdenkende, die im Gegensatz zur umzäunten DDR Flucht und Freiheit versprach und zahlreiche Urlauber anzog, für die es in den spärlich vorhandenen Privatquartieren kaum genug Platz gab. Hiddensee war die einzige bewohnte Insel, die ohne Anbindung zum Festland war. Die Nähe zu Dänemark machte sie zum Grenzgebiet, gleichzeitig war die Insel aber auch Rückzugsort vieler Intellektueller, die vor dem Regime flohen und sich mit Saisonarbeit über Wasser hielten. Manche von ihnen wagten die Flucht durch die Ostsee, nur wenige kamen an. Nach Hiddensee fuhr man, um aus dem eigenen Leben zu fliehen. Man könnte auch von Gestrandeten sprechen, von Schiffbrüchigen. Hiddensee umwehte ein Hauch von Romantik, ein Gefühl von Freiheit und die Atmosphäre eine große, gemeinsame Familie zu sein.
Sicher, er hatte Experten gehört, die behaupteten, dass Hiddensee im Grunde schon außerhalb läge, exterritorial, eine Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen. Andere nannten sie das Capri des Nordens, auf Jahrzehnte ausgebucht.
In Kruso erzählt Lutz Seiler von Edgar Bendler, der 1989 aus seinem Leben flieht und nach Hiddensee reist. Ein Unglück hat alles aus den Fugen geraten lassen. Plötzlich fühlt er sich als Eindringling in seinem alten Leben, fremd – wie ein Mann ohne Land. Edgar, der von allen nur Ed genannt wird, hat als junger Mann zunächst eine Bauarbeiterlehre absolviert, später studierte er dann in Halle Germanistik. Als er flieht, schreibt er gerade an einer Doktorarbeit über den Dichter Trakl. All das lässt er zurück, nur die memorierten Verse nimmt er im Kopf mit nach Hiddensee. Was Auslöser für diese Flucht gewesen ist, erfährt man erst spät. (“[…] aufgelaufen, ein Wrack, erst vierundzwanzig Jahre alt und schon ein Wrack.”)
Am Ende aller Reden schien Hiddensee ein schmales Stück Land von mythischem Glanz, der letzte, der einzige Ort, eine Insel, die immer weiter hinaustrieb, außer Sichtweite geriet – man musste sich beeilen, wenn man noch mitgenommen werden wollte.
Im Klausner, einem Gasthof auf Hiddensee, heuert Ed als Abwäscher an. Nur noch der Leuchtturm trennt den Gasthof von der Ostsee, der Klausner ist letzter Inselzipfel. Ed wird Esskaa, eine Saisonkraft. Es ist das erste Mal seit der Lehre als Bauarbeiter, dass Ed wieder mit harter Arbeit konfrontiert wird – er hat das Gefühl, nach Hause zu kommen. Wieder bei sich anzukommen. Das Arbeitsaufkommen ist enorm, die Schilderungen am Abwaschbecken muten schon fast surrealistisch an. Seine Arbeitskollegen nennen sich Rimbaud und Cavallo, beide sind promoviert und im Klausner gestrandet, um Zuflucht vor dem Regime zu finden. Im Klausner lernt Ed auch Kruso kennen, der eigentlich Alexander Krusowitsch heißt, aber von allen nur Kruso genannt wird, von einigen aber auch Losch. Kruso ist eine außergewöhnliche Erscheinung, Sohn einer Artistin. Stiefsohn eines Strahlenforschers. Bruder einer im Meer gestorbenen Schwester. Kruso ist so etwas wie ein Anführer, Oberhaupt der Esskaas, Verwalter der Schiffbrüchigen und Gestrandeten. Er verwaltet diejenigen, die wie Wracks an der Küste Hiddensees auflaufen und verteilt sie auf die Quartiere. Krusos Dichtergeist macht aus dem Gasthof eine Arche, die Tag für Tag von den Saisonkräften gerettet und auf Kurs gehalten werden muss.
Erlösung vom Beruf. Vom Mann. Vom Zwang. Vom Staat. Von der Vergangenheit, nicht wahr, Ed? Es klingt wie ein Versprechen, und alle kommen, und hier beginnt sie, unsere Aufgabe, der Ernst unserer Sache. Das heißt: Drei Tage, und sie sind eingeweiht. Wir schaffen drei oder vier Tage für alle, für jeden, und wir schaffen damit eine große Gemeinde, die Gemeinschaft der Eingeweihten.
Im Spätsommer 1989 zerbricht die einstige Gemeinschaft. Nacheinander verschwindet die Besatzung des Klausners – zurück bleiben Kruso und Ed, die eine enge aber auch verstörende Freundschaft verbindet. Es sind nicht nur die Gedichte Trakls, die das Fundament dieser Freundschaft sind, sondern vor allem das Wissen darum, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren.
Das ist Hiddensee, Ed, verstehst du, hidden – versteckt? Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung, die es ihnen erlaubt, zurückzulehren, als Erleuchtete. Eine Erfahrung, die es ermöglicht, das Leben weiterzuleben, bis zu dem Tag, an dem Quantität in Qualität umschlägt, an dem das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt, jenem Moment … Ein großes Pochen wird das sein, ein einziger donnernder Herzschlag.”
Lutz Seiler hat mit Kruso einen großen und großartigen Roman geschaffen, der nicht nur durch Poesie besticht, sondern auch durch eine Erzählung, die aus ganz vielen Schichten besteht: eine dieser Schichten ist das Ende der DDR, eine andere die sagenumwobene Insel Hiddensee. Es geht um Flucht, um Freiheit, um Ostseetote, um Politik und darum, was mit den Menschen geschieht, die sich an der herrschenden Politik nicht beteiligen wollen, die eine Nische suchen, in der sie frei von allem leben, lesen, schreiben können. Es geht aber auch um Freundschaft, um die Initiation in die Liebe, um Literatur und es geht um – der Titel deutet es bereits an, denn im Namen Kruso schwingt natürlich auch Robinson Crusoe mit – Abenteuer. All das wird in einer herrlichen Poesie erzählt, in Bildern, die sich mir eingebrannt haben. Lutz Seiler sprengt dabei bewusst die Grenzen der Realität, Kruso hat auch eine surrealistische Ebene. Vieles von dem, das Ed erlebt, mutet traumhaft an. Trotz dieser Vielfalt an Themen, droht der Roman an keiner Stelle, unter dieser Last zusammenzubrechen. Ganz im Gegenteil: Kruso ist von Lutz Seiler mit sanfter Hand komponiert worden.
Kruso ist ein Roman, der nicht nur zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis steht, sondern diesen Preis auch verdient hätte. Ja, gar erhalten müsste.
20 Comments
Drittgedanke
September 22, 2014 at 11:56 amFreue mich sehr darauf loszulesen! Für den Buchpreis stehen Krusos Chancen nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass Titel mit Bezug zur Neueren Deutschen Geschichte – “Der Turm” von Tellkamp, oder “In Zeiten des abnehmenden Lichts” von Ruge – dort bisher eine gute Plattform gefunden haben. Bin gespannt.
Mara
September 24, 2014 at 2:36 pmIch teile deine Einschätzung, dass Krusos Chancen wohl sehr gut stehen – als einzigen Konkurrenten sehe ich bisher Thomas Hettche. Ich bin auf jeden Fall gespannt, wie dir der Roman gefallen wird. 🙂
dasgrauesofa
September 22, 2014 at 12:10 pmLiebe Mara,
ich bin ja noch dabei, Kruso zu lesen und habe noch einiges vor mir. Von den Romanen der Longlist, die ich gelesen habe, ist “Kruso”, so wie Du es auch findest, wirklich der beste. Er hat eine Handlung (und das ist ja nicht bei allen Romane so deutlich gewesen) und eine wunderbare Sprache, die eine ganz eigene Atmosphäre schafft – Du hast das wohl mit dem Begriff “traumhaft” beschrieben. Ich bin wirklich froh, dass ich noch ein großes Stück Lektüre vor mir habe.
Viele Grüße, Claudia
Mara
September 24, 2014 at 2:35 pmLiebe Claudia,
ach, dann bin ich schon gespannt darauf, wie dir der Roman gefallen wird. 🙂 Deiner Einschätzung stimme ich übrigens zu, wobei ich nun auch die Pfaueninsel heute morgen ausgelesen habe und ebenfalls sehr begeistert bin: Handlung, Sprache … alles stimmt. Du solltest das Buch eventuell doch noch lesen, wirklich!
Liebe Grüße
Mara
Martina Ramsauer
September 22, 2014 at 1:30 pmIch möchte mich einfach nur für diese spannende Einführung in diesen Roman bedanken.
Mara
September 24, 2014 at 2:27 pmLiebe Martina,
und ich danke dir für deinen Besuch und freue mich, dass du meine Annäherung an den Roman mit Interesse gelesen hast! 🙂 Falls du das Buch lesen solltest, dann berichte doch bitte, wie es dir gefällt.
Liebe Grüße
Mara
Martina Ramsauer
September 24, 2014 at 4:55 pmLiebe Mara,
das werde ich gerne tun,:) aber du musst ein bisschen Geduld haben, weil es da doch recht viele Bücher gibt, die darauf warten von mir gelesen zu werden.
L.G. Martina
Mara
September 26, 2014 at 10:45 amLiebe Martina,
selbstverständlich, denn das Problem kenne ich nur zu gut! 😉
buchpost
September 22, 2014 at 2:50 pmMuss wohl endlich mal anfangen, noch liegt der Roman hier ungelesen 🙂
Mara
September 24, 2014 at 2:20 pmNa, dann aber ran! Bin gespannt, wie dir Kruso gefallen wird! 🙂
Tom
September 22, 2014 at 3:43 pmLiebe Mara, vielen Dank! Ja, Kruso ist ein starkes Buch. Aber Lutz Seiler ist besser darin, Bilder zu malen und eindringlich zu beschreiben, als sie dann als Roman zusammenzufügen. Das Buch hat sehr dichte atmosphärische Stellen und eindringliche Szenen. Insgesamt halte ich aber Thomas Hettches ‘Pfaueninsel’ für den geglückteren Roman. Lutz Seiler überpoetisiert mir zu sehr und lässt die Bilder dadurch mitunter zu lange stehen. Großartig allerdings die letzten vierzig Seiten des Epilogs! Manche Bilder und Begriffe werde ich auch nicht so schnell vergessen: den Lurch, Viola oder die Honigbibliothek etwa. 🙂
Mara
September 24, 2014 at 2:24 pmLieber Tom,
deinen leicht kritischen Anmerkungen kann ich mich in Teilen vielleicht sogar anschließen. Vieles hat mir an der poetischen Sprache sehr gut gefallen, manchmal fehlten aber natürlich auch die Verbindungslinien zwischen all den Bildern. Ausgeglichen hat das für mein Empfinden der Epilog, der mich unheimlich begeistert hat. Interessant übrigens, dass du die Honigbibliothek erwähnst, die hat sich mir irgendwie auch eingebrannt.
Die Pfaueninsel habe ich übrigens heute morgen ausgelesen und war sehr angetan, ein schöner Roman, auch wenn ich mir noch nicht sicher bin, ob ich ihn stärker als Kruso bewerten würde. Marie ist mir aber auf jeden Fall sehr ans Herz gewachsen.
Liebe Grüße
Mara
masuko13
September 22, 2014 at 5:11 pmFinde deine Rezenison sehr gelungen, liebe Mara.
Was das Überpoetisieren angeht, da stimme ich wiederum Tom zu.
Und, ja! Der 40seitige Epilog ist einfach grandios. Davon hätte ich mir mehr gewünscht.
Mara
September 24, 2014 at 2:19 pmLiebe Masuko,
ich danke dir für dein Lob. Bei eurer Anmerkung bezüglich der Überpoesierung stimme ich vielleicht leicht zu, meine Rezension habe ich unter dein Eindrücken des Epilogs geschrieben, der mich wirklich umgehauen hat. Schade, dass er nicht noch mehr Raum im Roman bekommen hat …
Deine Besprechung habe ich auch sehr gerne gelesen, vor allem auch wegen des passenden Settings. Kannst du das Buch, dass du als Zusatzlektüre erhalten hast, empfehlen?
Liebe Grüße
Mara
masuko13
September 24, 2014 at 7:18 pmOh ja, der Epilog!! Da steckt so viel drin. Unbedingt zu empfehlen ist auch “Über die Ostsee in die Freiheit” von Christine und Bodo Müller. Ich bekomme jedesmal eine Gänsehaut und lese nur in kleinen Schüben. Das Thema Ostsee und Flucht hat so unglaublich viel Potential. Stimmt, wäre wirklich schön gewesen, wenn man davon noch mehr im Roman “Kruso” gespürt hätte. Allein die Geschichte um Speiche, den Freund, gibt doch jede Menge Stoff.
Auch dir liebe Grüße, Masuko
Mara
September 26, 2014 at 10:39 amLiebe Masuko,
danke für die Empfehlung, das Buch von Christine und Bodo Müller habe ich mir notiert, wie erstaunlich, dass dieses interessante Thema literarisch bisher noch kaum behandelt wurde. Ich glaube, dass Lutz Seiler einer der ersten ist, der sich den Ostseeflüchtlingen angenommen hat.
Liebe Grüße
Mara
jancak
September 23, 2014 at 6:46 amDas wär auch ein Roman für mich, da mich das Leben in der Ex-DDR ja sehr interessiert, mal sehen ob er noch zu mir kommt. Vorläufig habe ich ja noch die Marion Poschmann vom letzten Jahr zu lesen und noch einiges andere auf meiner Liste
Mara
September 24, 2014 at 2:10 pmLiebe Eva,
Kruso setzt sich wirklich beeindruckend mit dem Ende der DDR auseinander, vor allen Dingen auch im sehr lesenswerten Dialog. Falls du dich doch noch für eine Lektüre entscheidest oder das Buch auf verschlungenen Wegen zu dir kommt, bin ich schon gespannt, wie es dir gefallen wird.
Liebe Grüße
Mara
Lutz Seiler gewinnt mit „Kruso“ den Deutschen Buchpreis
October 9, 2014 at 7:25 am[…] bespricht auf Buzzaldrins Bücher „Kruso“ mit großer Begeisterung. Der Roman bestehe aus vielen Schichten, die […]
• Lutz Seiler und “Kruso” – Gewinner des Deutschen Buchpreises 2014
November 28, 2014 at 12:58 pm[…] Vielen Dank an buzzaldrins Bücher für ihre Geduld. Maras Besprechung des Titels findet ihr hier. […]