Trümmergöre – Monika Held

Monika Held legt mit Trümmergöre einen lesenswerten Roman über das Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit vor und erzählt dabei die Geschichte von Jula, die als Trümmergöre im Hamburg der Nachkriegszeit aufwächst und als Erwachsene darüber nachdenkt, in die Vergangenheit zurückzuziehen.

DSC_3976

Böse Geschichten kommen nur zur Ruhe, wenn sie sich irgendwo niederlassen dürfen.

Während sich Monika Held in Der Schrecken verliert sich vor Ort noch mit Auschwitz und dem Holocaust beschäftigt, wendet sie sich in ihrem neuen Roman dem Leben der Nachkriegszeit zu. Jula wächst als Diplomatentochter auf, doch mittlerweile ist sie erwachsen und sucht für sich und ihren Lebenspartner eine gemeinsame Wohnung. Es ist ein Zufall, der sie auf eine ganz besondere Wohnungsanzeige stoßen lässt: das Haus, in dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht hat, steht zum Verkauf. Es ist das Haus, in dem sie mit ihrer Großmutter gelebt hat. Und es ist das Haus, in dem auch ihr Onkel Hans wohnte. All das liegt schon viele Jahre zurück, doch die zufällig entdeckte Anzeige reicht aus, um das Vergangene sofort wieder zurück in das Gedächtnis zu spülen. Jula beschließt die Wohnung zu besichtigen, doch mit dem Moment, in dem sie das Haus betritt, wird aus der geplanten Wohnungsbesichtigung eine schmerzhafte Reise zurück in die Vergangenheit.

Die Reise in die Zeit beginnt mit einer Kartoffel, einem scharfen Messer und der Zeitung von gestern. Ich schäle die Kartoffel wie meine Großmutter. Von oben nach unten, immer im Kreis herum, ohne das Messer abzusetzen. Am Ende liegen zwischen sandigen Girlanden Wortreste, Buchstaben und Silben, aus denen wir kranke Tiere machten. 

Als Jula vier ist, lässt ihr Vater sie bei der Großmutter zurück, um seiner Arbeit als Diplomat nachzugehen. Doch die Großmutter bewohnt das Haus nicht alleine, denn da gibt es auch noch Onkel Hans, der zwar in einem Haus mit seiner Mutter lebt, doch ansonsten nichts mit ihr zu tun haben möchte. Es gleicht einem bedrückenden Kammerspiel, wenn beide immer wieder umeinander kreisen – im Versuch sich so wenig wie möglich zu begegnen, wenn sie sich doch sehen, sprechen sie nicht miteinander. Nur Jula erhält Zutritt zum Zimmer des Onkels, ab und an nimmt er sie auch mit auf den Gebrauchtwagenplatz – dort arbeitet er. Onkel Hans gibt Jula all das, was ihr von ihrem Vater vorenthalten wird, er hört ihr zu, ist für sie da. Doch dem Leben, das er führt, fehlt die kindgerechte Version. Schnell lernt Jula, dass man nicht alles, was man tagsüber erlebt habe, abends erzählen müsse. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und wer schweigt, kann nicht lügen. Onkel Hans führt sie in eine Welt ein, in der sie auf allerhand seltsame Gestalten trifft, eine Welt mitten im Hamburger Kiez.

Zwei Mal sagte Großmutter streng: Dreh dich um, Rudolf! Tu es für das Kind! Ich flüsterte: Dreh dich um, Vati, du hast mich hier vergessen, bitte dreh dich um. Ich winkte wild mit beiden Händen, das müsste er, dachte ich, im Rücken spüren. Ich schlug die Fäuste gegen die Scheibe. Er verschwand im Schnee, er löste sich vor meinen Augen einfach auf.

Obwohl Jula noch ein kleines Kind ist, als sie ihren Onkel kennenlernt, merkt sie schnell, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Den schönen Erinnerungen an ihre Kindheit haftet ein Schmerz an, für den es kaum Worte gibt. In der Wohnung, in die sie  als junge Frau wieder zurück ziehen möchte, ist sie erwachsen geworden – auf schmerzhafte Art und Weise und viel zu schnell. Monika Held macht deutlich, dass eine Vergangenheit vergangen sein kann, doch manchmal nie ganz vergessen wird. Onkel Hans hat Jula nicht den ersten Schmerz ihres Lebens zugefügt, aber den größten – davon erzählt Monika Held erst sehr viel später, doch das Wissen darum, dass es da eine offene und eitrige Wunde gibt, die nie so ganz verheilen konnte, ist das ganze Buch über präsent.

Lieber Gott, sag ihm, dass er umkehren muss. Wenn er schläft, weck ihn auf. Ich habe noch Schleifen in den Zöpfen und niemand hat mir die Haare gebürstet.

Mit kurzen Sätzen und wenigen Worten gelingt es Monika Held auf beeindruckende Art und Weise die Geschichte von Jula zu erzählen. Es ist eine Geschichte, die mich sehr berührt hat, eine Geschichte, die ich so schnell nicht vergessen werde. Monika Held erzählt nicht einfach nur, sondern schreibt Sätze von einer solchen Kraft und Schönheit, dass sie sich tief in in mein Herz gemeißelt haben. Ihre Figuren sind mit sanften Strichen gezeichnet, man kommt ihnen so nah, dass ihr Schmerz und ihre Verletzlichkeit manchmal nur schwer zu ertragen sind. Jula, ihre Großmutter und Onkel Hans teilen ein Schicksal, ihnen allen wurde Schmerz zugefügt – wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Ich glaube, dass Monika Held zu den wichtigsten Autorinnen unserer Zeit gehört – es ist beeindruckend, wie es ihr gelingt, die Schicksale ihrer Figuren mit Leben zu füllen und mit so viel Wärme und Liebe von ihnen zu erzählen.

Monika Held ist mit Trümmergöre ein großartiger Roman gelungen, der mich nicht nur beeindruckt hat, sondern auch tief berührt. Ich hoffe, dass die Geschichte von Jula und ihrem geliebten Onkel Hans noch viele Leser und Leserinnen finden wird. Dieses Buch hätte es verdient.

8 Comments

  • Reply
    Lara
    February 4, 2015 at 6:49 pm

    Eine Autorin, die ich auf die Wunschliste setze. Deine Bewertung macht Lust auf dieses Buch!
    Lg Lara

    • Reply
      Mara
      February 6, 2015 at 2:34 pm

      Das freut mich sehr! Monika Held ist wirklich eine sehr spannende Autorin und auch ihr anderer Roman – “Der Schrecken verliert sich vor Ort” – ist eine ganz große Empfehlung. Ich hoffe darauf, dass Monika Held noch von vielen entdeckt wird. 🙂

  • Reply
    herbstblatt101
    February 4, 2015 at 9:39 pm

    Liebe Mara,
    wie schmackhaft du mir das neue Buch von M. Held machst. Die wenigen Worte die du aus “Trümmergöre” zitierst; und das was du während des Lesens empfunden hast, erfüllt mich mit Neugier. Schön geschrieben!

    • Reply
      Mara
      February 6, 2015 at 2:32 pm

      Danke dir, über deinen Kommentar freue ich mich sehr! 🙂 Mir hat das Buch wirklich ausgesprochen gut gefallen und ich kann es nur empfehlen – genauso wie ihren ersten Roman, der mir sogar noch ein kleines bisschen besser gefallen hatte.

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    February 6, 2015 at 5:21 pm

    Ach Mara,
    ich hatte mir für die nächsten Wochen eigentlich vorgenommen, nur Bücher zu lesen, die schon hier überall ungelesen rumliegen – aber nun werd ich da wohl eine Ausnahme machen müssen. Deine Besprechung hat mich besprochen…
    Liebe Grüsse
    Kai

  • Reply
    Zauberhafte Göre. | Klappentexterin
    April 12, 2015 at 9:34 am

    […] Buzzaldrins Bücher > Petra Hartlieb bei »Hartliebs […]

  • Reply
    Der Mai im Schnelldurchlauf – ein Rückblick | Frau Hauptsachebunt
    June 1, 2015 at 3:18 pm

    […] Weiter ging es mit “Du neben mir” von Nicola Yoon, erscheint voraussichtlich am 17.09.15 bei Dressler. Auf diese Geschichte folgte dann “Trümmergöre” von Monika Held. Da das Buch bereits im letzten Jahr erschienen ist, und ich somit ganz offiziell in Begeisterungsstürme ausbrechen darf: Kaufen! Lesen! Ich habe es leider noch immer nicht geschafft, eine Rezension zu schreiben, und ich bezweifel auch recht stark, dass ich das überhaupt noch nachhole, aber dieses Buch müsst ihr einfach lesen. Eine fabelhafte Besprechung dazu findet ihr bei Mara. […]

Hinterlasse hier Deinen Kommentar ...

%d bloggers like this: