J. D. Salingers Leben glich am Ende einem Mythos – doch wer war eigentlich der Mann hinter diesem Mythos? Auf diese Frage versucht die große Biographie Salinger: Ein Leben von David Shields und Shane Salerno Antworten zu finden.
J. D. Salinger hat mit seinem Werk, mit seinem Leben ein bleibendes Zeichen gesetzt.
Diese Worte von Denis Scheck sind schon fast erstaunlich, wenn man bedenkt, dass J. D. Salinger lediglich ein schmales Oeuvre hinterlassen hat: vier Bücher hat er zu Lebzeiten veröffentlicht. Eines davon war Der Fänger im Roggen, bei den anderen handelte es sich um kurze Erzählungen. 1963 hat Salinger zum letzten Mal etwas veröffentlicht und die Frage, ob er danach weiter schrieb, ist Teil des geheimnisvollen Mythos, der diesen Autor auch noch nach seinem Tod umgibt. Wie ist es also möglich, dass ein Schriftsteller, der lediglich vier schmale Bücher veröffentlichte und ein Leben weitab der Öffentlichkeit führte, tatsächlich ein bleibendes Zeichen setzen konnte?
Salingers schmales Werk – das aus vier nicht besonders umfangreichen Büchern besteht – besitzt einen kulturellen Stellenwert und eine Durchschlagskraft, die in der modernen Literatur nahezu unerreicht bleiben. Über ein halbes Jahrhundert war es unter Kritikern und Lesern ein beliebter Zeitvertreib, seine Person anhand seiner Werke zu ergründen, da er sich selbst nicht äußern wollte. Salingers erfolgreiche narrative Selbsterfindung, seine obsessive Zurückgezogenheit und sein sorgfältig gehüteter Tresor – in dem er all die Arbeiten lagerte, die er nicht veröffentlichen wollte – trugen dazu bei, eine unangreifbare Legende zu schaffen.
J. D. Salinger wurde nicht nur über Nacht mit einem einzigen Buch berühmt, sondern gleichzeitig auch noch zu einem Kultautor einer ganzen Generation. Doch der schlagartige Ruhm, den ihm Der Fänger im Roggen bescherte, trieb Salinger in die Flucht. Er flüchtete bis nach Cornish, wo er bis zu seinem Tod zurückgezogen und hinter hohen Grundstücksmauern lebte. Von dort aus meldete er sich noch vereinzelt zu Wort und veröffentlichte die eine oder andere Erzählung, bevor er sich von 1965 an schließlich ganz aus der Öffentlichkeit zurückzog. Das minderte in den folgenden Jahren aber nicht das Interesse an seiner Person: seine Fans pilgerten genauso regelmäßig zu seinem Grundstück nach Cornish, wie Journalisten und Fotografen versuchten, einen Blick auf den Autor zu erhaschen. Dafür lagen einige von ihnen manchmal sogar tagelang auf der Lauer. Doch die Versuche blieben meistens vergeblich, kaum einer fand etwas über Salinger heraus. Die Frage, ob er nach 1965 noch geschrieben hat, ist eine Frage, die auch nach seinem Tod unbeantwortet blieb. Viele hofften darauf, dass die Erben nach Salingers Tod wahre Schätze bergen können, doch bisher wurde noch nichts geborgen.
Wir wollten herausfinden, warum Salinger aufhörte zu publizieren, warum er von der Bildfläche verschwand und was er in den letzten fünfundvierzig Jahren seines Lebens geschrieben hat.
David Shields und Shane Salerno haben neun Jahre lang recherchiert, um das Geheimnis, das Salinger umgab, zu lüften: um dem Mythos näher zu kommen, zitieren sie aus Briefen, die Salinger an seine engsten Freunde schrieb, an Frauen, die er liebte und an seine Armeekameraden. Neun Jahre lang haben sie darüber hinaus mehr als zweihundert Interviews mit Menschen geführt, die Salinger gekannt haben.
Anhand von Material, das niemals zuvor publiziert worden ist – weit über hundert Fotografien, Notizen, Auszüge aus Tagebüchern, Briefe, Prozessmitschriften, eidesstattliche Aussagen und erst kürzlich freigegebene Militärakten -, hoffen wir, einige Tatsachen richtigstellen und einige wesentliche Erkenntnisse beisteuern zu können.
Die beiden Autoren nähern sich Salinger chronologisch an: ihre Erzählung beginnen sie in dessen Kindheit, die wenig spektakulär gewesen ist. Schon früh fasst Salinger den Beschluss, später mal ein berühmter Autor zu werden – sein größter Traum ist es, eine Kurzgeschichte im New Yorker zu veröffentlichen. Auch der Frauenwelt war er nicht abgeneigt: vor dem Krieg verliebte er sich in Oona O’Neill und obwohl die Beziehung zwischen den beiden platonisch blieb, sollte Salinger sein ganzes weiteres Leben darunter leiden, dass Oona ihn für Charlie Chaplin verließ. Im Krieg diente er dann als Staff Sergeant, war fast dreihundert Tage lange im Einsatz und überlebte fünf blutige Schlachten. Am Ende des Krieges befreite er mit seiner Einheit das Konzentrationslager Kaufering, ein Nebenlager von Dachau. Das, was er dort erlebte, wird er sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen können. Salinger lieferte sich damals selbst in ein Nürnberger Allgemeinkrankenhaus ein – er war nicht vorbereitet auf das, was er in Kaufering mitansehen musste und hatte einen psychischen Zusammenbruch erlitten. Niemand war darauf vorbereitet.
Salingers 12th Infantry Regiment landet am D-Day, dem 6. Juni 1944, mit knapp 3100 Soldaten am Utah Beach; Ende Juni werden etwa 2500 von ihnen gefallen sein. Salinger wird direkt mit den verheerenden Verlusten konfrontiert, die die gesamten alliierten Truppen und auch seine eigene Einheit hinnehmen mussten.
J. D. Salinger war während des Zweiten Weltkriegs fast dreihundert Tage lang mit dem Tod konfrontiert. Das, was er erleben musste, ist unvorstellbar. Zurückgekehrt ist er als anderer Mensch: es gibt ein Leben vor dem Krieg und eines danach, doch nichts wird mehr sein, wie es zuvor gewesen. Als Schriftsteller feiert Salinger nach dem Krieg seine größten Erfolge, doch statt weiter zu publizieren, zieht er sich zurück und verweigert sich den Forderungen der Öffentlichkeit. Salinger lebt jedoch keineswegs als Einsiedler, er pflegt vor allen Dingen zu jungen Mädchen Kontakt. Als sollten diese ihn zurück an die Zeit vor den Krieg und mit Oona erinnern – an die Zeit, in der der Krieg ihn noch nicht zerstört hatte. Einige dieser Mädchen sind später an die Öffentlichkeit gegangen, besonders bekannt ist wohl Joyce Maynard, die als achtzehnjähriges Mädchen Teil von Salingers Leben wurde, der damals mehr als vierzig Jahre älter war. Salingers Umgang mit jungen Mädchen ist seltsam und unverantwortlich; vor allen Dingen spricht daraus aber auch eine tiefe Traurigkeit.
Er verlor Oona O’Neill an Charlie Chaplin und mythologisierte seine Beziehung zu ihr für den Rest seines Lebens; fortan war er von Mädchen besessen, die sich an der Schwelle zum Erwachsenenwerden befanden, um sowohl diese verlorene Leben als auch die Zeit wieder aufleben zu lassen […].
Die Entscheidung von Salinger nicht mehr publizieren zu wollen, war eine schwerwiegende Entscheidung, für die David Shields und Shane Salerno zahlreiche – mitunter auch erhellende – Gründe finden, doch keine wirkliche Erklärung. Der Rechercheaufwand der beiden Autoren ist unbestritten, doch darüber hinaus gelingt es ihnen tatsächlich ein spannendes Porträt eines ungewöhnlichen Schriftstellers vorzulegen. Es ist ganz sicherlich kein schmeichelhaftes Porträt, aber ein höchst lesenswertes. Wer weiß, vielleicht gab es im Hause Salingers tatsächlich einen Tresor, in dem die vollendeten Romanmanuskripte lagen. Ich würde mich freuen und ich wäre gespannt darauf, was wir in diesen Texten entdecken könnten.
Das Besondere an dieser Biographie ist die Form, denn Salinger: Ein Leben ist nicht in einem Fließtext geschrieben, sondern liegt als oral history vor. Hunderte von Stimmen kommen zu Wort und werden als große Collage komponiert. Das ist ein ungewöhnlicher, aber interessanter Ansatz und sobald man sich an diese Form gewöhnt hat, wird man das Buch kaum noch aus der Hand legen können und all die unterschiedlichen Stimmen werden einen noch lange begleiten. So erging es mir zumindest und deshalb kann ich Salinger: Ein Leben nur empfehlen: all denjenigen, die Salinger kennen lernen wollen und all denjenigen, die ihn bereits kennen und etwas mehr über seine dunklen Seiten erfahren wollen.
David Shields und Shane Salerno: Salinger, ein Leben. Übersetzt aus dem Amerikansichen von Yamin von Rauch. Biographie. Droemer Verlag, München 2015. 825 Seiten, €34. Parallel zur Biographie ist eine Dokumentation erschienen, den Trailer gibt es hier.
10 Comments
Bri
April 22, 2015 at 1:25 pmNa das ist jetzt ein Muss, gerade weil ich erst Joanna Rakoff gelesen habe … die ja eine kleine Erklärung für seine Zurückgezogenheit liefert. Mara, ich hatte gehofft, Dein Urteil wäre ein anderes, alleine aus egoistischen Gründen … denen der Subbegrenzung …
Constanze Matthes
April 22, 2015 at 1:41 pmIch bin gerade dabei und finde diesen Ansatz, viele Stimmen zusammenzubringen, sehr spannend. Es erinnert mich sehr an die Form eines Dokumentarfilms über Personen oder geschichtliche Ereignisse, bei dem mehrere Zeitzeugen zu Wort kommen. Und diese Biografie ist sehr reich an interessanten Informationen auch unabhängig von der Person Salingers. Ich hoffe sehr, dass Dein wunderbarer Beitrag und diese Biografie dazu beitragen, dass solche Werke mehr gelesen werden. Viele Grüße
skyaboveoldblueplace
April 22, 2015 at 1:46 pmLiebe Mara,
das klingt ja sehr interessant, zumal Du mich mit dem Rakoff-Buch ziemlich angefixt hast. Aber es hat über 800 Seiten! Und ich habe noch sooo viele Bücher, die ich unbedingt lesen möchte. Na, ich werde es erstmal auf meine Liste nehmen und dann sehen wir weiter, obwohl… mich die besondere Form, auf die Du am Ende Deiner Besprechung hinweist schon sehr reizen würde.
Hin- und hergerissen Grüsse
Kai
Mara
April 22, 2015 at 2:04 pmLieber Kai,
vielleicht ist es für dich eine Entscheidungshilfe, wenn ich dir verrate, dass der Anhang mehr als hundert Seiten lang ist – das Buch hat also eigentlich nur siebenhundert Seiten. Das ist immer noch viel, aber wenn man erst einmal anfängt zu lesen, dann vergehen die Seiten wie im Flug – so erging es zumindest mir.
Und die Form ist tatsächlich ungewöhnlich, mitunter liest sich das Buch wie ein Drehbuch, aber die Form macht die Lektüre gleichzeitig auch sehr interessant und lesenswert.
Liebe Grüße
Mara
Nina
April 22, 2015 at 2:20 pmIch freue mich so sehr auf dieses Buch. Und wie es scheint, hätten es gerne noch ein paar Seiten mehr sein können. 🙂
Mara
April 22, 2015 at 8:24 pmOh ja, ich hätte wohl noch weitere 700 Seiten über Salinger lesen können. 🙂 Bitte berichte doch, wie dir das Buch gefällt, wenn du es gelesen hast!
Xeniana
April 22, 2015 at 5:10 pmBei mir kommt es auch auf den SUB:) Danke!
Mara
April 22, 2015 at 8:24 pmWie schön – ich bin gespannt, wie es dir gefallen wird! 🙂
thatyvo
April 23, 2015 at 7:59 pmStolzer Preis… den hätte ich vllt vor der Rezension lesen sollen, jetzt ist es schwer mich noch zurückzuhalten. Ach man!! 😀
Mara
April 28, 2015 at 5:36 pmIch habe ja mittlerweile gesehen, dass du dir das Buch doch bestellt hast – es ist nicht gerade günstig, für mein Empfinden lohnt sich die Investition aber. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass es dir ebenso gut gefallen wird!