Hilary Mantel erzählt in ihrer Autobiografie Von Geist und Geistern von ihrem bewegten Leben, ihrer Kindheit und den Geistern, die sie ihr Leben lang begleitet haben. Das Leben der Schriftstellerin wurde durch eine schwere Krankheit geprägt, doch Hilary Mantel hat nie den Mut verloren. Ihre Autobiografie ist schonungslos, offen und wunderbar mutmachend.
Früher habe ich gedacht, eine Autobiografie sei eine Form von Schwäche, und vielleicht denke ich das immer noch. Aber ich glaube auch, wenn du schwach bist, ist es kindisch, so zu tun, als wärst du es nicht.
Bekannt geworden ist Hilary Mantel als erste Frau in der Geschichte, die den Booker-Preis zweimal gewonnen hat. Ausgezeichnet wurde sie für ihre beiden historischen Romane Wölfe und Falken – zwei Bücher, die zur Zeit der Tudors spielen. Doch um ihre Erfolge als Schriftstellerin geht es in dieser Autobiografie nicht, ganz im Gegenteil: Hilary Mantel setzt sich mit den dunklen Momenten ihres Lebens auseinander, mit ihren Geistern, ihrer schwierigen Kindheit und einer Krankheit, die ihr Leben für immer verändern sollte.
Jetzt, da ich einen autobiografischen Text schreibe, lege ich jedes Wort auf die Goldwaage. Ist das Geschriebene klar – oder ist es täuschend klar? Ich sage mir, erzähle einfach, wie du dazu kamst, ein Haus mit einem Geist darin zu verkaufen. Aber diese Geschichte lässt sich nur einmal erzählen, und ich muss sie richtig hinbekommen.
Durch das Leben von Hilary Mantel zieht sich die Wahrnehmung einer zweiten Ebene, einer erweiterten Realität: da gibt es den Geist ihres Kindes, das sie nie bekommen konnte. Oder den Geist des Stiefvaters, der auch nach seinem Tode noch durch das Cottage in Norfolk spukt. Das Vorkommen von Geistern und Untoten mag sich leicht esoterisch anhören, doch diese Erscheinungen sind durch die Erkrankung der Autorin bedingt. Hilary Mantel leidet immer wieder an schweren Migräneanfällen mit Aurawahrnehmung. Nicht nur das Sprechen fällt ihr während dieser Zustände schwer, sondern auch die Wahrnehmung ist verzerrt. Die Migräneanfälle sind eine Begleiterscheinung von Hilary Mantels Erkrankung. Bereits als junges Mädchen hat sie sich jahrelang mit schweren Schmerzen gequält. Von Ärzten wurde sie belächelt, falsch diagnostiziert und schließlich als verrückt abgestempelt. Einige Zeit musste sie in einer Psychiatrie verbringen, doch mit ihrem Kopf war alles in Ordnung, ihr Körper hätte Hilfe gebraucht. Doch diese Hilfe wurde ihr viel zu lange verweigert und als sie endlich richtig diagnostiziert wird, ist es bereits zu spät: mit siebenundzwanzig Jahren erhält sie die niederschmetternde Nachricht, keine Kinder mehr bekommen zu können. Das Kind, das sie sich immer gewünscht hatte, doch nie bekommen konnte, bleibt wie ein Geist in ihrem Leben haften.
Wenn du dich umdrehst und auf die Jahre zurückblickst, erkennst du die Geister anderer Leben, die du hättest führen können. Deine Häuser werden von den Personen heimgesucht, die du hättest sein können. Du denkst an die Kinder, die du hättest bekommen können, aber nicht bekommen hast.
Diese Erkrankung schwemmt die Autorin, die ein Leben lang zu dürr gewesen ist, später auch noch stark auf. Sie muss Hormone einnehmen und ihr Körper verändert sich dadurch, wird fett, massig, gesetzt, grotesk. Hilary Mantel fühlt sich fremd in ihrem eigenen Körper. Ein Gefühl, das sie schon ihr ganzes Leben hindurch begleitet. Als die kleine Hilary eingeschult wird, möchte sie nur wieder zurück nach Hause und glaubt lange daran, dass sie selbst die Entscheidung treffen kann, ob sie zur Schule gehen möchte oder nicht. Sie glaubt auch daran, sich in einen Jungen zu verwandeln. Hofft darauf, möchte ein Ritter werden, der bestialisch Rache nimmt für all die erlittenen Kränkungen. Die einzige Zeit, in der sie glücklich gewesen ist, ist die Zeit, bevor sie in die Schule kam. Es ist die Zeit, in der die Familie noch eine richtige Familie ist. Eines Tages kommt immer häufiger ein fremder Mann ins Haus, der Hilary, ihre Mutter und ihren Bruder irgendwann mitnimmt. Sie ziehen alle gemeinsam in ein Haus nur wenige Kilometer entfernt, doch die Autorin sollte ihren Vater nie wiedersehen, auch auf eine Erklärung hat sie vergebens gewartet.
Und ich weiß auch, dass sich die Erinnerung einer Familie zu verzerren beginnt, wenn sie sich zum Verschweigen von etwas entschließt, da ihre Mitglieder die entstehende Lücke konfabulierend schließen: Du musst immer einen gewissen Sinn und eine Schlüssigkeit in dem erkennen, was um dich herum vorgeht, und so stoppelst du, so gut es geht, eine entsprechende Geschichte zusammen. Fügst etwas hinzu, redest darüber, und die Verzerrungen produzieren weitere Verzerrungen.
Hilary Mantel erzählt ihre Lebensgeschichte, ihre Kindheitsgeschichte, doch sie erzählt diese nicht chronologisch. Sie setzt immer wieder an, beschreibt einzelne Szenen, ohne diese miteinander zu verbinden. Manches bleibt zunächst im Dunkeln, anderes wird erst später klarer. Es ist nicht immer einfach der Autorin gedanklich zu folgen, doch es lohnt sich, ihr zuzuhören und sich auf ihren Ton und die Perspektive einzulassen.
Als diese Autobiografie im Jahr 2003 geschrieben wurde, hatte Hilary Mantel zwar schon einige Bücher veröffentlicht, doch der ganz große Erfolg war damals noch ausgeblieben. Vor diesem Hintergrund ist es umso bewundernswerter, wie viel Mut, Kraft und Stärke in diesem Buch stecken. Der Autorin gelingt es, sich aus einem engen und lieblosen Elternhaus zu befreien und ihr eigenes Leben zu leben. Dieses Leben war nie einfach und immer von Schmerzen bestimmt, doch Hilary Mantel hat nie aufgehört zu glauben, zu leben und zu kämpfen. Eigentlich wollte sie Anwältin werden, doch dann entschied sie sich zu schreiben und wenn man dieses Buch liest, dann kann man nur glücklich darüber sein, dass sie sich dafür entschieden hat. Hilary Mantel setzt sich mit den Geistern ihres Lebens auseinander und tut das auf so beeindruckende und mutmachende Art und Weise, das man sich den Worten von Susan Sontag nur noch anschließen möchte: Eine erstaunliche, hinreißende Autobiografie. Und eine große Leseempfehlung.
Hilary Mantel: Von Geist und Geistern. Autobiografie. DuMont Verlag, Köln 2015. 240 Seiten, €19,99. Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog von Karin Braun.
9 Comments
nettebuecherkiste
May 6, 2015 at 3:25 pmIch bin sehr gespannt auf diese Autobiografie. Nicht nur eine tolle Autorin mit einer fantastischen Sprache, sondern auch eine faszinierende Frau!
Mara
May 6, 2015 at 3:40 pmSie ist in der Tat eine unheimlich faszinierende und bewundernswerte Frau, ich habe vor der Lektüre dieses Buches nur wenig über sie gewusst und auch nur ihren Roman “Wölfe” gekannt. Nun habe ich große Lust darauf, noch mehr von ihr zu entdecken. 🙂
atalantes
May 6, 2015 at 3:32 pmHabe ich das jetzt richtig verstanden, Mara, im Original ist die Biographie 2003 erschienen, in der Übersetzung erst jetzt? Oder wurde sie 2003 verfasst und erst später heraus gegeben? Was ist mit den Zwischenjahren passiert?
Fragen über Fragen und Grüße,
Kerstin
Mara
May 6, 2015 at 3:39 pmLiebe Kerstin,
also, um deine Fragen zu beantworten: das Original ist unter dem Titel “Giving up the Ghost” bereits im Jahr 2003 erschienen, damals war Hilary Mantel außerhalb Großbritanniens noch keine bekannte Autorin. Ich denke, dass sich ihr deutscher Verlag im Rahmen ihrer vergangenen Erfolge dazu entschieden hat, das Buch doch noch so verspätet zu veröffentlichen. Das ist ja ein bekannter Schritt, in diesem Fall hat es sich aber wirklich gelohnt.
Liebe Grüße
Mara
atalantes
May 6, 2015 at 5:08 pmDanke für die Antwort, Mara. Dann ist von Frau Mantel in ein paar Jahren vielleicht eine Fortsetzung ihrer Autobiographie zu erwarten.
Freundliche Grüße,
Kerstin
Mara
May 6, 2015 at 5:10 pmLiebe Kerstin,
das liegt auf jeden Fall im Bereich des Möglichen, denn wer weiß, was in der Zwischenzeit alles passiert ist. Es könnte auf jeden Fall eine Biografie über ihre großen Erfolge sein, die sie zuletzt feiern konnte.
Liebe Grüße
Mara
dj7o9
May 10, 2015 at 7:23 pmIch freue mich auch schon auf die Lektüre. Ich weiß noch nicht genau wann, aber lesen werde ich es ganz sicher. Tolle Rezension 🙂
Mara
May 13, 2015 at 2:51 pmDanke dir – wenn du es gelesen hast, dann erstatte doch bitte Bericht, ich wäre gespannt darauf zu erfahren, wie es dir gefallen hat! 🙂
Sonntagsleserin Mai 2015 | buchpost
June 1, 2015 at 5:02 am[…] Mara entdeckt das Genre der Schriftsteller-Autobiografien für sich, z. B. die von Hilary Mantel, der zweimaligen Booker Prize-Trägerin. […]