Oliver Sacks ist ein britischer Neurologe und Schriftsteller. Bekannt geworden ist er durch seine medizinischen Fallstudien, die sich häufig so spannend lesen wie ein Roman. Nun hat er seine Autobiographie vorgelegt und erzählt darin von seinem ganz besonderen Leben.
Jetzt bin ich achtzig und versuche, eine Art Autobiographie zu rekonstruieren.
Oliver Sacks hat in den vergangenen Jahren schon mehr als zehn Bücher veröffentlicht: Eine Anthropologin auf dem Mars, Die Insel der Farbenblinden, Drachen, Doppelgänger und Dämonen oder auch Der einarmige Pianist. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört wohl Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, das bereits 1985 veröffentlicht wurde. Awakenings – ein weiteres Buch von ihm – wurde sogar verfilmt, mit Robert de Niro in der Hauptrolle. Allein diese große Anzahl an erfolgreichen Büchern wäre schon beachtlich, doch auch darüber hinaus war das Leben von Oliver Sacks keineswegs langweilig. Noch heute, mit zweiundachtzig Jahren, reist und schwimmt er viel, arbeitet immer noch an mehreren Büchern gleichzeitig und ist im hohen Alter sogar noch seiner großen Liebe begegnet. Eine glückliche Partnerschaft ist das einzige, was dem ungewöhnlichen Mediziner lange verwehrt geblieben ist. Die Zeit, die ihm bleibt, diese Liebe zu genießen, ist begrenzt: im Februar diesen Jahres machte Oliver Sacks seine erneute Krebserkrankung öffentlich. Nachdem ihm zunächst erfolgreich ein Melanom aus dem Auge entfernt werden konnte, ist mittlerweile seine Leber von Metastasen befallen. Ihm bleiben nur noch wenige Monate Lebenszeit, doch diese Zeit nutzt er so intensiv wie möglich.
Ich kam praktisch zu keiner allgemeinen Lektüre mehr, abgesehen von Maynard Keynes’ Essays in Biography, außerdem wollte ich meine eigenen “Biographischen Essays” schreiben, wenn auch mit klinischer Ausrichtung – Essays über Menschen mit ungewöhnlichen Schwächen oder Stärken, in denen ich den Einfluss dieser speziellen Merkmale auf ihr Leben schildern würde, kurzum, ich wollte klinische Biographien schreiben – Fallgeschichten in gewissem Sinne.
Das Faszinierende an Oliver Sacks ist die Doppelidentität, die er lebt: er ist nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller, der mit spannenden Fallgeschichten eine Vielzahl an Lesern und Leserinnen gefesselt hat, sondern er ist auch noch praktizierender Neurologe. Die Perspektive, mit der er als Mediziner auf seine Patienten blickt, findet sich auch in seinen Büchern wieder: im Zentrum steht immer die individuelle Fallgeschichte. Dabei begreift Oliver Sacks viele der neurologischen Erkrankungen, die ihm als Arzt begegnen, nicht nur als Einschränkung, sondern auch als bemerkenswerte Spielart des Normalen.
Der Titel der Autobiographie – On the move – und das Coverfoto, das einen jungen Oliver Sacks auf dem Motorrad zeigt, deuten bereits an, dass es hier nicht ausschließlich um einen Rückblick auf die Karriere eines Mediziners geht. Man erfährt in diesem Buch nicht nur, dass diese Karriere weit weniger geradlinig verlief, als man sich das vielleicht vorgestellt hat, sondern auch noch reichlich anderes Ungewöhnliches. Oliver Sacks erzählt von seiner Leidenschaft für Motorräder, die auch nach schweren Unfällen nie weniger geworden ist. Er erzählt von seiner liebsten Freizeitbeschäftigung, dem Gewichtheben. In den sechziger Jahren stellt er sogar einen Rekord im Kniebeugen auf. Die Fotos des muskelbepackten Gewichthebers sind schwer mit den Fotos des graumelierten Wissenschaftlers zu vereinbaren. Das ist vielleicht auch das Spannende an dieser Autobiographie: es ist ganz faszinierend zu sehen, wie viele unterschiedliche Leidenschaften ein Mensch in sich vereinen kann. Die Zeit des Gewichthebens war auch die Zeit der Drogenexperimente. Erst durch die Hilfe einer langjährigen Therapie gelingt es Oliver Sacks seine Amphetaminsucht zu überwinden.
Aber ihre Worte verfolgten mich während des größten Teils meines Lebens und waren dafür verantwortlich, dass der freie und freudige Ausdruck meiner Sexualität immer von Hemmungen und Schuldgefühlen beeinträchtigt wurde.
Oliver Sacks erzählt auch von seiner Sexualität: schon früh entdeckt er, dass er sich nicht für Mädchen interessiert. Doch während es heutzutage um die Ehe für alle geht, stand Homosexualität damals in Großbritannien noch unter Strafe. Als die Eltern herausfanden, welche Neigungen ihr Sohn hat, nannte seine Mutter ihn ein Gräuel und wünschte sich, ihr Sohn wäre nie geboren worden. Außer ein paar kurzen Affären war Oliver Sacks ein längeres Liebesglück mit einem Mann nicht vergönnt – bis er dann im hohen Alter endlich seine große Liebe traf.
Wir unterhalten uns über das, was wir lesen, wir sehen uns alte Filme im Fernsehen an, wir schauen gemeinsam in den Sonnenuntergang oder teilen uns Sandwiches zum Mittagessen. Wir führen ein friedliches Leben, das wir auf vielen Ebenen teilen – ein großes und unerwartetes Geschenk in meinem fortgeschrittenen Alter, nachdem ich mein ganzes Leben lang Distanz gewahrt hatte.
Von seiner Karriere als Arzt erzählt Oliver Sacks aber auch: um dem Wehrdienst zu entgehen, beschließt er mit siebenundzwanzig nach Amerika auszuwandern. Dort schlägt er sich alleine durch und träumt davon, seinen Forschungen im Labor nachzugehen. Doch schnell erweist er sich im Umgang mit Proben und Daten als völlig ungeeignet. Stattdessen widmet er sich der Arbeit mit seinen Patienten und dieser Arbeit geht er in den kommenden Jahren fast rund um die Uhr nach.
Bevor ich On the move zu lesen begann, war mir Oliver Sacks natürlich bereits ein Begriff: vor Jahren las ich mal ein Buch von ihm über Augenerkrankungen und war fasziniert von seinem Blick auf diese ungewöhnlichen Krankheitsphänomene, die er beschrieb. Seine Autobiographie ist dann am fesselndsten, wenn Oliver Sacks von seiner eigenen Fallgeschichte erzählt: es ist bewegend, wie dieser gestandene Neurologe von seiner Liebesscheu und Schüchternheit berichtet, von seiner Angst vor Small-Talk und seiner Unfähigkeit Gesichter wiederzuerkennen.
Ich bin ein Geschichtenerzähler, ob ich will oder nicht. Ich vermute, dass ein Gefühl für Geschichten, das Erzählen, in allen Menschen angelegt ist. Das hat mit unserem Sprachvermögen, Ichbewusstsein und autobiographischen Gedächtnis zu tun. Der Akt des Schreibens bereitet mir, wenn er gut von der Hand geht, eine Lust und eine Freude wie keine andere Tätigkeit. Er versetzt mich unabhängig von dem Thema an einen anderen Ort, an dem ich vollkommen versunken und frei bin von allen Ablenkungen – von störenden Gedanken, Verpflichtungen, Sorgen und selbst dem Verstreichen der Zeit.
Oliver Sacks hat so unglaublich viel zu erzählen und vieles davon erzählt er so mitreißend, dass ich das Buch nur noch sehr schwer aus der Hand legen konnte. Sein Leben ist nicht immer leicht gewesen und doch ist der Blick zurück von einer ungeheuren Leichtigkeit getragen: Oliver Sacks ist dankbar für all das, was er erleben durfte, für all das, was ihm widerfahren ist. All das Glück, das er erlebt hat, aber auch die dunklen Stunden, teilt er mit schonungsloser Offenheit. On the move ist ein Buch, das ich nicht so schnell vergessen werde.
Oliver Sacks: On the move. Mein Leben. Autobiographie. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Hamburg 2015. 448 Seiten, €24,95.
9 Comments
saetzebirgit
June 18, 2015 at 1:23 pmLiebe Mara,
einige seiner Bücher habe ich gelesen und war fasziniert davon, wie anschaulich er komplexe Dinge darstellen kann. Dass er jetzt diese Autobiographie geschrieben hat, ist mir völlig entgangen – danke für die schöne Präsentation, die macht richtig Lust…wie gut, dass ich gleich am Buchladen vorbeikomme…
Mara
June 21, 2015 at 5:32 pmLiebe Birgit,
was für ein schöner Zufall, ich hoffe, du konntest die Autobiographie gleich erwerben! 🙂 Ich hatte auch nur durch Zufall einen Hinweis darauf entdeckt und wusste dann gleich, dass ich das Buch unbedingt lesen möchte. Ich habe die Lektüre als unheimlich inspirierend empfunden und wäre ganz gespannt darauf zu erfahren, wie es dir damit ergeht.
Liebe Grüße
Mara
saetzebirgit
June 22, 2015 at 3:41 amMusste bestellt werden – ich hoffe, ich komme bald zum lesen, ob ich sie bespreche (man kommt ja nicht hinterher…), weiß ich noch nicht. Aber nochmals 1000 Dank für den Tipp!
Mara
June 23, 2015 at 3:36 pmGerne! Und mir geht es wie dir im Moment: ich lese und lese, was ich davon aber auf meinem Blog besprechen werde, weiß ich noch nicht! Ich müsste vielleicht wieder die Rubrik der “Rezension to go” wiederbeleben …
madameflamusse
June 18, 2015 at 1:39 pmMara ich komme gar nicht mehr hinterher bei deinen vielen Artikeln. Wann machst Du das nur alles, unglaublich und so so viele so wunderbare Bücher die Du vorstellst. Den Herr Sacks finde ich auch sehr spannend, würde ich auch gern lesen. 😀 Ich sende Dir ganz Herzliche Grüße
Mara
June 21, 2015 at 5:02 pmAch du, in letzter Zeit habe ich das Gefühl, eher weniger zu bloggen – dabei lese ich noch genauso viel, nur finde ich keine Zeit zum Schreiben. Das Buch von Oliver Sacks kann ich dir aber tatsächlich nur ans Herz legen! 🙂
madameflamusse
June 21, 2015 at 5:04 pmJa ok es ist ein bisschen weniger geworden, aber irgendwie trotzdem noch sehr viel. 😀 und vorallem bist Du ja auch imemr sehr ausführlich – super. Hab heute auch deine FB Seite entdeckt und gleich geliked 😉
Alles Liebe
Constanze Matthes
June 18, 2015 at 8:03 pmIch muss gestehen: Ich kannte Oliver Sacks bisher nicht, bis ich vor kurzem einen Beitrag in einer Zeitung und jetzt deine wunderbare Besprechung seiner Autobiografie gelesen habe. Du machst mich sehr neugierig. Und ich finde es gerade spannend, wenn in einem Buch über einen Menschen auch sein Menschsein, seine Gedanken und Gefühle, im Mittelpunkt steht, zumal es sicherlich nicht leicht ist, selbst darüber zu schreiben und sich somit auch zu offenbaren. Vielen Dank für diesen Lesetipp und viele Grüße
Mara
June 21, 2015 at 4:48 pmLiebe Constanze,
die Hälfte unseres Haushalts ist neurowissenschaftlich interessiert, deshalb ist mir Oliver Sacks auch ein Begriff gewesen und vor einigen Jahren habe ich schon begeistert seine Fallgeschichten gelesen. Die Autobiographie ist aber noch einmal eine ganz besondere Lektüre, die mich wirklich sehr beeindruckt hat – Oliver Sacks nimmt die Hürden und dunklen Momente des Lebens mit sehr viel Gelassenheit und Gleichmut. Aber auch seine Leidenschaft für das Schreiben spricht auf dieser Autobiographie. Eine insgesamt wirklich sehr inspirierende Lektüre.
Liebe Grüße
Mara