Alina Bronsky erzählt in ihrem neuen Roman eine Geschichte von Heimat und Heimkehr. Es geht um Tschernobyl und es geht um die Menschen, die trotz der Gefahr zurückkehren, um dort zu sterben, wo sie geboren worden. Aus diesem ernsten Thema macht Alina Bronsky einen sommerlich leichten Roman – das ist nett zu lesen, kann mich aber nicht gänzlich überzeugen.
Nach dem Reaktorunglück bin ich, wie fast alle, weggegangen. Es war 1986, und am Anfang wussten wir nicht, was passiert war.
Baba Dunja kehrt in ihr Heimatdorf Tschernowo zurück, um die letzten Tage ihres Lebens dort verbringen zu können, wo sie ihr ganzes vorheriges Leben gelebt hat. Dort wo sie ihre zwei Kinder groß gezogen hat, die schon längst nicht mehr in Russland wohnen. Dort, wo sie ihren Mann Jegor kennengelernt hat. Das Dorf ist idyllisch – von den dreißig halbverfallenden Häusern ist mehr als die Hälfte wieder bewohnt.
Es ist ein erstaunliches Phantasiekonstrukt, das Alina Bronsky in ihrem Roman beschwört: sie erzählt von Menschen, die in die Sperrzone rund um Tschernobyl zurückkehren. Es handelt sich um alte Menschen, um Menschen die bereits erkrankt sind, die nicht mehr viel Leben vor sich haben. Es handelt sich um Menschen, die ihr restliches Leben lieber in ihrer verstrahlten Heimat verbringen, als in einer anonymen Hochhaussiedlung in der Großstadt. Also Gemeinschaft statt Entfremdung und sozialer Kälte. In Tschernowo hat sich tatsächlich eine erstaunliche Gemeinschaft gebildet: da gibt es Baba Dunja, die ehemalige Krankenschwester, die für alle die Dorfvorsteherin ist. Da gibt es Marja und ihren Hahn Konstantin. Da gibt es Petrow, der vom Krebs zerfressen wird. Da gibt es den alten Sidorow, der glaubt, mit seinem Plastiktelefon in die weite Welt hinaustelefonieren zu können. Dabei sind die Leitungen nach Tschernowo schon lange tot. Den Kontakt zur Außenwelt hält Baba Dunja per Post, Brief um Brief schickt sie zu ihrer Tochter und Enkelin nach Deutschland.
Tschernowo ist nicht groß, aber wir haben einen eigenen Friedhof, weil die in Malyschi unsere Leichen nicht mehr wollen. Im Moment wird in der Stadtverwaltung diskutiert, ob für eine Beisetzung der Tschernowo-Leute in Malyschi ein Bleisarg vorgeschrieben werden soll, weil verstrahlte Materie auch dann weiterstrahlt, wenn sie nicht mehr lebt.
Alina Bronsky erzählt diese Geschichte erstaunlich und poetisch – trotz der bedrückenden Lage, in der sich die Dorfgemeinschaft befindet, tragen die Bewohner ihr selbstgewähltes Schicksal mit einer seltsamen Mischung aus Gleichmut und Resignation. Der ruhige Erzählfluss nimmt zur Hälfte des Buches dann schließlich doch noch Fahrt auf: plötzlichen tauchen Fremde im Dorf auf und der Zusammenhalt der dörflichen Gemeinschaft wird nachhaltig erschüttert. Die plötzlich rasant einsetzende Handlung wirkte auf mich wenig stimmig, sondern schon fast ein bisschen herbeigezwungen. Ohne zu viel darüber zu verraten, was passiert, kann ich doch so viel sagen, dass die Handlung ab einem gewissen Punkt eine Wendung nimmt, mit der ich mich nur noch schwer anfreunden konnte.
Baba Dunjas letzte Liebe ist ein seltsames kleines Büchlein: gemocht habe ich die alte Dame. Baba Dunja geht tapfer durch ihr Leben und strahlt dabei eine gewisse melancholische Heiterkeit aus. Die Schwierigkeiten, die ihr im Leben begegnen, meistert sie mit stoischer Ruhe. Diese kleine Frau, die eigentlich gar nicht wirklich Baba Dunja heißt, hat mich mit ihrem Durchhaltewillen beeindruckt: sie liebt ihr Leben und sie liebt ihre Heimat, auch wenn sich diese in eine verstrahlte Sperrzone verwandelt hat.
Wenn ich mich in meinem Alter noch über Menschen wundern würde, käme ich nicht mal mehr zum Zähneputzen.
Alina Bronsky schafft auf gerade einmal 150 Seiten ein kleines Paradies, bei dem man manchmal fast vergessen kann, dass es verstrahlt ist. Es ist ein Paradies, das von Pragmatismus und Zufriedenheit geprägt ist, einer Zufriedenheit, die sich dadurch auszeichnet, dass auf diesem kleinen Fleckchen Erde eine Handvoll älterer Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Das lässt sich schnell lesen, das berührt stellenweise, ab und an kann man auch lachen – doch sehr viel mehr bleibt leider für mich nicht übrig. Es gäbe so viel mehr zu erzählen über die Menschen in Tschernowo, es gäbe so viel mehr zu erzählen über all die losen Fäden, über das Reaktorunglück, über die seltsamen Fremden, die das Dorf aufsuchen, über die Enkeltochter. Doch all das wird nur angerissen und gestreift – was mir dabei fehlt, ist die Tiefe, die aus Baba Dunjas letzte Liebe mehr macht als eine nette und schnell zu lesende Lektüre für den Nachmittag.
Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 160 Seiten, 16,90€. Auf Buzzaldrins Bücher gibt es bereits eine Besprechung zu Nenn mich einfach und Superheld sowie ein Interview mit der Autorin.
14 Comments
soufie02
September 11, 2015 at 1:19 pmMir konnte die Baba Dunja recht gut gefallen, aber die von dir bemängelte Tiefe fehlte mir am Ende des Ganzen doch auch. Bei 150 Seiten habe ich aber auch nichts anderes erwartet. Als besonders sommerliche Lektüre empfand ich das Büchlein nicht. Es ist vielleicht ganz passabel für einen Nachmittag oder zwei – je nachdem, wie schnell man liest.
Humor und Tod in Symbiose gefielen mir sehr gut. Das verstrahlte Paradies – dieses euphemistische Dem-Tod-entgegen-Gehen, das sagte mir zu.
Warum es diese merkwürdige Wende mit den Fremden gab, weiß ich auch nicht.
Viel eher hätte ich mir Einblicke in die Familiengeschichte gewünscht. Da stimme ich deinen Worten auch ganz zu.
Mara
September 11, 2015 at 1:45 pmIch danke dir für deine Wortmeldung – sommerlich ist vielleicht etwas überspitzt formuliert, aber mir fehlte bei der Geschichte einfach die Tiefe. Das Buch ist an einem Nachmittag schnell ausgelesen, ohne jedoch tiefer in mir gewühlt zu haben. Besonders nach der ersten Hälfte des Romans hatte ich Schwierigkeiten mit der Geschichte: warum kommen die Fremden ins Dorf, was steckt da für eine Geschichte hinter? Da ist mir die Autorin viel zu sehr an der Oberfläche geblieben.
Liebe Grüße
Mara
jancak
September 11, 2015 at 2:44 pmEin leicht lesbares Buch mit, wie ich denke einigen schweren Themen, der Tod, das Sterben, die Migration, die Großeltern, die ohne ihre Enkelkinder aufwachsen und umgekehrt, die verseuchten Gegenden, wahrscheinlich auch der Krieg, etc.
Erzählt wurde es sehr spannend mit einigen nicht ganz aufgeklärten Fragen, so etwa, was es wirklich mit diesem Mann und dem Kind auf sich hatte und warum der unbedingt umgebracht werden mußte?
Wegen der Spannung, der Handlung, etc?
Richtig logisch war das nicht und auch nicht was der eigentlich dort wollte, seiner Frau eines auswischen?
Und kamen die alten Leute zum Sterben nach Tschernobyl zurück, weil man das in einer verseuchten Gegend besser kann?
Einiges über das man eigentlich viel nachdenken könnte, wurde nur angerissen und dann war es schon wieder aus.
Ein kleines dünnes Bändchen, wahrscheinlich auch für Jugendliche und Leichtleser geeignet, aber so leicht ist der Inhalt gar nicht.
Insgesamt war mir diese Baba Dunja viel sympathischer als die Rosalinda in der tatarischen Küche, denn die ist mir, glaube ich auf die Nerven gegangen, in ihrer Hyperaktivität.
Es sind, glaube ich, auch einige Widersprüche in dem Buch, die die Autorin geschickt hineingepackt hat.
Tschernobyl ist doch eine so verseuchte Gegend, daß man gleich umgebracht wird, wenn man sein Kind mitnimmt und der Nachbarort weigert sich, Leichen von dort zu bestatten und dann wachsen die prächtigsten Gemüse dort und der Westen ist doch so beliebt, daß alle hingehen und nur ihre Kinder bei den Omas zurücklassen und dann ist es Irina nicht gelungen, ein Musterkind aus ihrer Tochter zu machen, etc.
Auch die Idee, daß dort die Toten herumspazieren, hat mir gut gefallen.
nsgesamt habe ich das Lesen also sehr genossen, hier meine Impressionen und ich bin gespannt, ob es auf die Shortlist kommt?
irveliest
September 11, 2015 at 3:44 pmIch hatte es neulich in der Hand, aber irgendwas hat mich dann doch abgehalten, es zu kaufen. Mal sehen….
Mara
September 15, 2015 at 8:30 amIch wollte dich auf jeden Fall nicht abhalten von der Lektüre – es ist kein schlechtes Buch, für mein Empfinden hat es nur etwas zu wenig Tiefe!
Ca
September 11, 2015 at 4:56 pmIch fand es auch etwas seicht und ich frage mich, wie es dieser Titel auf die Longlist des Dt. Buchpreises geschafft hat.
Mara
September 15, 2015 at 8:31 amDas habe ich mich auch gefragt – Alina Bronsky hat ein sicherlich nettes Buch geschrieben, das sich schnell weglesen lässt. Doch mir hat eindeutig die Tiefe gefehlt. Es würde mich sehr überraschen, wenn das Buch es auf die Shortlist schaffen würde …
buecherstoeberia
September 11, 2015 at 5:58 pm“Baba Dunja” wartet momentan noch darauf, mir endlich ihre Geschichte zu erzählen. Ich hoffe, dass ich ganz bald dazu komme, das Büchlein zu lesen. Ich mag auch lieber dicke Wälzer, aber hier kam ich aufgrund der tollen Besprechung von Sophie von literatourismus.net nicht vorbei.
Mara
September 15, 2015 at 8:33 amDann bin ich schon gespannt, wie dir das Buch gefallen wird! Ich hoffe, du wirst berichten! 🙂 Gegen schmale Bücher habe ich übrigens nichts, dieses hier hat nur leider wenig Substanz …
buecherstoeberia
September 15, 2015 at 5:29 pmIch bin selbst schon so gespannt. Momentan drängeln sich nur immer andere Bücher vor. Und ja, ich werde berichten. 🙂
Das Buchpreislesen: #dbp15 | Kaffeehaussitzer
September 12, 2015 at 6:39 am[…] Alina Bronsky, Baba Dunjas letzte Liebe (Kiepenheuer & Witsch) Einen Bloggertalk zu diesem Buch gibt es auf Klappentexterin Buchbesprechung auf Buzzaldrins Bücher […]
Dorte
September 12, 2015 at 1:28 pmDie Besprechung fällt an dieser Stelle recht verhalten aus. Danke für den kritischen Blick.
Ich hätte mir gewünscht, dass der thematisch naheliegende Roman von Javier Sebastian (Der Radfahrer von Tschernobyl) eine eben solche Aufmerksamkeit wie das Buch von Alina Bronsky erfahren hätte, auch wenn auch dieser Roman seine Schwächen hat.
LG
Dorte
Mara
September 15, 2015 at 8:41 amLiebe Dorte,
gerade bei den Büchern auf der Longlist habe ich das Gefühl, noch ein wenig kritischer lesen zu müssen. Bei diesem habe ich einfach nicht verstanden, wie es einen Platz auf der Longlist ergattern konnte. Den Roman von Javier Sebastian habe ich übrigens auch sehr gerne gelesen und auf meinem Blog vorgestellt.
Liebe Grüße
Mara
Dorte
September 16, 2015 at 10:04 amHallo Mara,
Deine Besprechung zum Radfahrer ist mir glatt entgangen. Das wird sofort nachgeholt.
Besten Dank für den Hinweis.
Liebe Grüße
Dorte