Straße der Wunder – John Irving

Auch wenn Straße der Wunder bereits in diesem Frühjahr erschienen ist, habe ich die Lektüre des Romans eine ganze Weile aufgeschoben. Die Angst davor, dass mich ein neuer Roman von John Irving enttäuschen könnte, war einfach zu groß. Ich kann verraten, dass ich keinesfalls enttäuscht wurde, auch wenn der Roman mich nicht restlos überzeugen konnte.

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„In Büchern und in der Welt deiner Phantasie gibt es ein eigenständiges Leben; da gibt es mehr als in der realen Welt, sogar mehr als hier.“

Im Zentrum von Straße der Wunder steht Juan Diego. Juan Diego hat mexikanische Wurzeln, ist vierundfünfzig Jahre alt und ein erfolgreicher Autor. Nicht alles ist jedoch so rosig wie es scheint: er leidet unter gesundheitlichen Problemen, muss Medikamente nehmen und auch sein Liebesleben ist schon länger nicht mehr wirklich vorhanden. Dafür hat er eine reiche Vergangenheit, von der er immer wieder träumt und dem Leser erzählt: Juan Diego wurde als Sohn einer Prostituierten in Mexiko geboren, aufgewachsen ist er mit seiner Schwester Lupe auf einer Müllkippe – zu Lupe hatte er immer ein besonders enges Verhältnis, da sich seine Schwester ausschließlich in einer Phantasiesprache verständigte, die nur er verstehen konnte. Doch auch wenn Lupe nicht sprechen kann, versteht sie doch alles und sogar noch viel mehr, sie kann nämlich Gedanken lesen.

Doch das ist noch längst nicht alles, nebenbei geht es auch noch um einen Jesuiten, der sich als homosexuell entpuppt und fortan mit einem Transvestiten zusammenlebt – bis beide von ihnen an HIV erkranken. Es geht um einen Zirkus, einen Löwenbändiger und bildhübsche Hochseilartistinnen.  Es geht um die katholische Kirche und religiöse Vorschriften, die ein Leben beschneiden können. Und es geht um eine Reise quer durch Asien, auf der Juan Diego von zwei mysteriösen Frauen begleitet wird, die nicht das zu sein scheinen, was sie vorgeben.

„Die Folge von Ereignissen, die Verbindungen in unseren Leben – das, was uns dahin führt, wohin wir gehen, die Wege, denen wir folgen, um unsere Ziele zu erreichen, was wir kommen sehen und was nicht -, all das kann rätselhaft sein oder schlicht nicht zu erkennen oder aber offensichtlich.“

Nach ungefähr 150 Seiten hatte ich das Gefühl, die Kritik an diesem Roman verstehen zu können: es fiel mir schwer einen Zugang zu der Geschichte zu finden. Was träumt Juan Diego? Was erlebt er wirklich? Was existiert nur in seiner Vorstellung? Was ist Wirklichkeit und was ist Phantasie? Und wo bitte ist der rote Faden der Geschichte? Ich habe dann etwas getan, was ich selten tue: ich habe das Buch für ein paar Wochen zur Seite gelegt. Als ich es schließlich wieder zur Hand nahm, habe ich gar nicht mehr versucht, alles verstehen zu wollen, sondern habe mich stattdessen einfach auf das eingelassen, was mir von John Irving präsentiert wurde. Plötzlich las ich die Geschichte rund um Juan Diego mit einem ganz anderen Gefühl und einer ganz ungeahnten Begeisterung.

Es ist so gut wie unmöglich, den gesamten des Buches irgendwie zusammenzufassen. Dafür ist er viel zu komplex und vielschichtig. John Irving erzählt in Straße der Wunder vom Leben und vom Tod, davon, dass das Leben, in das wir hineingeboren werden manchmal hart sein kann, manchmal auch unfair, kompliziert oder kaum zu ertragen. Trotz allem darf man aber nicht seine Freude verlieren, seinen Spaß. John Irving erzählt mit ganz viel Warmherzigkeit und Liebe von Menschen, die es nicht leicht haben und doch versuchen, das Beste daraus zu machen.

„So wird es sein, wenn ich sterbe, dacht Juan Diego – nur dunkler, pechschwarz. Kein Gott. Weder Gut noch Böse. Einfach gar nichts.“

Straße der Wunder hat mich stellenweise frustriert und verärgert, es hat mich aber auch glücklich gemacht und gut unterhalten. Am Ende hat sich dann doch auch hier – wie bei allen anderen Büchern von John Irving – einfach dieses wunderbar warme Gefühl des Nachhausekommens eingestellt. All die skurrilen Figuren, die ich beim Lesen kennengelernt habe, begleiten mich auch heute noch. Und ich habe auch etwas mitgenommen: auch wenn das Leben manchmal dunkel und kompliziert erscheint, es sind die Träume, die  Vorstellungskraft, die Phantasie, die Kraft der Worte und das Lesen von Büchern, was einen doch retten kann.

John Irving: Straße der Wunder. Diogenes Verlag, April 2016. 784 Seiten, €26. Weitere Rezensionen auf: Zweifragezeichen und Lesevergnügen.

4 Comments

  • Reply
    wortsonate
    November 25, 2016 at 4:19 pm

    Wenn mich ein Buch ärgert, dann lege ich es meistens weg

    • Reply
      Mara
      December 5, 2016 at 12:25 pm

      Ach, so streng sehe ich das meistens nicht – mich haben viele Bücher auf den ersten Seiten geärgert und auf den letzten begeistert. Bücher dürfen für mich auch immer gerne Arbeit oder Ärgernis sein, so lange es in ihnen noch etwas gibt, das ich dann mitnehme!

  • Reply
    thursdaynext
    December 2, 2016 at 4:40 pm

    Mir ging es eingangs ähnlich wie dir, ein klein wenig Angst vor Enttäuschung, diese verschwand aber sehr früh und ich ließ mich (wie du) genüßlich in Irvings pralle Welt fallen. Geärgert hat nix nur geängstigt, da der Lieblingsautor doch sehr Resümee zieht. Faszinierend wie ich auch deiner Besprechung entnehme, welch unterschiedliche Lesarten u. kl. Freuden Irving immer wieder bereit hält

    • Reply
      Mara
      December 5, 2016 at 12:24 pm

      Vielen Dank für deinen Kommentar und deine Sichtweise – ich finde es immer wieder höchst spannend, wie unterschiedlich Bücher gelesen werden. Es gibt ja auch ganz viele, denen das Buch gar nicht gefallen hat!

      Liebe Grüße
      Mara

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