Herbst ist der erste Roman aus dem Jahreszeitenquartett von Ali Smith und ich glaube, ich habe schon länger nichts mehr gelesen, das mich so sehr berührt hat. Es ist ein schmales Buch, das nicht nur davon erzählt, wie sich die Jahreszeit langsam verändert, sondern auch davon, wie unser gesellschaftliches Klima zunehmend rauer wird.
Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten. Wieder. Das ist das Dumme bei allem. Es zerbricht, das war immer so und wird immer so sein; das liegt in der Natur der Dinge.
Ali Smith gehört zu den Autorinnen, deren Namen mir jahrelang immer wieder begegneten, von der ich aber nie ein Buch in die Hand nahm, um es zu lesen. Erst als ich ihren neuesten Roman Herbst im Buchladen stehen sah, dachte ich: Das muss ich lesen. Und was für ein Glück das gewesen ist!
Daniel Gluck ist hundert Jahre alt – er liegt in seinem Bett in einem Altersheim und ist so krank, dass er wahrscheinlich nie wieder aus seinen unruhigen Träumen aufwachen wird. An seiner Seite sitzt Elisabeth Demand. Sie ist Anfang dreißig und Aushilfsdozentin für Kunstgeschichte. Mit ihrer Arbeit verdient sie kaum noch etwas, ihr Einkommen bewegt sich am Existenzminimum. Oft muss sie schauen, dass sie trotzdem irgendwie durch den Monat kommt. Den Sterbeprozess von Daniel zu begleiten, ist für sie eine Selbstverständlichkeit.
Daniel befindet sich jetzt in einer Phase vermehrten Schlafs. Jede Pflegekraft, die zufällig gerade Dienst hat, fühlt sich bemüßigt, Elisabeth, wenn sie bei ihm sitzt, zu erläutern, dass die Phase vermehrten Schlafs beginnt, wenn Menschen dem Tode nahe sind. Daniel ist wunderschön. Er ist so winzig in dem Bett. Es ist, als wäre er nur Kopf. Schmal ist er jetzt und gebrechlich, so dünn wie das Skelett eines Fischs im Cartoon, das die Katze im Cartoon übrig gelassen hat, sein Körper unter der Decke so wenig vorhanden, dass er kaum noch einen Abdruck hinterlässt, nur ein Kopf, allein auf einem Kissen, ein Kopf mit einer Höhle darin, und die Höhle ist sein Mund.
Was verbindet einen hundert Jahre alten Mann und eine junge Frau miteinander? Daniel war der Nachbar von Elisabeth, als sie ein junges Mädchen war, das ansonsten wenig Unterstützung im Leben hatte. Er kümmerte sich um sie, forderte und förderte sie und begeisterte sie für die Welt der Bücher. Jede Begegnung der beiden begann mit derselben Frage: “Was liest du gerade, Elisabeth?”
In die Geschichte von Daniel und Elisabeth sind zwei weitere Handlungsstränge hineingewoben: da ist zum einen die politische Situation, in der sich das Land befindet, in dem Daniel und Elisabeth wohnen. Großbritannien ist vom Brexit gezeichnet. Ali Smith nutzt ihren Roman dafür, mit einer Politik abzurechnen, die dem Rassismus Tür und Tor öffnete und ein ganzes Land in eine tiefe Krise stürzte. Was dabei vor allem deutlich wird, ist die Tatsache, wie tief der Riss ist, der durch das Land und die Bevölkerung geht. Oder wie Ali Smith schreibt: Im ganzen Land fiel das Land in Stücke. Im ganzen Land trieben die Stücke voneinander fort.
Ich hab die Giftigkeit satt, den Zorn, die Niedertracht, den Egoismus. Und am meisten hab ich satt, dass wir nichts unternehmen, damit das aufhört. Ich hab es satt, dass wir das auch noch fördern. Ich hab die Gewalt satt, die jetzt schon überall herrscht, und die, die noch auf uns zukommt, die wir noch nicht erlebt haben. ich hab die Lügner satt und besonders die Lügner mit Heiligenschein. Ich hab es satt, dass diese Lügner es dazu haben kommen lassen. ich hab es satt, mich fragen zu müssen, ob sie es aus Dummheit getan haben oder mit voller Absicht. Regierungen, die lügen, hab ich satt und Leute, denen es inzwischen egal ist, ob sie angelogen werden. Ich hab es satt, dauernd so viel Angst zu haben. Ich hab die Feindseligkeit satt und die Duckmäuserei genauso.
Der andere Handlungsstrang ist die Geschichte der Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty, die bereits mit achtundzwanzig Jahren verstarb. Elisabeth ist begeistert von ihren Collagen. Besonders das Porträt des britischen Models Christine Keeler hat es Elisabeth angetan. Interessanterweise ist Daniel beiden Frauen – Pauline Boty und Christine Keeler – in seinem langen Leben begegnet.
Am Ende fügt sich alles also irgendwie ineinander, weil alles miteinander verbunden ist. Herbst ist auf der einen Seite ein ungewöhnlich poetisches und verspieltes Buch, das auf der anderen Seite unglaublich klar und deutlich die politische Lage eines gespaltenen Landes nachzeichnet. Ich bin begeistert, berührt, bewegt – und möchte am liebsten weiter lesen, drei weitere Bände aus dem Jahreszeitenquartett sollen noch in deutscher Übersetzung erscheinen. Ich kann es kaum noch abwarten!
Ali Smith hat ein wunderschönes, poetisches und berührendes Buch geschrieben, das uns nicht nur an unsere eigene Menschlichkeit erinnert, sondern auch daran, wie wichtig es ist, sich politischen Entwicklungen entschieden entgegenzustellen. Außerdem ist Herbst ein kraftvolles Plädoyer für das Lesen und dafür, wie viele Perspektiven und Dimensionen erst durch Bücher sichtbar werden.
Ali Smith: Herbst. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Luchterhand Verlag, München 2019. 270 Seiten, €22.
3 Comments
Claudia
December 28, 2019 at 11:34 amLieber Linus,
überall lese ich so positive Besprechungen über Ali Smith´ “Herbst”. Nun auch bei dir. Nur mich haben die ersten zwanzig, dreißig Seiten noch nicht gepackt. Ich habe den Roman erst einmal zur Seite gelegt. Muss aber – denke ich nun, nach dem Lesen deines begeisternden Beitrags – dem Buch doch noch einmal eine Chance geben.
Viele Grüße, Claudia
Linus
January 7, 2020 at 3:34 pmLiebe Claudia,
hm! Ich verstehe das sehr gut, weil ich auf den ersten Seiten auch etwas zu kämpfen hatte – ich verspreche dir aber, dass es sich wirklich lohnt, wenn du dich durch die ersten Seiten ein bisschen durchkämpfst.
Liebe Grüße!
Linus
Claudia
January 8, 2020 at 11:42 amIch werde es versuchen. Und berichten.
Liebe Grüße nach Berlin, Claudia