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Deutschsprachige Literatur

Deutscher Meister – Stephanie Bart

Stephanie Barts Roman Deutscher Meister ist nicht nur große Literatur, sondern auch ein großartiges Porträt eines Boxers. Es ist das Jahr 1933 und Johann Rukelie Trollmann begeistert das Boxpublikum. Doch gewinnen darf er nicht, denn er ist Sinto. Stephanie Bart erzählt nicht nur eine wahre Geschichte von einem Gewinner, der kein Gewinner sein durfte, sondern auch davon, wie der Nationalsozialismus eine ganze Gesellschaft zerfressen hat.

BartEs war der Kampf um den Titel des Deutschen Meisters im Halbschwergewicht am 9. Juni 1933 in der Bockbrauerei, Fidicinstraße, Berlin-Kreuzberg.

Es sind fast vier Monate, von denen Stephanie Bart in ihrem Roman Deutscher Meister erzählt – alles beginnt am 31. März 1933 und findet seinen Schlusspunkt im selben Jahr, am 21. Juli. Es sind vier Monate, die das Leben des Boxers Johann Rukelie Trollmann für immer verändern sollten. Die ganze Handlung kreist um den großen Meisterschaftskampf, der am 9. Juni 1933 stattfindet. Dem Kampf voraus ging eine Säuberung des ganzen Boxsportes – jüdische Kämpfer und Funktionäre wurden verbannt und von linientreuem Personal ersetzt. Trollmann, ein Sinto, ist einer der letzten, der der Säuberung bisher entgehen konnte – doch seine Herkunft grenzt ihn aus und der Politik ist er ein Dorn im Auge. Auch sein Nachweis ein richtiger Deutscher zu sein, hilft ihm nicht weiter. Und dennoch: er darf kämpfen, sogar um den Titel des deutschen Meisters. Nur gewinnen darf er nicht, dabei ist Trollmann beim Publikum beliebt, er boxt unkonventionell und unterhaltsam und er ist im Gegensatz zu seinem Gegner der deutlich bessere Boxer. Frauen, die dem Boxen sonst eigentlich eher fernbleiben, begeistert er mit seinem Charisma und guten Aussehen.

Trollmann hatte sich schon seit Herbst 1930 um den Titel beworben, war aber stets hingehalten und abgewiesen worden. Nicht nur, weil er Sinto war, sondern auch, weil er erst den falschen und dann gar keinen Manager gehabt hatte.

Deutscher Meister ist nicht nur das Porträt eines ungewöhnlichen Boxers, sondern darüber hinaus auch ein groß angelegtes Gesellschaftspanorama. Ein Panorama, das sich aus zahlreichen Erzählfäden und Figuren zusammensetzt, die jedoch alle um ein einziges Thema kreisen: die Machtergreifung des Nationalsozialismus. Vor dem Hintergrund des Kampfes um die deutsche Meisterschaft, erzählt Stephanie Bart davon, wie der Nationalsozialismus sich 1933 ausgebreitet hat. Einer Krebserkrankung ähnlich, hat dieser sich in allen Bereichen der Gesellschaft ausgebreitet, Metastasen gebildet und alles mit dem nationalistischen Gedankengut vergiftet.

Lasker-Schüler war weg. Nicht ganz. Kurzbein wusste eins von den Liebesgedichten auswendig. Nun gewöhnte sie sich an, das Gedicht in Gedanken sich immer wieder vorzusagen, damit es nicht verschwand. Die letzte Zeile der vierten Strophe: Niemand sieht uns, die bisher nur die Liebenden meinte, schloss jetzt die Dichterin mit ein.

Auch das Boxen blieb davon nicht verschont. Es sollte mithilfe eines Säuberungsplans auf nationalen Boden gestellt werden. Trollmann darf zwar um den Titel kämpfen, doch gewinnen darf er nicht, denn ein Zigeuner darf doch niemals deutscher Meister werden, oder? Trollmann sieht sich selbst nur als Boxer, akribisch bereitet er sich auf diesen so wichtigen Kampf vor – den Kampf seines Lebens, der von der ganzen Familie auf den Zuschauerrängen verfolgt wird. Von der deutschen Sportpolitik wird er jedoch nicht als Boxer gesehen, sondern als Ärgernis – er wird auf seine Nationalität reduziert, völlig losgelöst von seinen Boxqualitäten.

Einen Großteil des Romans machen die Kampfhandlungen aus, die von Stephanie Bart in allen Einzelheiten geschildert werden – als würde man einen Boxkampf in Zeitlupe betrachten und ab und an hat man das Gefühl, gerade selbst von einem Leberhaken getroffen worden zu sein. Diese Passagen sind von großer Eindrücklichkeit und literarischer Qualität, noch stärker beeindruckt hat mich aber das politische Panorama, das von der Autorin entworfen wird: selten zuvor habe ich eine so gute Beschreibung davon gelesen, wie sich der Nationalsozialismus schleichend in alle Gesellschaftsschichten ausbreitet. Bis es ganz normal erscheint, abends zur Bücherverbrennung zu gehen – als würde man in’s Kino gehen.

Trollmann aber legte seine Rechte auf die Halterung des obersten Seils, berührte noch einmal mit beiden Füßen den Boden, ging leicht in die Knie, ließ den Impuls fürs Hochfliegen mit einem lockeren Einatmen aus der Hüfte kommen, schnellte nach oben, warf die Beine, das rechte vorweg, das linke hinterher, hinaus, schwang gegenläufig, wie ein Vogel den Flügel, seinen linken Arm, platzierte den Körperschwerpunkt über der aufgestützten Hand, schwebte fast waagrecht in der Luft über dem Seil, sah in das Dach der Orchesterbühne, drehte auf dem Zenit der Flanke die Hüfte aus dem Ring, ließ den Körperschwerpunkt hinübergleiten, ließ jenseits der Seile ausatmend die Beine herab, setzte mit beiden Füßen auf und federte weiter.

1933 durfte Johann Rukelie Trollmann nicht gewinnen, doch Dank Stephanie Bart ist er nun deutscher Meister für die Ewigkeit – sie hat ihm ein literarisches Denkmal von beeindruckender Qualität gesetzt. Eine große Leseempfehlung!

Vielleicht Esther – Katja Petrowskaja

Katja Petrowskaja erzählt nicht nur von den Schrecken des 20. Jahrhunderts, sondern auch von der eigenen Gegenwart. Vielleicht Esther ist eine Recherchereise zurück in die Vergangenheit der eigenen Familie, bis in das Jahr 1864. Es ist eine poetische, berührende, kluge und herzerwärmende Reise und eine großartige Lektüre.

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Woher kenne ich diese Geschichte in ihren Einzelheiten? Wo habe ich ihr gelauscht? Wer flüstert uns Geschichten ein, für die es keine Zeugen gibt, und wozu? 

Katja Petrowskaja begibt sich in ihrem Roman auf eine Reise, es ist die Reise in die eigene Vergangenheit und es ist eine Reise, die die Autorin von Warschau über Babij Jar bis nach Mauthausen führt. Die Wurzeln ihrer Familie führen zurück in die Ukraine, aber auch nach Russland, Deutschland und Österreich. Vielleicht Esther ist kaum mehr ein Roman, denn dafür stecken in diesem Text zu viele autobiographische Bezüge. Der Verlag selbst gibt dem Buch den Untertitel Geschichten. Es sind Familiengeschichten, die Geschichten der Familie von Katja Petrowskaja.

Am Anfang dachte ich, ein Stammbaum sei so etwas wie ein Tannenbaum, ein Baum mit Schmuck aus alten Kisten, manche Kugeln gehen kaputt, zerbrechlich wie sie sind, manche Engel sind hässlich und robust und überleben alle Umzüge. Jedenfalls war ein Tannenbaum der einzige Familienbaum, den wir hatten, er wurde jedes Jahr neu gekauft und dann weggeschmissen, einen Tag vor meinem Geburtstag.

Diese kurzen Geschichten wirken am Anfang der Lektüre etwas fragmentarisch, so löcherig, dass es schwer ist, Zusammenhänge herzustellen. Doch all diese Löcher werden gefüllt und gestopft, Geschichte für Geschichte. Im Zentrum steht die titelgebende Esther, die Großmutter des Vaters, die zu alt und unbeweglich ist, um 1941 fliehen zu können und alleine in ihrer Wohnung in Kiew zurückbleibt. Es ist die Großmutter des Vaters der Autorin, doch dieser weiß gar nicht mehr ganz genau, wie seine Großmutter hieß. Vielleicht Esther? Doch hieß diese Großmutter, die im Krieg sterben musste, wirklich Esther?  Katja Petrowskaja erzählt aber auch die Geschichte eines Großonkels, der 1932 als junger Mann ein Attentat auf einen deutschen Diplomaten verübt. Fritz von Twardowski wurde verletzt, der Großonkel Judas Stern verhaftet. Sie erzählt von ihrem Großvater, der in Kriegsgefangenschaft gerät, in ein Konzentrationslager kommt, ein Gulag überlebt und lebend nach Hause zurückkehrt. Sie erzählt von all ihren Verwandten, die an Gehörlosenschule gearbeitet haben. Verwandten, denen beinahe schon heilende Kräfte angedichtet wurden.

[…] ich dachte, mit ihnen werde ich den Familienbaum blühen lassen, den Mangel auffüllen, das Gefühl von Verlust heilen, aber sie standen in einer dicht gedrängten Menge vor mir, ohne Gesichter und Geschichten, wie Leuchtkäfer der Vergangenheit, die kleine Flächen um sich herum beleuchteten, ein paar Straßen oder Begebenheiten, aber nicht sich selbst.

Vielleicht Esther ist ein seltsames Buch, das sich jeder Einordnung verweigert. Es befindet sich irgendwo zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Roman und Autobiographie, zwischen Wahrheit und Erfindung. Vielleicht Esther ist nicht nur ein Buch, das Erinnerungen erzählt, sondern gleichzeitig auch ein Buch über Erinnerungen. Was macht man mit all den Verwandten, von denen man nur einen Namen kennt – wenn überhaupt. Was macht man mit all diesen Lücken und Löchern, die den eigenen Familienstammbaum in ganz viele Teile zersplittern. Wie geht man mit solchen Erinnerungen um? Katja Petrowskaja entscheidet sich dazu, sich auf eine Recherchereise zu begeben, auf eine Wurzelsuche, auf Ahnenforschung. Sie entscheidet sich für einen unbekümmerten Umgang mit Erinnerungen – es gibt keine Gewissheit und keine Bestätigung, aber schmerzhafte Lücken können manchmal schon allein durch die Kraft von Phantasie und Vorstellung geschlossen werden.

Katja Petrowskaja beschäftigt sich bei dieser Recherchereise sehr eindrücklich auch mit den Quellen, auf die sie zurückgreifen kann. Was kann man tun, wenn es plötzlich keine Menschen gibt, die man befragen kann? Wenn das einzige, das bleibt Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven ist. Die Autorin reist in Archive und Gedenkstätten, sie greift aber auch auf moderne Wege zurück – sie nutzt nicht nur Google. sondern auch Facebook und Ebay.

Rosa kritzelte mit ihren Zeilen gegen die Blindheit an, sie häkelte die Zeilen ihrer entschwindenden Welt. Je dunkler es um sie herum wurde, desto dichter beschrieb sie die Blätter. Manche Stellen waren unentwirrbar wie verfilzte Wolle, die Kartoffelpreise Ende der achtziger Jahre verknoteten sich mit Erzählungen aus dem Krieg und von flüchtigen Begegnungen. Das eine oder andere Wort sickerte durch das wollene Dickicht, die ‘Kranken’, ‘Moskau’, ‘Herzblut’. Jahrelang dachte ich, sie ließen sich entziffern, in Amerika gibt es Geräte, die solche Zeilen entwirren können, bis ich verstand, dass Rosas Schriften nicht zum Lesen gedacht waren, sondern zum Festhalten, ein dick gedrehter, unzerreißbarer Ariadnefaden.

Vielleicht Esther ist ein Kunstwerk, dass das klassische Korsett eines Romans abgestreift hat. Die Autorin Katja Petrowskaja verlässt bei der Aufarbeitung der Schrecken des 20. Jahrhunderts bereits ausgetretene Erzählpfade und geht eigene, experimentelle, Wege. Entstanden ist dabei ein Fragment aus Geschichten, das nicht nur berührt und bewegt, sondern auf seltsame Weise auch das Herz zu wärmen weiß.

Der Allesforscher – Heinrich Steinfest

Ein explodierender Wal, ein abgestürztes Flugzeug, ein Manager aus dem ein Bademeister wird – klingt vielleicht skurril, ist aber die Lebensgeschichte von Sixten Braun. Heinrich Steinfest erzählt in seinem Roman Der Allesforscher von der wundersamen Wandlung eines Topmanagers und von so einigen abstrusen Begebenheiten. Das ist auf jeden Fall unterhaltsam, doch reicht das auch aus, um auf der kurzen Liste der sechs besten Romane des Jahres zu stehen?

DSC_1903Der Beginn eines jeden Buchs leidet unter einem großen Manko: Es fehlt die Musik.

Sixten Braun ist sechsundzwanzig Jahre alt und Hürdenläufer, beinahe wäre er mal Deutscher Meister geworden. Außerdem arbeitet er als Manager, überwiegend im chinesischen Raum. Als er sich 2004 in Taiwan aufhält, wird er Opfer eines explodierenden Wals. Es ist nicht ganz klar, ob es sich um den Teil eines Gedärms handelt oder um ein Walorgan, das ihn am Kopf trifft – doch wie auch immer: Sixten Braun geht zu Boden. Nach zweitägigem Koma erwacht er, als er einer wunderschönen Ärztin in die Augen blickt. Mit dieser Ärztin stürzt er sich Hals über Kopf in eine Affäre, denn er spürt, dass diese Frau die Liebe seines Lebens sein muss. Doch schnell gerät Sixten in die nächste Katastrophe: sein Flugzeug stürzt ins ostchinesische Meer und er ist einer der wenigen Überlebenden. Natürlich nur, weil er seinem Sitznachbarn die Schwimmweste geklaut hat. Klingt skurril, ist es auch – und all dies geschieht gerade einmal auf den ersten fünfzig Seiten.

Ich würde es in Zukunft soweit wie möglich vermeiden, von dieser Geschichte zu berichten, sosehr sie mein Leben entscheidend verändern sollte. Wobei ich noch nicht ahnen konnte, wie entscheidend.

Doch auch auf den nächsten 300 Seiten geht es ebenso skurril weiter: aus dem Topmanager wird ein Bademeister. Sixten lässt sein altes Leben hinter sich, er besteigt kein Flugzeug mehr und zieht stattdessen von Köln nach Stuttgart, um dort im Bad Berg ältere Damen vor dem Ertrinken zu retten. Doch plötzlich tritt auch noch ein Kind in sein Leben und bringt damit all das, was acht Jahre zuvor in Taiwan geschehen ist, wieder zurück an die Oberfläche. Die Verwandlung zum liebevollen Vater ist in kurzer Zeit perfekt, wäre da nicht die knifflige Sprachhürde, denn das Kind Simon spricht lediglich eine Phantasiesprache.

Doch das Zeichen, das mich dann erreichte, war ein ganz anderes als erwartet und erhofft. Das Zeichen war kein Insekt, sondern ein Kind, auch wenn dies für manche Kinderhasser oder genervte Eltern das gleiche sein mag.

Heinrich Steinfest erzählt all dies mit viel Humor, aber auch mit einem leisen Hauch Bedauern. Unter der dicken Schicht der Skurrilität verbirgt sich eine traurige Geschichte, es ist der frühe Unfalltod von Sixtens Schwester Astri, die Anfang zwanzig beim Klettern in den Bergen stirbt. Erst mit der Wandlung seines ganzen Lebens, gelingt es Sixten, sich diesem Verlust zu stellen und den Unfall aufzuarbeiten. Im Nachwort erfährt der Leser, dass dieser Teil der Geschichte einen persönlichen Hintergrund hat, denn auch der Bruder von Heinrich Steinfest verstarb beim Klettern.

Der Allesforscher ist große Unterhaltung und ein Buch, das bis oben hin gefüllt ist mit Ideen und Skurrilität. An dieser Stelle muss ich jedoch auch leise Kritik üben. Während ich den Roman auf den ersten Seiten noch als runde Lektüre erlebt habe, verliert der Autor für mein Empfinden mit zunehmender Dauer den Erzählfaden. Die Ereignisse werden immer skurriler und die Zufälle immer unglaublicher, am Ende müssen die losen Erzählfänden in den Träumen der Protagonisten zusammengeführt werden. Heinrich Steinfest sprudelt über vor Ideen, doch stellenweise wäre es der Geschichte zuträglich gewesen, sich zu beschränken. Ich habe die Figuren beim Lesen irgendwann verloren, weil die Geschichte immer unglaubwürdiger wurde.

Der Herbst – gleich, wie golden er ist – ruft einem unweigerlich ins Gedächtnis, daß der Sinn des Lebens darin besteht, zu Ende zu gehen.

Wenn ich den Allesforscher neben Kruso lege, neben April oder neben die Pfaueninsel, dann fehlt es mir in diesem Roman vor allen Dingen an Ernsthaftigkeit und Tiefe. Ja, stellenweise habe ich mich gut unterhalten gefühlt und die Figur des Sixten Brauns ist genauso wie viele der anderen Figuren mit viel Wärme und Liebe geschildert, doch reicht Absurdität und Unterhaltung aus, um aus einem guten Buch ein Buchpreisbuch zu machen? Ich habe den Allesforscher trotz allem gerne gelesen und ich glaube, dass sich unter all der absurden Skurrilität auch viel Weisheit und Wahrheit verbirgt und vieles, das man für sich und sein eigenes Leben mitnehmen kann.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Literaturen.

3000 Euro – Thomas Melle

Thomas Melle erzählt in seinem Roman 3000 Euro die Geschichte zweier Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Die pornodrehende Supermarktkassiererin und der insolvente Flaschenpfandsammler – möglicherweise das Sinnbild einer modernen Liebesgeschichte, doch steht der Roman auch zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis?

3000 Euro

Anton, der Zauderer, wartet. Er will nicht leben und auch nicht sterben. Er will abgeschafft sein.

3000 Euro erzählt von zwei Menschen, für die 3000 Euro viel Geld ist – Geld, das sie auf normalem Wege nie verdienen könnten. Thomas Melle lässt die Lebenswege zweier Menschen kreuzen, die nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft leben, sondern Randständige sind – sie stehen am Rand der Gesellschaft, dort, wo die anderen lieber nicht so genau hinschauen wollen.

Humpeln die Penner an uns vorbei, berührt uns das unangenehm. Nicht nur ist es eine ästhetische Belästigung, sondern auch ein moralischer Vorwurf. Wieso bitte ist dieser Mensch so tief gesunken, welche Gesellschaft lässt einen derartigen Verfall zu? Das ist schon kein Mensch mehr, das ist ein Ding.

Denise ist Kassiererin im Supermarkt und Mutter einer kleinen Tochter, die an einer Wahrnehmungsstörung leidet. Einen Vater gibt es nicht wirklich, Denise erzieht ihr Kind allein. Das Geld, das sie im Supermarkt verdient, reicht gerade einmal so zum Leben. Doch Denise hat einen Traum, sie möchte gemeinsam mit ihrer Tochter nach New York reisen. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, macht Denise bei einem Pornofilm mit – in Aussicht gestellt werden ihr dafür 3000 Euro. Doch der Film ist gedreht und das Geld kommt einfach nicht, stattdessen fühlt Denise sich überall angestarrt, ertappt. Sie fühlt sich ausgegrenzt, an den Rand gedrängt – als könnte man ihr ansehen, was sie getan hat, um auch einmal so viel Geld in der Hand haben zu können, wie andere im Monat verdienen.

‘Und wie sind Menschen wie wir?’

Daraufhin lächelt Anton nur.

‘Anders’, sagt er. ‘Oder eben: so ein bisschen am Rand.’

‘Am Rand’, wiederholt Denise.

‘Oder schon über den Rand hinaus. Die, die ferner liefen. Jenseitig, irgendwie.’

Anton hat mal Jura studiert, doch dann hat er zu viel gefeiert. Jetzt hat er nichts mehr: das Studium hat er irgendwann abgebrochen, ein Taxi hat er zu Schrott gefahren und nun besitzt er weder einen Führerschein noch Arbeit, dafür aber einen Haufen Schulden. Ihm droht die Privatinsolvenz, wenn er es nicht schafft, rechtzeitig seine Schulden zurückzuzahlen: 3000 Euro. Anton ist ein sympathischer Träumer, ein Taugenichts, der fürchterlich passiv ist und in den Tag hineinlebt.

Wenn Anton träumt in diesen Wochen, dann von den alten Zeiten, die es so nie gab. Alternative Versionen seiner Jugend: Das Personal ist zwar dasselbe, aber die Ereignisse sind komplett irreal. Er schläft mit den Mädchen, die er nie haben konnte, er rettet die Freunde, die nicht mehr Teil seines Lebens sind, er feiert die Erfolge, die er nie hatte. Treibgut aus der Zeit, als noch alles möglich schien.

Dramaturgisch ist es sicherlich nicht überraschend, dass Thomas Melle Denise und Anton aufeinandertreffen lässt. Er lässt beide Lebenswege an einer ganz heiklen Stelle kreuzen, lässt den Gerichtstermin und die Überweisung des Pornogehalts auf ein und denselben Moment fallen. Und natürlich, ein bisschen Liebe ist auch mit dabei. Schließlich steht Denise vor der alles entscheidenden Frage, ob sie sich selbst rettet oder jemanden anderen.

All dies wird von Thomas Melle schnörkellos erzählt, stellenweise ist die Sprache sogar fast ein bisschen spröde. Dabei gelingt es dem Autor sehr viel besser, seine Figur Denise zu zeichnen und ihre Verzweiflung abzubilden. Es ist die Verzweiflung über ihre Arbeit an der Supermarktkasse, ihre Ängste davor, enttarnt zu werden und ihre Überforderung mit der schwierigen Tochter, die sie gleichzeitig liebt und hasst. Anton dagegen bleibt kaum greifbar, ein Schluffi irgendwie, der es weder schafft zu leben, noch den Mut findet sich umzubringen. Thomas Melle legt mit 3000 Euro einen Roman vor, der solide erzählt ist. Obwohl der Text Ecken und Kanten hat, an denen ich mich gestört und gestoßen habe, bleibt er lesenswert. Dies liegt vor allem an der ungewöhnlichen Thematik, von der Thomas Melle in seinem Roman erzählt und an seinem Mut, von zwei Menschen zu erzählen, die am Leben gescheitert sind, die am Rand der Gesellschaft stehen, dort, wo die Sonne nur noch selten scheint.

Eine weitere lesenswerte Besprechung zu 3000 Euro findet ihr bei Tilman von 54books.

Bilder deiner großen Liebe: Ein unvollendeter Roman – Wolfgang Herrndorf

Ein Jahr nach dem Tod von Wolfgang Herrndorf erscheint Bilder deiner großen Liebe, ein unvollendeter Roman und – wenn man so will – eine Fortsetzung von Tschick. Es ist eine Fortsetzung, die aus Bruchstücken besteht und die die Geschichte von Isa Schmidt erzählt. Wenn man an Tschick denkt, dann denkt man an Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, doch es gab da auch noch das seltsame Müllmädchen Isa. Bilder deiner großen Liebe erzählt ihre Geschichte.

DSC_1846Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.

In Tschick ist Isa Schmidt das Mädchen von der Müllkippe. Sie hilft Andrej und Maik dabei Benzin zu klauen und begleitet sie ein Stück auf ihrer gemeinsamen Reise, bevor sie die beiden wieder verlässt. In Bilder deiner großen Liebe bekommt Isa ihre eigene Geschichte, es ist eine Geschichte, die vor den Toren einer geschlossenen Irrenanstalt beginnt. Isa macht sich auf den Weg. Wohin genau, dass weiß sie selbst noch nicht. Hauptsache weg. Die erste Gelegenheit, die sich ihr bietet, nutzt sie dazu, durch das riesige Tor aus riesigem Eisen abzuhauen – ohne Schuhe und mit nicht viel mehr als dem, was sie am Leib trägt.

Es macht einem nur wahnsinnig Angst, wenn man merkt, dass man gerade auf den Gehweg kackt und weiß, dass das nicht üblich ist und dass so was nur Leute machen, die verrückt sind, und diese Angst macht, dass es einem auch wieder ganz gleichgültig ist, was die anderen denken, ob die jetzt gucken oder nicht, weil man in dem Moment wirklich andere Probleme hat. Und mein Problem war eben, dass ich langsam wieder verrückt wurde.

Isa begibt sich auf eine Reise, immer am Fluss entlang. Sie trifft auf Daniel, der in Afghanistan gekämpft hat. Wird von Max Hiller mitgenommen, der den Kanal mit einem Frachtschiff befährt. Trifft auf einen Juristen, der Schriftsteller geworden ist und über dessen Leben ein dunkler Schatten liegt. Der Lastwagenfahrer Teddybär nimmt sie mit und mit einem Bauarbeiter führt sie ein Gespräch über die erste große Liebe. Auch der Autor selbst schmuggelt sich, standesgemäß in grüner Trainingsjacke, in den Roman – Isa begegnet ihm zwischen lauter Gräbern auf dem Friedhof.

‘Wir sind beide gut und glücklich.’

‘Obgleich wir auch traurig sind.’

‘Aber da denken wir nicht dran.’

‘Da denken wir nicht dran.’

Isas Reise bleibt unvollendet, sie endet genauso plötzlich wie der Roman. Doch aus jeder Begegnung, die sie unterwegs macht, nimmt sie etwas mit. Aus jedem Gespräch behält sie etwas, hält sie etwas fest. Es ist eine Reise, die aus Bruchstücken und Fragmenten besteht, doch vereinzelt und zwischendurch gibt es so einige Sätze voller Klarheit, voller Schönheit und von erschlagender Erkenntnis. Einer dieser Momente ist die Feststellung von Isa, dass es keinen Unterschied macht, vor siebzig Jahren gestorben zu sein oder vor siebzig Sekunden. Ein anderer Moment ist eine Stelle, an der steht, dass die Menschen mit schwierigem Schicksal glücklicher sind: Nicht die Normalen, das ist ein Naturgesetz.

Ich halte das Tagebuch wie einen Kompass vor mich hin. Pappelsamen schneien um mich herum, und der süße Duft der Lichtnelken strömt durch die Nächte. Ich sehe einen Wald, aus dem vier hohe Masten aufragen über die Baumwipfel. Am Waldrand steht eine kleine Hütte, die Teil eines Wanderwegs ist, wie drei eingekastelte Zeichen verraten. Ein schwarzer Gedankenstrich, eine gelbe Schlange, ein rotes Dreieck. Mein Name. Unter dem Dachvorsprung lege ich mich hin.

Collage Herrndorf

Manchmal ist der Sinn entstellt, manchmal stehen nur einzelne Wörter am Ende der Kapitel, ohne Zusammenhang. Auch Lücken gibt es, zahlreiche Leerstellen. Einmal berichtet Isa, ihr Vater sei von einem Meteoriten erschlagen worden, alle Zeitungen hätten darüber berichtet. An anderer Stelle erzählt sie, dass sich ihr Vater sicherlich um sie sorgt. Die Topographie des Romans ist genauso unstimmig wie die Jahreszeiten. Doch auf der anderen Seite spiegeln diese Unzuverlässigkeiten auch die Erzählerin wider, die vor lauter Verrücktheiten die Welt aus ihrer ganz eigenen Perspektive wahrnimmt. Da überrascht es auch nicht, dass sie sich mit einem taubstummen Jungen unterhält. Die zweiunddreißig Kapitel des Romans erzählen weniger eine zusammenhängende Geschichte, als eine Reise in Fragmenten. Jedes Kapitel katapultiert den Leser in eine neue Situation, an einen anderen Ort. Die Entstehung des Romans, der nur 128 Seiten schmal ist, wird in einem erhellenden Nachwort von Kathrin Passig und Marcus Gärtner beleuchtet. Bilder deiner großen Liebe fußt auf einem neunzig Seiten langen Manuskript, das Wolfgang Herrndorf vor seinem Tod fertiggestellt hatte. Ihm fehlte jedoch die Kraft, den Roman zu beenden, die Ungereimtheiten zu beseitigen, die Lücken zu schließen. Er wünschte sich jemanden, der das Buch für ihn zu Ende schreiben sollte, doch das ist nicht geschehen, stattdessen wurde dieser kaputte Roman veröffentlicht. Das ist sicherlich auch sinnvoll, denn neben all dem, das keinen Sinn ergibt, findet sich dann doch die Stimme des Autors wieder, die mal humorvoll ist und mal tieftraurig, geprägt von einer erschreckenden Kraft.

Und wenn mir einmal jemand begegnet wäre und hätte mir erzählt, dass dieser Tag und dieser Weg und wie ich Tag für Tag an immer genau der gleichen Stelle mit der flachen Hand über die Farnbläter streiche, während immer und immer die Sonne scheint, dass in meiner Erinnerung nur das zurückbleiben würde und dass ich nie glücklicher sein würde als in diesem Moment, dann hätte ich ihn angeguckt, wie du mich jetzt anguckst. Weil du nicht weißt, was Zeit ist. Du weißt es nicht. Aber bald wirst du es wissen, und dann liegst du einen Meter fünfzig unter der Erde. Und darum erzähle ich dir das. Weil ich vielleicht der bin, der dir sagt, dass du mit der Hand über die Farne streichst, ohne es zu wissen. Das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich. Und das liegt nicht daran, dass es längert dauert, das Unglück. Es ist einfach so.

Mit Bilder deiner großen Liebe setzte Wolfgang Herrndorf seinen Romanerfolg Tschick fort. Isa ist auch on the road, aber ihr Weg ist vor allen Dingen düster und von vielen Gedanken über die Zeit, den Sinn des Lebens und den Tod geprägt. Es ist eine Reise ohne Ende, denn es ist dem Autor nicht gelungen, den Roman noch vor seinem Tod fertigzustellen. Dennoch ist es eine außergewöhnliche Reise und eine wertvolle, eine lesenswerte, eine berührende Lektüre. Ein letzter Gruß eines großartigen Autors.

Pfaueninsel – Thomas Hettche

Thomas Hettche erschafft in seinem Roman Pfaueninsel eine Welt, die längst vergangen scheint. Die Pfaueninsel war im 19. Jahrhundert eine Art künstliches Paradies, voller exotischer Pflanzen und wilden Tieren. Doch im Zentrum dieser märchenhaft verwunschenen Geschichte stehen weder Gärten noch Tierwelt, sondern ein kleinwüchsiges Schloßfräulein und eine tragische Liebe.

DSC_1830Nichts auf der Pfaueninsel steht sicher in seiner Zeit. Jede Geschichte beginnt lange, bevor sie anfängt.

Die Geschichte, die Thomas Hettche erzählt, beginnt im Jahr 1810 und endet etwa 70 Jahre später. Die Pfaueninsel ist ein wunderschöner Ort mitten in der Havel bei Potsdam. Die Insel wurde damals im 19. Jahrhundert unter der Leitung von Peter Joseph Lenné, Karl Friedrich Schinkel und dem Hofgärtner Ferdinand Fintelmann zu einem künstlichen Paradies umgestaltet. Es wurden nicht nur exotische Blumen gepflanzt, sondern auch seltene Tiere wurden auf der Insel heimisch: es gab Kängurus, Affen und einen Löwen. Auch menschliche Exoten fanden sich auf der Insel: riesenhafte Gestalten, dunkelhäutige Wilde und sogar zwei Zwerge. Christian und Marie, die eigentlich Maria Dorothea Strakon heißt. Das kleinwüchsige Geschwisterpaar kam 1806 auf die Insel und Marie ist auf der Pfaueninsel das Schloßfräulein.

[…] die Makel des Zwergenwuchses, der ihren Kinderkopf im Laufe der Jahre immer weiter verformte, so daß ihre Stirn sich hoch aufwölbte unter dem Haaransatz, und darunter die breite, wie zerdrückte Sattelnase mit der aufgestülpten Spitze, die so gar nichts von einem Kindernäschen hatte.

Für die Besucher ist der Besuch der Pfaueninsel wie die Reise in eine fremde Welt, in eine exotische Welt voller Absonderlichkeiten, die man am Ende des Tages – glücklicherweise – wieder verlassen kann. Ein bisschen wie eine Spielzeugwelt. Doch für Marie ist die Pfaueninsel ein Zuhause, das sie in dem ständigen Gefühl bewohnt, anders zu sein, absonderlich, abartig, makelhaft. Nicht wirklich ein Mensch, sondern eine Mischung aus Pflanze und Tier. Auf keinen Fall normal. Sie wird aufgrund ihrer Kleinwüchsigkeit auf der Insel geduldet, aber nicht geliebt. Sie muss immer wieder für die Befriedigung von männlichen Bedürfnissen herhalten, aufgrund ihrer Zartheit weckt sie Interesse. Der König wendet sich an sie, aber auch ihr eigener Bruder. Doch im Grunde bleibt Marie alleine. Ihre Wünsche und Bedürfnisse bleiben unerfüllt, dabei wünscht sich Marie nicht viel, nur ein bisschen Liebe hätte sie gerne. Sie hat ein Auge auf Gustav geworfen, den Sohn des Hofgärtners. Doch kann die Liebe wirklich die scheinbaren Grenzen des Normalen überwinden?

Ein Monster. Sie versuchte das Wort abzuschütteln, wie man ein Insekt abschüttelt, aber es wollte ihr nicht gelingen. Monster. Monster. Monster.

Thomas Hettche legt mit seinem Roman Pfaueninsel ein Buch vor, das eigentlich aus zwei Ebenen besteht, die der Autor sehr gekonnt miteinander verbindet. Da gibt es zum einen die historische Geschichte der Pfaueninsel, die von allerlei beeindruckenden Herrschaften bevölkert wird und immer wieder in den Roman  sehr ausführlich einfließt. Da geht es um Sichtachsen, Botanik und Menagerien und um die Anordnung der seltenen Pflanzen, da werden Könige erwähnt und historische Zusammenhänge, da kommen Lenné und Schinkel zu Wort und Fintelmann der Hofgärtner. Einschränkend gesagt werden muss an dieser Stelle, dass diese Passagen ab und an einen ermüdenden Charakter haben. Zum anderen gibt es da aber auch noch die tragische Liebesgeschichte und die tragische Lebensgeschichte von Marie, die Thomas Hettche mitten hinein in diesen historischen Stoff verpflanzt, die wohl aber genauso gut in unserer heutigen Zeit funktionieren könnte. Diese Ebene hat mich von Beginn an begeistern können.

[…] alles nur Maskerade, Kulisse wie die Mauern des Schlosses, die nicht aus Steinen, sondern aus bemalten Brettern bestanden. Schloßfräulein, dachte Marie, und begann zu weinen, war sie nur in dieser Welt der Lüge, in der wirklichen aber ein Monster.”

Marie ist ein in all ihrer Naivität liebenswertes Mädchen. Die Pfaueninsel bietet ihr und ihrem Bruder Christian ein Zuhause, doch eine wirkliche Heimat finden sie dort nicht. Es ist vor allen Dingen Marie, die unter dem Makel der Kleinwüchsigkeit leidet. Die glaubt, ein Monster zu sein und stetig auf der Suche nach einem Platz im Leben ist. Dabei bedient sie sich auch der Literatur, liest sich durch die Schloßbibliothek – im verzweifelten Versuch Antworten auf Fragen zu finden, die sie quälen und bedrängen. Ihr größter Lebenswunsch ist es geliebt zu werden, doch die Liebe zu Gustav kann sie nicht erfüllen.

Thomas Hettche gelingt es, das Innenleben von Marie mit viel Feinfühligkeit und Wärme zu schildern. Das Mädchen, aus dem im Laufe der Geschichte eine unglückliche alte Frau wird, die kaum noch gehen kann, ist mir beim Lesen ganz eng ans Herz gewachsen. Aber auch die Geschichte der Pfaueninsel in all ihren poetischen Bildern weiß zu überzeugen.

Pfaueninsel ist ein wahrlich wunderschöner und sehr lesenswerter Roman. Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog Wörterrausch.

Kruso – Lutz Seiler

Lutz Seiler steht mit seinem Roman Kruso auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis und das vollkommen zu Recht. Er erzählt von einer Gemeinschaft der Schiffbrüchigen, von einer ungewöhnlichen Freundschaft, von der Insel Hiddensee und vom Ende der DDR. Kruso ist voller Poesie und ein wahrlich großer und großartiger Roman.

DSC_1444Lutz Seiler erzählt eine Geschichte in dessen Zentrum die verwunschene Ostseeinsel Hiddensee steht. Hiddensee war eine Nische für Andersdenkende, die im Gegensatz zur umzäunten DDR Flucht und Freiheit versprach und zahlreiche Urlauber anzog, für die es in den spärlich vorhandenen Privatquartieren kaum genug Platz gab. Hiddensee war die einzige bewohnte Insel, die ohne Anbindung zum Festland war. Die Nähe zu Dänemark machte sie zum Grenzgebiet, gleichzeitig war die Insel aber auch Rückzugsort vieler Intellektueller, die vor dem Regime flohen und sich mit Saisonarbeit über Wasser hielten. Manche von ihnen wagten die Flucht durch die Ostsee, nur wenige kamen an. Nach Hiddensee fuhr man, um aus dem eigenen Leben zu fliehen. Man könnte auch von Gestrandeten sprechen, von Schiffbrüchigen. Hiddensee umwehte ein Hauch von Romantik, ein Gefühl von Freiheit und die Atmosphäre eine große, gemeinsame Familie zu sein.

Sicher, er hatte Experten gehört, die behaupteten, dass Hiddensee im Grunde schon außerhalb läge, exterritorial, eine Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen. Andere nannten sie das Capri des Nordens, auf Jahrzehnte ausgebucht.

In Kruso erzählt Lutz Seiler von Edgar Bendler, der 1989 aus seinem Leben flieht und nach Hiddensee reist. Ein Unglück hat alles aus den Fugen geraten lassen. Plötzlich fühlt er sich als Eindringling in seinem alten Leben, fremd – wie ein Mann ohne Land. Edgar, der von allen nur Ed genannt wird, hat als junger Mann zunächst eine Bauarbeiterlehre absolviert, später studierte er dann in Halle Germanistik. Als er flieht, schreibt er gerade an einer Doktorarbeit über den Dichter Trakl. All das lässt er zurück, nur die memorierten Verse nimmt er im Kopf mit nach Hiddensee. Was Auslöser für diese Flucht gewesen ist, erfährt man erst spät. (“[…] aufgelaufen, ein Wrack, erst vierundzwanzig Jahre alt und schon ein Wrack.”)

Am Ende aller Reden schien Hiddensee ein schmales Stück Land von mythischem Glanz, der letzte, der einzige Ort, eine Insel, die immer weiter hinaustrieb, außer Sichtweite geriet – man musste sich beeilen, wenn man noch mitgenommen werden wollte.

Im Klausner, einem Gasthof auf Hiddensee, heuert Ed als Abwäscher an. Nur noch der Leuchtturm trennt den Gasthof von der Ostsee, der Klausner ist letzter Inselzipfel. Ed wird Esskaa, eine Saisonkraft. Es ist das erste Mal seit der Lehre als Bauarbeiter, dass Ed wieder mit harter Arbeit konfrontiert wird – er hat das Gefühl, nach Hause zu kommen. Wieder bei sich anzukommen. Das Arbeitsaufkommen ist enorm, die Schilderungen am Abwaschbecken muten schon fast surrealistisch an. Seine Arbeitskollegen nennen sich Rimbaud und Cavallo, beide sind promoviert und im Klausner gestrandet, um Zuflucht vor dem Regime zu finden. Im Klausner lernt Ed auch Kruso kennen, der eigentlich Alexander Krusowitsch heißt, aber von allen nur Kruso genannt wird, von einigen aber auch Losch. Kruso ist eine außergewöhnliche Erscheinung, Sohn einer Artistin. Stiefsohn eines Strahlenforschers. Bruder einer im Meer gestorbenen Schwester. Kruso ist so etwas wie ein Anführer, Oberhaupt der Esskaas, Verwalter der Schiffbrüchigen und Gestrandeten. Er verwaltet diejenigen, die wie Wracks an der Küste Hiddensees auflaufen und verteilt sie auf die Quartiere. Krusos Dichtergeist macht aus dem Gasthof eine Arche, die Tag für Tag von den Saisonkräften gerettet und auf Kurs gehalten werden muss.

Erlösung vom Beruf. Vom Mann. Vom Zwang. Vom Staat. Von der Vergangenheit, nicht wahr, Ed? Es klingt wie ein Versprechen, und alle kommen, und hier beginnt sie, unsere Aufgabe, der Ernst unserer Sache. Das heißt: Drei Tage, und sie sind eingeweiht. Wir schaffen drei oder vier Tage für alle, für jeden, und wir schaffen damit eine große Gemeinde, die Gemeinschaft der Eingeweihten.

Im Spätsommer 1989 zerbricht die einstige Gemeinschaft. Nacheinander verschwindet die Besatzung des Klausners – zurück bleiben Kruso und Ed, die eine enge aber auch verstörende Freundschaft verbindet. Es sind nicht nur die Gedichte Trakls, die das Fundament dieser Freundschaft sind, sondern vor allem das Wissen darum, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren.

Das ist Hiddensee, Ed, verstehst du, hidden – versteckt? Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung, die es ihnen erlaubt, zurückzulehren, als Erleuchtete. Eine Erfahrung, die es ermöglicht, das Leben weiterzuleben, bis zu dem Tag, an dem Quantität in Qualität umschlägt, an dem das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt, jenem Moment … Ein großes Pochen wird das sein, ein einziger donnernder Herzschlag.”

Lutz Seiler hat mit Kruso einen großen und großartigen Roman geschaffen, der nicht nur durch Poesie besticht, sondern auch durch eine Erzählung, die aus ganz vielen Schichten besteht: eine dieser Schichten ist das Ende der DDR, eine andere die sagenumwobene Insel Hiddensee. Es geht um Flucht, um Freiheit, um Ostseetote, um Politik und darum, was mit den Menschen geschieht, die sich an der herrschenden Politik nicht beteiligen wollen, die eine Nische suchen, in der sie frei von allem leben, lesen, schreiben können. Es geht aber auch um Freundschaft, um die Initiation in die Liebe, um Literatur und es geht um – der Titel deutet es bereits an, denn im Namen Kruso schwingt natürlich auch Robinson Crusoe mit – Abenteuer. All das wird in einer herrlichen Poesie erzählt, in Bildern, die sich mir eingebrannt haben. Lutz Seiler sprengt dabei bewusst die Grenzen der Realität, Kruso hat auch eine surrealistische Ebene. Vieles von dem, das Ed erlebt, mutet traumhaft an. Trotz dieser Vielfalt an Themen, droht der Roman an keiner Stelle, unter dieser Last zusammenzubrechen. Ganz im Gegenteil: Kruso ist von Lutz Seiler mit sanfter Hand komponiert worden.

Kruso ist ein Roman, der nicht nur zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis steht, sondern diesen Preis auch verdient hätte. Ja, gar erhalten müsste.

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