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Zeitgenössisches

Aller Liebe Anfang – Judith Herrmann

Stella ist glücklich verheiratet, hat eine kleine Tochter und einen Beruf, der sie zufrieden stellt. Doch eines Tages steht ein fremder Mann vor ihrer Tür, der ein Gespräch mit ihr führen möchte. Dieses seltsame Ereignis ist der Auftakt für einen Albtraum, der Stella immer stärker die Luft zum Atmen abschnürt. Judith Herrmann legt mit Aller Liebe Anfang einen eindringlichen Roman vor und erzählt von unserer Schutzlosigkeit und den Schrecken, die ohne Vorwarnung in ein scheinbar glückliches Leben drängen können.

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Ich empfinde es als ungerecht, dass sich die Verkettung der Dinge nur im Nachhinein erkennen und begreifen lässt. Und auf der anderen Seite bin ich glücklich, hab ein wildes und zuversichtliches Herz.

Der Titel des Romans –  Aller Liebe Anfang – ist eine Irreführung, denn Judith Herrmann beschreibt nicht den Anfang einer Liebe, sondern den Anfang eines Albtraums, eines Schreckens, der plötzlich Einzug in das eigene Leben hält und gegen den man sich nicht wehren kann. Was kann es schon für ein Gegenmittel für eine unerwünschte Liebe geben? Für eine einseitige Liebe? Für eine Liebe, die es nur in der Phantasie des Gegenübers gibt, die in der Realität jedoch keinen Bestand hat. Ist das überhaupt Liebe? Oder Besessenheit? Eine Obsession? Eine Krankheit? Eine Heimsuchung?

[…] sie fragt sich erst später, wie sie sich aus was raushalten soll, das sie selber gar nicht veranlasst hat, wie soll sie was steuern, das jemand anders steuert.

Die 37 Jahre alte Stella wohnt gemeinsam mit ihrem Mann Jason und ihrer Tochter Ava in einem Stadthaus. Die Stadt bleibt namenlos, doch die gewählten Figurennamen deuten daraufhin, dass die Geschichte in England oder in Amerika spielen könnte. Stella arbeitet als Altenpflegerin, ihr Mann Jason baut Häuser. Er ist immer wieder für mehrere Wochen nicht zu Hause, wenn er da ist, ist die Kommunikation schleppend, schwierig. (Schön wenn Jason wiederkommt. In gewisser Weise auch schön, wenn er wieder wegfährt.) Stella ist in gewisser Weise spröde, zurückhaltend, verkopft. Obwohl sie bereits einige Jahre in derselben Straße wohnt, kennt sie kaum einen ihrer Nachbarn. Ihre Kontakte beschränken sich auf ihre Arbeitskollegen. Vieles bleibt in ihr, unausgesprochen, lediglich gedacht. An einem gewöhnlichen Mittwochvormittag ändert sich das bisherige Leben von Stella von einem Moment auf den anderen: ein fremder Mann steht vor dem Gartentor, klingelt und bittet um ein Gespräch. Auch wenn sie nicht genau sagen kann warum, hindert irgendetwas sie daran, die Tür zu öffnen. Über die Gegensprechanlage schickt sie ihn fort.

Er sagt, guten Tag. Wir kennen uns nicht. Sie kennen mich nicht. Ich kenne Sie aber vom Sehen, und ich würde mich gerne mal mit Ihnen unterhalten. Haben Sie Zeit.

Dieser Tag ist der Beginn eines Albtraums. Der Fremde klingelt jeden Tag an der Haustür, legt jeden Tag etwas in den Briefkasten – hinterlässt Karten, Liebesbriefe, CDs, Gegenstände, Fotos. Stella findet heraus, dass der fremde Mann ihr Nachbar ist. Mister Pfister. Während ihr Mann sie zunächst noch einer heimlichen Liebschaft verdächtigt, setzt sich in Stellas Leben schnell Angst und Schrecken fest: plötzlich beginnt sie damit, die Haustür von innen abzuschließen, blickt immer wieder aus dem Fenster, fühlt sich nie alleine, nie unbeobachtet.

Ich wünsche mir, dass du mich ansiehst. Dass du mich ansiehst und mir zuhörst. Ich wünsche mir auch, dass wir uns schon immer hätten kennen können, du wirst älter, wir haben nicht mehr viel Zeit. Du wirst lächeln, wenn du mich ansiehst, es kann gar nicht anders sein. Ich werde dir zeigen, was ich sehe: die Drossel, ihr getupftes Gefieder, den Park, die Seiten des Buches, in dem ich lese –

Mister Pfister glaubt Stella zu lieben, doch für Stella ist der fremde Mann eine Bedrohung, ein Eindringling, ein Schrecken, dem sie sich nicht entziehen kann. Wie soll sie sich verhalten, wie reagieren? Soll sie das Gespräch suchen, soll sie ihn ignorieren? Wie kann sie sich schützen, wie kann sie ihre Tochter und ihren Mann schützen? Wie kann man sich vor ungewollter Liebe bewahren?

Die Stella, die Mister Pfister meint, gibt es nicht, sie hat jedenfalls mit Stella nichts zu tun. Mister Pfister hat sie erkannt, aber er meint sie gar nicht – diese Stella, die nach Feierabend in flachen Sandalen und mit einem müden, ungeschminkten Gesicht einkaufen geht, angespannt, hektisch und offenbar bedürftig, diese Stella interessiert ihn nicht. Mister Pfister interessiert sich für Stella in ihrem verschlossenen Haus. Für ihr Gesicht hinter der kleinen Scheibe neben der Tür, ihre entfernte Gestalt im Stuhl am Rand der Wiese weit weg hinten im Garten, für die wartende Stella am Schreibtisch oben in ihrem Zimmer. Diese Stella meint Mister Pfister. Eine imaginierte Stella. Seine.

Judith Herrmann legt mit Aller Liebe Anfang einen schwergewichtigen Roman vor, der sich weniger wie ein Roman liest, sondern schon beinahe Züge einer Kurzgeschichte trägt. Vieles bleibt in der Schwebe, unausgesprochen, wortlos. Insgesamt gibt es nur wenige Erklärungen: warum taucht dieser Mann so plötzlich auf? Warum sucht Stella so wenig Unterstützung? Vielleicht möchte Judith Herrmann darin spiegeln, dass es für das, was Stelle geschieht, eben häufig keine Erklärung gibt, doch mir haben Zusammenhänge gefehlt, mir hat eine Entwicklung der Figuren gefehlt. Der Roman lebt weniger von einer Geschichte, die mit Inhalt und Figuren gefüllt wird, die sich im Laufe der Erzählung entwickeln, sondern von einem diffusen Gefühl der Bedrohung, der Beklemmung, der Angst. All dies spiegelt sich auch in der Sprache wider, die lückenhaft ist und aus knappen, aneinandergereihten Sätzen besteht. Zwischendurch findet sich immer wieder das, was man als Herrmannsound bezeichnen könnte. “Träume, wie Häutungen”“Sowieso, schon lange nicht mehr”.

Es ist grässlich, gestalkt zu werden. Es macht mein Leben kaputt. Es macht mich kaputt. Ich will, dass du damit aufhörst. Ich will, dass du nie wieder bei uns klingelst, nie wieder etwas in den Briefkasten legst, dass du verschwindest, ein für alle Mal. Hast du das verstanden. Hörst du mich?

Judith Herrmann legt  mit Aller Liebe Anfang einen intensiven Roman vor, dem eigentlich alles fehlt, was einen herkömmlichen Roman ausmacht. Die Autorin legt den Umriss einer Geschichte vor, die von den Lesern selbst gefüllt werden muss – das ist stellenweise unbefriedigend. Dennoch: in all seiner Bedrohlichkeit, in all seiner Kühle, Kälte und angsteinflößenden Atmosphäre ist dieser Roman ein starkes Stück Literatur.

Donnerstags bei Kanakis – Elisabeth de Waal

Elisabeth de Waal ist die Großmutter von Edmund de Waal, der vor drei Jahren die Geschichte seiner Familie niederschrieb und unter dem Titel Der Hase mit den Bernsteinaugen veröffentlichte. Im Vorwort von Donnerstags bei Kanakis erzählt Edmund de Waal davon, wie er den Roman seiner Großmutter, der zu ihren Lebzeiten nie veröffentlicht wurde, gelesen und empfunden hat.

DSC_1265Elisabeth de Waal wurde 1899 als Elisabeth von Ephrussi geboren und wurde damit Teil einer jüdischen Familiendynastie in Wien. Geschrieben hat sie schon immer: für den Figaro, später dann für das Times Literary Supplement. Auch Romane hat sie geschrieben, wenn sie nicht gerade mit Rilke über ihre große Leidenschaft des Dichtens konferierte. Doch alle fünf Texte von ihr blieben während ihrer Lebzeiten unveröffentlicht. Donnerstags bei Kanakis hat Elisabeth de Waal auf Englisch niedergeschrieben und es ist – dreiundzwanzig Jahre nach ihrem Tod – der erste Roman von ihr, der in die Buchläden gelangt.

Auch im gesellschaftlichen Umgang würde er die Gewissheit der Zugehörigkeit nicht finden, und wenn er sich dieses Dazugehörens nicht sicher warm dann hätte es keinen Sinn gehabt, zurückgekehrt zu sein; er musste zu den Wirzeln, den Wurzeln.”

Die Geschichte spielt im Wien der fünfziger Jahre, der Krieg ist vorbei, doch es ist nichts mehr so, wie es zuvor gewesen ist: Gebäude sind zerstört, Geschäfte mussten schließen, das Geld ist knapp und die Kriegstraumata immer noch allzu präsent. Die ganze Gesellschaft muss sich neu strukturieren. Das alte Adelsgeschlecht, das vor dem Kriegsausbruch ein unbeschwertes Leben führte, findet sich plötzlich in einer befremdlichen Welt wieder: alle Privilegien, allen Status haben sie verloren. So findet sich Nina Grein, die eigentlich Prinzessin von Grein-Lauterbauch ist, plötzlich als niedere Hilfskraft in einem wissenschaftlichen Labor wieder. Anpassungsschwierigkeiten an die neue Realität, die kennt auch Kuno Adler. Vor dem Krieg hat er das richtige Gespür gehabt und ist rechtzeitig mit Frau und Kindern ausgereist, um in den folgenden fünfzehn Jahren erfolgreich in den USA tätig zu sein. Erfolg bedeutet jedoch nicht immer Zufriedenheit. Kuno Adler hat Heimweh, er vermisst Wien und all das, was er jemals damit verbunden hat. Er lässt Frau und Kinder zurück, um aus dem sicheren Exil nach Hause zurückzukehren. Doch schnell muss Professor Adler feststellen, dass ihm sein Zuhause fremd geworden ist: plötzlich kämpfen ganz unterschiedliche Empfindungen in ihm, nicht nur die Heimatliebe, sondern auch Zorn und Verzweiflung. Der Ort, an dem Kuno Adler groß geworden ist, der Ort, der seine Identität, sein ganzes Sein geprägt hat, hat sich plötzlich so sehr verändert, dass er ihn kaum noch wiederkennt. Im Exil hat er eine sichere Stellung aufgegeben, um in Wien wieder ganz unten anfangen zu müssen: obwohl er schon fünfzig Jahre alt ist, wird Professor Adler nur als Assistent eingestellt.

Wieder dort, wo er bereits gewesen war! Das war es, was Restitution, was Wiedereinsetzung bedeutete. Aber was man, noch in seinen Dreißigern, für richtig, für angemessen, für ein Versprechen auf die Zukunft gehalten hatte, sah in den Fünfzigern nicht mehr so aus. Die Zeit war nicht stehengeblieben.

Ganz anders ist die Rückkehr nach Wien für den Millionär und Lebemann Theophil Kanakis, er kehrt mit den Taschen voller Geld zurück und möchte sich die Kriegswirren zu nutze machen, um günstig Immobilien aufzukaufen. Er träumt davon, einen kleinen Pavillon wieder aufbauen zu lassen, um sich dort mit allerlei irdischen Freuden zu vergnügen: er wird von zahlreichen interessanten Persönlichkeiten besucht und umgibt sich am liebsten mit jungen Männern. Als eines Tages die wunderschöne Marie-Therese auftaucht, die von allen nur Resi genannt wird, nimmt das Schicksal für ihn eine ganz neue Wendung …

Seine Einsamkeit dort war wie eine unheilbare Krankheit gewesen, bei der es keine Hoffnung auf Besserung und keine tröstlichere Aussicht gab als den Tod. Aber sein gegenwärtiges Alleinsein, das begann er zu verstehen, war einfach eine Begleiterscheinung des Alterns, der Reife, und wenn es Einschränkungen gab, dann würde es auch einen Ausgleich und eine Bereicherung geben.

Elisabeth de Waal konzentriert sich intensiv und mit großer Liebe für das Detail auf all diese Charaktere und Figuren, verfolgt ihre Lebenswege, nimmt Anteil an ihren Sorgen, ihren Nöten und Gedanken. Ihre Beobachtungen zeichnen sich durch eine große Feinfühligkeit und Zärtlichkeit aus. Wobei sie nicht nur ihre Figuren ganz genau beobachtet, sondern auch alles, was um diese herum geschieht: es ist vor allem die Zeit des Umbruchs, die sich bei Elisabeth de Waal zwischen den Zeilen Bahn bricht. Sie beschreibt den Übergang von einer alten, in eine neue Welt – erzählt von den damit neu erwachenden Möglichkeiten, warnt aber auch davor, was geschehen kann, wenn man in der alten Zeit und in veralteten Denkmustern haften bleibt. Der Schlusspunkt des Romans ist fulminant und doch irgendwie zwangsläufig.

Donnerstags bei Kanakis ist ein leiser und nostalgischer Roman, dem man die ein oder andere Länge verzeihen kann. Elisabeth de Waal erzählt einfach so gekonnt und atemberaubend von Heimat, Exil und davon, was es bedeutet, nach Hause zurückzukehren, dass ich am liebsten immer weiter gelesen hätte.

Falsche Papiere – Valeria Luiselli

Valeria Luiselli ist gerade einmal 31 Jahre alt, legte in diesem Frühjahr aber bereits ihr zweites Buch vor. Für ihr Romandebüt Die Schwerelosen war sie von der Kritik hochgelobt worden, mit “Falsche Papiere” erscheint von der Autorin, die auch als Journalistin, Dozentin und Lektorin arbeitet, nun ein Essayband. Und was für einer: poetisch, elegant und angereichert mit vielen spannenden und interessanten Gedanken.

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“Falsche Papiere” versammelt zehn Essays, die allesamt um das Thema Bewegung kreisen: es wird gereist, geradelt, flaniert. Valeria Luiselli reist nicht nur durch die reale Welt, sondern auch durch die Welt der Literatur, die Welt der Gedanken. Sie reist zur Friedhofsinsel San Michele, um das Grab von Joseph Brodsky zu suchen, sie fährt mit ihrem Fahrrad quer durch Mexiko-Stadt, flaniert durch die Straßen – immer den Flüssen folgend. Die Gedanken treiben dabei in alle möglichen Richtungen, immer wieder landet sie bei der Literatur, bei der Sprache, bei der Welt der Bücher.

Ein Grab auf einem Friedhof zu suchen ist wie die Suche nach einem unbekannten Gesicht in einer Menschenmenge. Beides generiert in uns dieselbe Art zu sehen und zu sein: Aus einer bestimmten Entfernung könnte jede Person diejenige sein, die uns erwartet; jedes Grab dasjenige, welches wir suchen. Um auf die eine oder das andere zu stoßen, sollte man gemächlich zwischen den Menschen und den Mausoleen umherschlendern und mit aller Geduld auf diese Begegnung warten.

Alle Essays beginnen mit einem Grundgedanken, von dem ausgehend, Valeria Luiselli damit beginnt über ganz unterschiedliche Dinge zu sinnieren – Gedanke für Gedanke wächst eine Art Verästelung des Denkens heran, die in immer neue Richtungen weiter wächst. In ihrem ersten Essay, der sie auf die Friedhofsinsel San Michele führt, denkt sie über Joseph Brodsksys Biographie nach, denkt weiter nach über Ezra Pound und Igor Stravinsky, stellt Beninmregeln auf für den Besuch eines Grabes und denkt darüber nach, wie anders man sich selbst in einem Spiegel eines Hotelzimmers wahrnimmt – der Essay schließt mit der Begegnung einer skurrilen alten Dame. Zwischendurch fließen immer wieder Zitate von Brodsky in den Text ein.

Wenn wir eine Sprache nur halb verstehen, füllt die Vorstellungskraft den Sinn eines Wortes, eines Satzes oder Absatzes auf – wie in jenen Malheften, in denen es nur Punkte gab, die wir als Kinder mit einem Bleitstift verbinden mussten, um das Bild als Ganzes zu entdecken. Ich verstehe nicht Portugiesisch, oder ich verstehe es nur so lückenhaft wie jeder, der Spanisch spricht. Sage ich “saudade”, wie es immer so sein, als füllte ich die Lücken zwischen den fremden Punkten.

Auf genau diese Art und Weise nähert sich Valeria Luiselli auch den anderen Themen ihrer Essays: sei es die Kartographie Mexikos, das Eigenleben von Büchern oder die Herkunft des Begriffs saudade. Die junge Autorin lässt sich gedanklich treiben, reist von einem Gedanken zum nächsten. Erwähnung finden auch immer wieder ihre großen Vorbilder: Rousseau, Walser, Baudelaire, Kracauer und Benjamin.

Aus allen Essays spricht eine ungeheure Phantasie, eine ungeheure Lust an Sprache, an Literatur, an Wörtern und ein ungeheurer Spaß am Denken. Valeria Luiselli möchte ihren Blick nicht auf das richten, was sowieso jeder sieht, sondern auf das, was übersehen wird: auf die Lücken, die Leerstellen, auf abgerissene Häuser, leerstehende Straßenzüge und verlassene Kreuzungen. In Mexiko wurden diese urbanen Reste auf den Namen relingo getauft – diese Orte des Nichts, sind im übertragenen Sinne auch die Orte, an denen sich die Schriftsteller aufhalten: “Für die Prosa braucht es die Mentalität eines Maurers.”

Vermutlich ist ein Mensch nur in zwei Räumen wirklich zu Hause: im Haus der Kindheit und im Grab. Alle anderen Orte, die wir bewohnen sind bloß graue Fortsetzungen dieser ersten Wohnung.

Nach dem Lesen von Valeria Luisellis Essays müsste man diesen beiden Räumen noch einen dritten hinzufügen: die Literatur. Literatur, die man nicht nur liest, sondern Literatur, die Orte schafft, die ein Zuhause schafft, einen Raum, in dem man sich zu Hause fühlen kann. “Falsche Papiere” ist vielleicht weniger ein Essayband, als ein Band voller Gedankenreisen – phantasievoll, poetisch, spannend.

Heimflug – Brittani Sonnenberg

Das Wort Heimflug beinhaltet das Gefühl, nach Hause zu kommen. Doch was ist, wenn man zwar um die Welt fliegt, doch gar kein Zuhause mehr hat? Kein Heim, keinen Ort, an dem man sich geborgen fühlt? Brittani Sonnenberg legt mit “Heimflug” einen wunderschönen Roman über Heimat vor und erzählt eine Geschichte vom Wunsch danach, irgendwo anzukommen.

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Familie Kriegstein ist immer unterwegs. Vater Chris Kriegstein arbeitet in einem internationalen Unternehmen, er ist die Karriereleiter empor geklettert, doch der Preis, den er dafür zahlen muss, sind häufige Umzüge: in achtzehn Jahren sind er und seine Frau Elise acht mal umgezogen. Deutschland, England, China, Singapur – das sind nur einige ihrer Stationen. Elise folgt ihrem Mann immer wieder in fremde Länder und sie gibt für ihn auch immer wieder alles auf: die neu gewonnene Heimat, die neu erlernte Sprache, die neu gefundenen Freunde. Elise schwankt zwischen dem Wunsch danach, neue Länder zu entdecken und einem seltsamen Heimweh. Eine unglückliche Kindheit hat sie früh aus dem Elternhaus vertrieben, so weit fort, wie möglich. Nun sehnt sie sich zurück, doch wie geht das – Heimweh nach einem Heim haben, das es eigentlich gar nicht mehr gibt?

“Wie es sich aber konkret anfühlte, in einer fremdsprachigen Umgebung zu leben, wurde ihr erst bewusst, als sie am Flughafen landeten und ihr die Wörter um die Ohren schwirrten wie sommers die Zikaden in Vidalia.”

Es ist nicht das Zuhause, nach dem Elise sich sehnt, sondern ein Gefühl – das Gefühl anzukommen, das Gefühl, nicht mehr fremd zu sein, nicht seltsam angeschaut oder gar ausgegrenzt zu werden. Später reisen die Kriegsteins nicht mehr nur zu zweit durch die Welt, sondern gemeinsam mit ihren Töchtern Leah und Sophie, für die die ständigen Neuanfänge nur schwer zu bewältigen sind. Unsicherheiten und Enttäuschungen begleiten jeden ihrer Umzüge. Einmal im Jahr gibt es eine vom Unternehmen verordnete Heimreise, doch das Gefühl für die ehemalige Heimat geht immer mehr verloren. Weder da, noch dort fühlt sich die Familie wirklich zu Hause. Es ist ein fürchterlicher Schicksalsschlag, der das ganze bisherige Leben der Familie Kriegstein schließlich auf den Kopf stellt…

“Wie soll Leah Evgenia an der amerikanischen Schule von Schanghai den Trost vermitteln, den es birgt, auf der vorderen Hüttenveranda heiße Schokolade zu trinken, in die Steppdecke ihrer Großmutter gehüllt, während im Tal die Kirchenglocken des Städtchens läuten, und sie den ganzen Tag lesend verbringen kann, ohne dass irgendetwas ihr signalisiert, sie gehöre nicht hierher – weder die überfüllten Bürgersteige einer Stadt mit zwölf Millionen Einwohnern noch das Kichern und Schnattern einheimischer Schulkinder, die mit dem Finger auf sie zeigen, noch die Speisekarten, die lauter unentzifferbare Gerichte anführen.”

Die Autorin verfolgt ihre Figuren über viele Jahrzehnte, bis zu dem Moment, in dem Leah erwachsen ist und sich endlich den Wunsch nach einem festen Zuhause erfüllen möchte. Doch dann muss die junge Frau feststellen, dass es als Nomade nicht einfach ist, sesshaft zu werden – sie spürt dieses Fernweh in sich, diesen seltsamen Drang danach, wegzulaufen, immer immer weiter zu laufen.

Brittani Sonnenberg erzählt eine Familiengeschichte, die nicht nur mehrere Generationen umfasst, sondern auch mehrere Kontinente umspannt. Es dürfte also nicht verwundern, dass in ihrem Roman auch eine Vielzahl an unterschiedlichen Stimmen und Erzählperspektiven zu Wort kommen. Erzählt wird das Leben der Familie Kriegstein aus der Sicht aller Familienangehöriger, jeder von ihnen kommt abwechselnd zu Wort. Dadurch entsteht ein vielstimmiges Panorama, das sich aus ganz vielen unterschiedlichen Blickwinkeln, Gedanken und Perspektiven zusammensetzt. Eine der Erzählperspektiven ist besonders ungewöhnlich, denn das erste Kapitel des Romans wird aus der Sicht von Elises Elternhaus erzählt – für mich gehört dieses Kapitel zu den berührendsten des ganzen Romans.

“Für eine Heimstatt ist es schlimm, keine Macht über das eigene Erscheinungsbild zu haben, das Schlimmste aber ist, dass man nicht einschreiten kann, wenn sich unheilvolle Dinge in einem abspielen. Man kann nur hilflos zusehen.”

“Heimflug” ist ein Roman über Heimat und das Nachhausekommen. Brittani Sonnenberg erzählt von globalen Nomaden, die im Rahmen ihrer Arbeit immer weiterziehen – sich von ihrem Ursprung wegbewegen, ohne irgendwo wirklich anzukommen. Sie erzählt davon, was passiert, wenn Heimat nicht mehr an einen Ort gebunden ist, sondern das Konstrukt Familie die einzige Heimat ist, die einzige Sicherheit, die einzige Geborgenheit, die man bekommen kann. Und sie erzählt davon, was passiert, wenn dieses Konstrukt anfängt zu bröckeln und Risse zu bekommen.

Positiv besprochen wurde der Roman übrigens auch im Bücherwurmloch.

Wunderlich fährt nach Norden – Marion Brasch

Eigentlich ist Wunderlich ein Mann im besten Alter und doch läuft gerade fast alles in seinem Leben schief. Als er dann auch noch von seiner großen Liebe Marie verlassen wird, entschließt er sich zu einem radikalen Schritt: er lässt allen Kummer hinter sich und reist einfach drauflos. Richtung Norden ist das einzige Ziel, das er hat.

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“Wunderlich war der unglücklichste Mensch, den er kannte. Er kannte zwar nicht viele Menschen, doch was spielt das für eine Rolle, wenn das Unglück größer ist als man selbst.”

Wunderlich, so heißt der Held des neuen Romans von Marion Brasch. Der Name kommt nicht von ungefähr, denn Wunderlich ist genauso kauzig und sonderbar, wie man sich wohl jemanden vorstellen würde, der diesen Namen trägt. Sein bisheriger Lebensweg war vor allem kurvig – selten lief etwas so, wie er es geplant hatte. Eigentlich wollte Wunderlich Bildhauer werden, doch diesen Traum musste er aufgrund einer chronischen Sehnenscheidenentzündung begraben. Die Beziehung zu seiner Jugendliebe ist irgendwann abgestorben, ohne Erklärung – wie ein Ast, der von einem Baum bricht. Den gemeinsamen Sohn hat er seit Jahren nicht besucht. Zu allem Überfluss hat sich nun auch noch sein größtes Glück in sein größtes Unglück verwandelt – Marie hat ihn einfach verlassen.

Im Moment der allergrößten Verzweiflung, alleine und verlassen auf dem Dach seines Wohnhauses sitzend, erhält Wunderlich ungewöhnlichen Beistand: sein Handy spricht zu ihm. Oder vielmehr: es schreibt ihm Kurznachrichten. Die erste Nachricht lautet: “Guck nach vorn”. Der Absender gibt sich nicht zu erkennen, auf dem Handydisplay steht lediglich Anonym – doch er schickt Wunderlich Nachrichten. Manchmal antwortet Anonym auf Fragen, die sich Wunderlich stellt, manchmal wirft er einen Blick in die Zukunft, erzählt Wunderlich wie das Leben von Menschen, denen er begegnet, in Zukunft verlaufen wird. Manchmal blickt er zurück in die Vergangenheit. Eines ist klar: Anonym weiß ziemlich gut Bescheid, über das Leben von Wunderlich, aber auch über das Leben an sich.

“Vielleicht habe ich einen Nervenzusammenbruch, dachte er. Oder ich werde wahnsinnig. Andere hören Stimmen, ich lese eben Kurznachrichten.”

Anonym empfiehlt dem bekümmerten Wunderlich eine Luftveränderung, eine kurze Reise, um sich von Kummer und Sorgen zu befreien. Wunderlich begibt sich auf eine wunderlich verwunschene Reise, er fährt ohne Plan und Ziel los, einzig, dass es Richtung Norden gehen soll, steht fest. Dirigiert von Anonym erlebt er allerhand Skurriles: Züge, die an stillgelegten Bahnhöfen halten. Bäume, an denen ein bläuliches Harz klebt, das nicht nur Wunden heilen soll, sondern auch das Gedächtnis auslöschen kann. Wie praktisch, wenn man gerade unter Liebeskummer leidet. Auf dieser Reise trifft er auch auf allerhand seltsame Gestalten, auf Menschen, die ähnlich gescheitert sind am Leben, wie er selbst. Auf Menschen, die scheinbar nur er sehen kann, aber niemand sonst und auf Menschen, die genauso plötzlich auftauchen, wie sie wieder verschwunden sind.

“[…] außerdem wollte er nichts von dem vergessen, was er erlebt habe, das Gute nicht und das Schlechte auch nicht, und man sei ja die Summe seiner Teile, also auch seiner Erfahrungen, und wenn man sich plötzlich an die blöden oder schlimmen oder traurigen Sachen nicht mehr erinnern könne, wäre man doch auch nur halb und könne sich gleich begraben lassen, weil man dann ja auch nicht mehr in der Lage sei, den Schmerz von anderen zu verstehen.”

Die Begegnungen werden begleitet von vielen anonymen Kurznachrichten, durch die Wunderlich einen Einblick in das Schicksal dieser Menschen erhält. Und plötzlich fängt er an, sich Fragen über das Leben zu stellen: über das Schicksal, über das Zerplatzen von Träumen, über Sorgen (“Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht […]”) und über den eigenen Schatten, über den man immer wieder springen muss, um nicht stehen zu bleiben. Zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, dass ein zerplatzter Traum auch immer eine neue Chance beinhalten kann – so lange man nicht aufhört, nach vorne zu gucken. So lange man nicht aufhört, zu leben. Aus dem zaudernden und zaghaften Wunderlich wird plötzlich ein mutiger Abenteurer, der sich Dinge traut, die er sich nie hätte vorstellen können.

“So ist das Leben, dachte Wunderlich. Und er fragte sich, warum er auf seiner Reise eigentlich immer nur verlorene Seelen traf und nie jemanden, der glücklich war. Doch was wusste er schon vom Glück oder Unglück der anderen.”

Marion Brasch legt mit “Wunderlich fährt nach Norden” einen beinahe märchenhaften Roman voller Leerstellen und Lücken vor. Sie deutet an, macht feine und leise Pinselstriche, doch die Zusammenhänge muss der Leser sich häufig selbst erschließen. Das, was offen bleibt, muss vom Leser selbst gefüllt werden – oder auch nicht. So entsteht ein herrlich doppelbödiges Leseerlebnis: der Roman kommt als positiver Stimmungsaufheller, als sommerliche und lockerleichte Lektüre daher, die jedoch niemals Gefahr läuft in die Trivialität abzugleiten. Unter dieser Oberfläche verbergen sich jedoch allerlei lebensphilosophische Weisheiten, viel Tiefgründigkeit und eine Menge Stoff zum Nachdenken. “Wunderlich fährt nach Norden” ist für mich ein wunderschönes Sommerbuch – mit ganz viel  Tiefgang.

Tango für einen Hund – Sabrina Janesch

Während ihre ersten beiden Romane noch zwischen Deutschland und Polen spielten, schickt Sabrina Janesch die Protagonisten ihres neuesten Romans – “Tango für einen Hund” – einmal quer durch die niedersächsische Provinz. Was zunächst wie ein Remake von Tschick klingt, ist am Ende dann doch bedeutend mehr: Sabrina Janesch legt einen wunderbaren Coming-of-Age-Roman vor, voller Witz und Esprit und mit einer gehörigen Portion Lebensweisheiten.

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“Am Anfang war Musik, klar? Der Typ, der meinte, am Anfang sei das Wort, der hatte definitiv keine Ahnung. Jedenfalls, wenn man mich fragt. Klarer Fall von schlechtem Drehbuch.”

Ernesto wächst im wildesten Teil des Westens auf: “[…] also, wenn wild heißen soll, dass es hier keine richtigen Städte gibt, bloß ein paar Eisenbahnlinien, die das Land durchkreuzen.” Er wächst dort auf, wo das Land platt ist und nur noch ein paar wenige andere Desperados und Greenhorns leben. Eigentlich sind Sommerferien, doch diesen Sommer hat er keine Ruhe, denn er muss unter der Aufsicht von Texas Joe 200 Sozialstunden ableisten. Wer jetzt glaubt, Ernesto würde irgendwo in den heißen Südstaaten leben, der irrt gewaltig, denn mit bürgerlichem Namen heißt der unscheinbare junge Mann Ernesto Schmitt und lebt in Semmenbüttel, mitten in der Lüneburger Heide – dort, wo der ältere Teil der Bevölkerung sich noch auf Plattdeutsch unterhält. Texas Joe heißt eigentlich Joachim Niendorf und arbeitet als Gärtner. Der siebzehn Jahre alte Ernesto trägt zwar den Namen von Che Guevara, doch ansonsten hat er wenig heldenhaftes an sich.

“Das hier, haltet euch fest, ist die Lüneburger Heide. Und was hier alles los ist, zeigt gleich die allererste Einstellung: (Mundharmonika quietscht, leise klimpernde Musik im Hintergrund, ein heiserer Wind kommt dazu.) Nichts. Also so richtig: Nichts.”

Der größte Traum von Ernesto ist, an der Filmhochschule zu studieren. Die erste Runde hat er schon überstanden, das Thema für den Bewerbungsfilm lautet nun “Über Land” und Ernesto weiß sofort, über welches Land er einen Film drehen möchte: über Argentinien, dem Land, aus dem – auf verschlungenen und kaum zu erklärenden Wegen – ein Teil seiner Verwandtschaft stammt. Doch statt mit der Filmkamera im Gepäck in das Land seiner Vorfahren zu reisen, wird er zu 200 Sozialstunden verdonnert. Frida, seine große Liebe, hat bei einer Rangelei in der Mühle, einen Joint auf den Boden geworfen – die Mühle steht in Flammen und heroisch – fast wie ein richtiger Held – nimmt Ernesto alle Schuld auf sich, um Frida zu schützen. Doch die dankt ihm das nicht einmal.

“Ich hasse es, wenn ich Dinge erklären muss. Oder wenn wer anders Dinge erklärt. Die Sache, die man erklärt, verliert sofort an Bedeutung. Als würde man mit einer Stecknadel in einen Luftballon hineinstechen. Alles Wesentliche macht sich dünn, und zurück bleibt nur ein schrumpeliges Häutchen.” 

Das, was zunächst als tragische Liebesgeschichte beginnt – verschüchterter Junge, der sogar vor Pudeln Angst hat, verliebt sich in ein bildschönes und unerreichbares Mädchen – entwickelt sich schließlich zu einer rasanten Road Novel. Plötzlich steht Onkel Alfonso aus Argentinien vor der Tür, im Gepäck hat er Astor, einen uruguayischen Hirtenhund, der bei der Hundeaustellung in Bad Diepenhövel zur Schönheitskönigin gekürt werden soll. In einem uralten Fiat Panda, der auch liebevoll als Möhre bezeichnet wird, machen sich die drei auf den Weg: einmal quer durch Niedersachsen, einmal über Land.

“Hier gibt es nichts zu sehen, klar, hier passiert nichts, hier wohnt niemand Interessantes, hier laufen keine spannenden Tiere herum, hier spielen aus verdammt guten Gründen weder Filme noch Bücher. Wer hier freiwillig mit dem Rucksack durch die Gegend läuft, der ist mit ziemlicher Sicherheit aus Prinsenloh ausgebrochen oder sollte sich wenigstens dort mal vorstellen, nur zum Check, vorsichtshalber.”

Nachdem sich Sabrina Janesch in ihren ersten beiden Romanen schwereren Themen gewidmet hat, folgt mit “Tango für einen Hund” nun ein überraschend leichter und unbeschwerter Roman, der auf den ersten Blick eine Mischung aus Provinzroman und Road Novel darstellt. Doch wenn man genauer hinschaut, wird deutlich, dass Sabrina Janesch eigentlich einen großartigen Entwicklungsroman erzählt, eine furiose Coming-of-Age-Geschichte. Der rettungslos verliebte Teenager, der sich nachts im Bett immer noch vor Moorleichen fürchtet und in Semmembüttel ein Außenseiter ist, entwickelt sich zu einem jungen Erwachsenen, voller Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Der Roadtrip an der Seite von Alfonso und Astor, lässt ihn erwachsener werden und irgendwann zu der Erkenntnis kommen: “Meinen Weg kann ich mir vielleicht nicht selber aussuchen. Aber wie ich ihn gehe, auf alle Fälle.” 

“Im Leben wie beim Tango braucht man eine Menge Rückgrat. Ausdauer. Den Blick nach vorn. Fokussiert.”

Sabrina Jenesch legt mit “Tango für einen Hund” einen lesenswerten Roman vor: unterhaltsam, hochkomisch und gewürzt mit einer ordentlichen Portion kluger Lebensweisheiten. Der Autorin gelingt es dabei hervorragend, den richtigen Ton für ihren Helden und für die Provinz zu treffen. Beim Lesen bekommt man fast schon Lust, den nächsten Urlaub in die Lüneburger Heide zu verlegen.

Der Sturm in meinem Kopf – Horst Sczerba

Was passiert, wenn man die beiden Menschen verliert, die man am meisten geliebt hat? Wie kann man ein solches Unglück überleben? Wie kann man eine solche Katastrophe überstehen, ohne verrückt zu werden? Horst Sczerba erzählt in seinem Romandebüt “Der Sturm in meinem Kopf”, die Geschichte von einem Mann, der sich schon sein ganzes Leben lang auf der vergeblichen Suche nach Gerechtigkeit befindet. Als seine Frau und seine Tochter bei einem Autounfall sterben, dreht er durch und kann nur noch daran denken, Rache zu üben.

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“Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Das dauert ein paar Minuten, dann ist es vorbei, und ich bin wieder der alte Georg Kupinski. Verwirrt reibe ich mir den roten Schleier von den Augen. Mit der Zunge befühle ich die wunden Stellen im Mund, es schmeckt süß, faulig und nach Eisen. Ich habe mich gebissen, was ich da schmecke, ist mein Blut.”

Horst Sczerba, der 1947 geboren wurde, ist eigentlich Autor von Drehbüchern für Film und Fernsehen. Mit “Der Sturm in meinem Kopf” legt er einen späten, dafür aber nicht weniger beeindruckenden, Debütroman vor. Der Klappentext spricht übrigens von einem furiosen Psychogramm zwischen Zärtlichkeit und Mordlust, morbide und albtraumschön, doch im Grunde erzählt Horst Sczerba zunächst einmal eine klassische Liebesgeschichte. Junge liebt Mädchen, Mädchen liebt Junge. Doch ganz so klassisch geht es bei Georg und seiner großen Liebe Eva dann doch nicht zu. Georg, der als Beamter bei der Mordkommission arbeitet, verliebt sich in einen Engel, in Eva, ein Mädchen aus reichem Hause. Doch der jungen Liebe stellen sich zu Beginn zahlreiche Hindernisse in den Weg: beide schwanken in ihrer Liebe zueinander zwischen Obsession und gegenseitiger Zuneigung. Erst als die gemeinsame Tochter Marie zur Welt kommt, stellt sich so etwas wie Glück ein.

“Manchmal wäre ich gerne eine Fliege. Es ist so einfach: Man kann überall hin, alles kann man sehen, ohne selber gesehen zu werden. Einer Fliege stehen die Geheimnisse der Welt offen. Vor einer Fliege kann sich niemand verstecken.”

An einem Wintertag bringt Eva die gemeinsame Tochter zu einem Kindergeburtstag. Die Bremsscheiben des Autos sind abgefahren, es hat nicht einmal Winterreifen drauf. Georg weiß das, aber Eva weiß das nicht. Georg kann an diesem Tag nicht fahren, weil er beim Tauchen im Schwimmbecken einen Schwächeanfall hatte – es ist der übermäßige Alkoholkonsum, der ihm zugesetzt hat. Wenn er damals weniger getrunken hätte, wenn er damals Marie selbst zum Geburtstag gefahren hätte, wenn er sich um die Bremsen und Reifen rechtzeitig gekümmert hätte – dann würden Frau und Tochter heute noch leben. So sterben beide auf einer Kreuzung, weil das Auto an einer roten Ampel nicht zum Stehen kommt.

“Jetzt, da von meiner Familie keiner mehr übrig geblieben ist, könnte ich die Wahrheit schreiben. Ohne Rücksicht könnte ich meine heimlichen Leidenschaften, Liebschaften, Verbrechen und guten Werke, meine Angst und meinen Zorn niederschreiben.”

Lange soll es dauern, bis Georg Kupinski fähig dazu ist, seine eigene Schuld, sein eigenes Versagen, seine eigenen Fehler anzuerkennen. Vor diesem bitteren Schuldeingeständnis liegt ein zorniger Rachefeldzug, der ihn beinahe alles kostet: seinen Verstand, seinen Beruf, sein Leben. Für Georg Kupinski ist es unbegreiflich, dass es für das Unglück, das sein Leben zerstören sollte, keinen Täter gibt, keinen Schuldigen – der Unfallfahrer wurde freigesprochen.

Erzählt wird diese Geschichte von Horst Sczerba in vielen kleinen Episoden und Rückblenden, sie führt den Leser nicht nur zurück in Georg Kupinskis Kindheit, sondern sogar bis nach Mexiko. Stetig schwankt das Erzählte dabei zwischen Phantasie und Wirklichkeit – die Trennlinie zwischen Wahn und Realität ist hauchdünn. Es ist der Bericht eines Wahnsinnigen, der voller Zorn, voller Wut, voller Verzweiflung und voller Schuld auf ein Leben blickt, das er selbst verpfuscht hat. Erst auf den letzten Seiten weicht der Wahn einer zunehmenden Klarheit. Horst Sczerba verzichtet zwar auf ein klassisches Happy End, doch das Buch endet doch irgendwie positiv – ohne Gefahr zu laufen, kitschig zu werden.

“Ich habe gewusst, wie leicht sie sich von Marie ablenken lässt. Dass sie nachtblind ist und im Dunkeln schlecht sieht. Wenn es dazu noch regnet oder schneit, sieht sie gar nichts. Ich habe gewusst, dass die Bremsbeläge abgerieben waren und dringend erneuert werden mussten. Nicht einmal die Winterreifen habe ich aufziehen lassen, obwohl die Sommerreifen kaum noch Profil hatten. Ich habe die beiden trotzdem fahren lassen.”

Horst Sczerba hat einen Roman über Schuld und Schicksal geschrieben, der von einer Hauptfigur getragen wird, die voller Zorn und Wut ist. Von einer Figur, die ihr ganzes Leben lang nach Schuldigen gesucht hat – überall, nur nicht bei sich selbst. “Der Sturm in meinem Kopf” erzählt von einem Kampf für Gerechtigkeit, der in einem unfassbaren Wahn endet.

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