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Zeitgenössisches

Das Leben, natürlich – Elizabeth Strout

Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren und studierte nach ihrem Schulabschluss Jura. Mit dem Schreiben begann sie nach ihrem Studium und legte 1998 ihren ersten Roman “Amy & Isabelle” vor. 2009 erhielt die Autorin für ihren Roman “Mit Blick aufs Meer” den Pulitzerpreis. “Das Leben, natürlich”, ihr neuester Roman, erschien im vergangenen Literaturherbst und wurde gemeinsam von Sabine Roth und Walter Ahlers übersetzt.

Collage Strout

“Und so fing es an. Wie bei einem Fadenspiel, das meine Mutter mit mir verband und mich mit Shirley Falls, reichten wir Erinnerungen, Neuigkeiten und Tratsch über die Burgess-Kinder zwischen uns hin und her. Wir berichteten und wiederholten.”

Shirley Falls ist eine typische amerikanische Kleinstadt: es gibt kaum Arbeit und die jungen Bewohner ziehen aufgrund einer trostlosen wirtschaftlichen Zukunft weg. Zurück bleiben die alten Menschen, die starre und eingefahrene Vorstellungen von der Welt haben und kaum offen für etwas Neues sind. Zu allem Überfluss ist Shirley Falls in den vergangenen Monaten zu einem Aufnahmeort für somalische Flüchtlinge gemacht worden. Die Geschwister Bob, Jim und Susan Burgess sind hier aufgewachsen. In Shirley Falls nennen alle sie nur die Burgess-Geschwister. Doch die einzige von ihnen, die sich dafür entschieden hat, in ihrem Heimatort zu bleiben, ist Susan. Ihr Mann hat schon vor vielen Jahren beschlossen, dass er lieber in Schweden leben möchte, als in einer amerikanischen Kleinstadt. Geblieben sind Susan der gemeinsame Sohn Zach, der mittlerweile neunzehn Jahre alt ist und viele Kindheitserinnerungen.

Zach ist ein seltsamer Junge, Elizabeth Strout zeichnet ihn als Sinnbild eines Außenseiters. Er ist schüchtern, zurückhaltend und packt im Walmart Einkaustüten ein. Eines Tages entscheidet sich Zach dazu, einen halb aufgetauten Schweinekopf in die provisorische Moschee rollen zu lassen. Warum? – Das weiß niemand so genau, wahrscheinlich nicht einmal Zach selbst. Doch das, was auch ein dummer Jungenstreich gewesen sein könnte, wird von den Medien als ein terroristisches Hassverbrechen aufgebauscht. Ein willkommener Skandal, um von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken – das FBI wurde bereits eingeschaltet.

“Unser Neffe Zachary Olson hat einen tiefgefrorenen Schweinekopf durch die Tür einer Moschee geworfen. Zur Gebetszeit. Mitten im Ramadan. Susan sagt, Zach hätte keine Ahnung, was Ramadan ist, was ich ihr unbesehen glaube – Susan wusste es auch nicht, bevor sie es in der Zeitung gelesen hat.”

Susan holt sich ihre beiden Brüder, Bob und Jim, zur Hilfe. Beide arbeiten als Anwälte in New York, doch trotz dieser mutmaßlichen Ähnlichkeit, könnten beide nicht unterschiedlicher sein: Jim ist aalglatt und karrieregeil, gemeinsam mit seiner Frau Helen lebt er in einem herrschaftlichen Anwesen, das nach dem Auszug der drei Kinder jedoch bedrückend still geworden ist. Bob hingegen ist der Prototyp des typischen Losers: die Frau ist weg, aber nicht so ganz, denn sie ist nun seine beste Freundin, er ist ein bisschen dicklich, trinkt gerne einen über den Durst und ein erfolgreicher Anwalt wird er wohl nie so wirklich werden.

Bob und Jims Rückkehr in den Ort, in dem sie aufgewachsen  sind, weckt in den beiden Brüdern ganz unterschiedliche Gefühle. Längst vergessene Ereignisse schleichen sich plötzlich zurück in das Gedächtnis, das von Erinnerungen überflutet wird. Die Konfrontation mit der Vergangenheit, setzt gleichzeitig auch neue Maßstäbe für die Gegenwart. Doch Bob und Jim haben nicht viel Zeit für Sentimentalitäten. denn sie müssen gleichzeitig ihren Neffen Zach vor einer Verurteilung bewahren …

“Eine Wehmut blühte in ihm auf, so brennend, dass es ans Lustvolle grenzte: ein Verlangen, ein stummes innerliches Aufseufzen wie im Angesicht unaussprechlicher Schönheit, eine Sehnsucht, den Kopf in den breiten, schlaffen Schoß dieser Stadt zu betten, Shirley Falls.”

Collage Strout 1

“Das Leben, natürlich” ist ein Roman, der mich zunächst ratlos zurückgelassen hat. Elizabeth Strout erzählt eine gut durchdachte Geschichte, sie erzählt in einer einwandfreien Prosa – gut lesbar und fesselnd. Doch im Laufe des Romans hatte ich den Eindruck, dass die Geschichte an den Rändern immer stärker ausfranst. “Das Leben, natürlich” möchte nicht nur Familienroman sein, sondern auch ein kritischer Gesellschaftsepos. Die Geschichte der drei Burgess-Geschwister, deren Lebensläufe und Beziehungsgeflecht unter die Lupe genommen wird, konnte mich begeistern. Wie sich die Brüder von ihrer Herkunft abgewendet haben, um in ein neues Leben zu starten, wird ergreifend geschildert. Ebenso berührend ist ihre Rückkehr in die heimatliche Kleinstadt, als würden sie einen Anzug anziehen, der nicht passt und überall kneift. Doch Elizabeth Strout möchte ihre Erzählung nicht auf der Ebene eines Familienromans belassen, sondern möchte daneben auch die amerikanische Gesellschaft zu Thema machen. Vorherrschend thematisiert sie den Unterschied zwischen Stadt und Land – New York und Shirley Falls wirken wie zwei Welten. Während in der amerikanischen Großstadt der Kontakt zu ausländischen Mitbewohnern selbstverständlich ist, tun sich die Bewohner von Shirley Falls mit der Aufnahme von somalischen Flüchtlingen schwer. Süffisant und mit scharfer Zunge beschreibt Elizabeth Strout die kleinstädtische Enge und Ignoranz (“Solange es nicht zu viele werden …”). 

“In einer Welt, in der man von ständigem Unverständnis umgeben war – sie verstanden ihn nicht, er verstand sie nicht -, atmete man die Unsicherheit mit der Luft ein, und das zermürbte etwas in ihm; er hätte nicht mehr genau zu sagen gewusst, was er wollte, was er dachte, nicht einmal, was er fühlte.”

Elizabeth Strout erzählt in ihrem Roman “Das Leben, natürlich” eine Geschichte, die ich als Mosaik empfunden habe. Sie fügt Geschichte an Geschichte, lässt daraus einen Weg entstehen, der immer wieder in neue Richtungen führt – sich mal da und mal dorthin verzweigt, sich durch dichtes Gestrüpp schlängelt und ab und an in einer Sackgasse mündet. Als Leser muss man bereit sein, der Autorin zu folgen, die sprachgewandt und kraftvoll erzählt, doch Gefahr läuft, ihren Roman zu überfrachten.

Elizabeth Strout: Das Leben, natürlich. Roman. Luchterhand Verlag, München 2013. 400 Seiteb, € 19,99.

Eine kurze Geschichte vom Sterben – Linda Benedikt

Linda Benedikt wurde 1972 in Mündchen geboren. Nach einem Politikstudium arbeitete sie viele Jahre lang als freie Journalistin. Seit 2010 steht sie mit einem politischen Musikkaberett auf der Bühne. Die Autorin lebt derzeit in München und veröffentlichte zuletzt einen Essay über Israel. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist ihr neuester Roman, er erschien im vergangenen Literaturherbst.

Collage Benedikt

“Du wirst viel mehr als weg sein, du wirst immer da sein und ich werde mit deiner anwesenden Abwesenheit nichts anzufangen wissen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” wird im Klappentext als Prosa beschrieben, doch sind diese erschütternden 126 Seiten wirklich fiktive Prosa oder vom autobiographischen Erleben geprägt? Im Buch selbst finde ich für eine Antwort auf diese Frage keinerlei Informationen. Doch ob Linda Benedikt die Trauer um die eigene Mutter beschreibt oder eine rein fiktive Erzählung geschrieben hat, nimmt diesem Werk nichts von seiner Kraft. Die Lektüre war für mich wie ein Schlag in den Bauch. Rumms. Da lag ich, nach Luft schnappend und um Atem ringend. Trauer ist immer schwierig und der Tod ist etwas, mit dem wir uns lieber nicht beschäftigen wollen, aber er ist da und kann immer und jederzeit zuschlagen.

“Ich sitze seit vier Stunden an deinem Bett und schaue zu, wie du stirbst. Stündlich ein bisschen mehr. Aber nicht genug, um dich endlich selbst aus dem Leben zu entlassen.”

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine Geschichte eines langsam voran schleichenden Sterbens. Die Beschreibung eines Prozesses mit tödlichem Ausgang. Linda Benedikt beschreibt sieben Tage. Die Kapitelreihenfolge ist umgekehrt, beginnt bei Kapitel sieben und endet an dem Tag, an dem alles vorbei ist. Die gerade einmal 126 Seiten schmale Erzählung wird aus der Ich-Perspektive erzählt. Es ist das Ich einer trauernden Tochter, die aus London zu ihrer Mutter reist, um sie in den Tod zu begleiten. Die Krankheit hat einen Zustand erreicht, an dem an ein Überleben nicht mehr zu denken ist – es geht lediglich darum, wie lange das Sterben dauert.

“Dein Körper wirkt klein und schmächtig, wie krankgeschrumpft. Als ich dich das letzte Mal sah, konntest du lachen, gehen, stehen und reden. Und irgendwie warst du größer.”

Für die Tochter ist die Begegnung mit der Mutter ein Schock, mit der Mutter, die eigentlich noch jung ist, doch plötzlich knochige Gesichtszüge hat. Ihre starke Mutter ist plötzlich klein, schwach und abhängig. Gespräche mit ihr sind kaum noch möglich. Wenn sie durch die dicke Nebelwand der Schmerzmedikation in ein Gespräch finden, ist die Tochter erschüttert davon, dass die Mutter immer noch daran glaubt, zu überleben. Wie sagt man der eigenen Mutter, dass sie sterben wird?

“Schließlich ist es der Teil eines größeren Plans, den wir beide nicht beeinflussen können: Eine Mutter zieht ihre Kinder auf, und diese wiederum geleiten sie in den Tod.”

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Die Tochter erlebt am Sterbebett ihrer Mutter ein Wechselbad der Gefühle. Sie klammert sich an sie, in dem Wunsch sie nicht verlieren zu müssen. Hofft darauf, dass ihnen beiden noch mehr gemeinsame Tage geschenkt werden. Gleichzeitig wünscht sie sich eine Erlösung für ihre Mutter herbei, ein nahes Ende dieses schmerzhaften Prozesses. Ein Wunsch, an dem man beinahe ersticken kann, so schrecklich fühlt es sich an, der eigenen Mutter den Tod zu wünschen.

“Aber so einfach ist es nicht. Denn dein Tod sagt mir nichts. Wird mir nicht hinterlassen. Du wirst einfach weg sein. Mich allein lassen. Du wirst nicht mehr da sein, wenn ich mit dir reden will. Du wirst mir nicht mehr zuhören, wenn ich dich anklagen will, sodass es eine Klage allein gegen mich selber sein wird. Wenn ich weine, muss ich mich künftig selber trösten. Und wenn ich lache, wirst du es nicht hören. Wirst nicht mehr fragen nach dem Warum.”

Der Tod und das Sterben sind Bereiche, die aus unserem alltäglichen Leben gerne weggedacht werden. Vielleicht sind sie zu schmerzhaft, um ihre Anwesenheit täglich spüren zu können. Linda Benedikt ist es in ihrer kurzen Geschichte vom Sterben gelungen, Worte für etwas zu finden, über das ansonsten lieber geschwiegen wird. Sie verschweigt nichts und beschönigt keines ihrer Gefühle. Sie beschreibt ihren Schmerz und ihre Trauer, aber auch ihre Wut und die immer wieder kehrende Langeweile, die sie im Sterbezimmer ihrer Mutter empfindet. Die eigene Mutter stirbt und ja, die Tochter ist fast schon ungeduldig … irgendwie dauert ihr das alles zu lange. Es gibt weder Kitsch noch Pathos, kein Schmuckwerk. Lediglich die nackten Gefühle, die traurigen aber auch die unschönen und dreckigen Gefühle, die, die man im Nachhinein lieber verschweigt.

“Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine eindrucksvolle Erzählung über Trauer in all ihren Facetten. Trauer ist etwas, das wohl jeder anders empfindet. Linda Benedikt schreibt über eine Tochter, die den Tod ihrer Mutter mit ganz viel Wut betrachtet, aber auch mit bodenloser Traurigkeit. “Eine kurze Geschichte vom Sterben” ist eine beeindruckende und lesenswerte Erzählung.

Ein Teelöffel Land und Meer – Dina Nayeri

Dina Nayeri wurde während der Islamischen Revolution im Iran geboren – mit zehn Jahren emigrierten ihre Eltern gemeinsam mit ihr nach Oklahoma. In Amerika besuchte sie die Universitäten Harvard und Princeton. Ihr Debütroman “Ein Teelöffel land und Meer” wurde bereits in dreizehn Sprachen übersetzt und als Barnes and Nobel Discover Great New Writers book ausgewählt. Ins Deutsche übertragen wurde das Buch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Collage Teelöffel

“Wenn ein Mensch zu alt für Geschichten wird, kann er sich gleich begraben lassen. Mit Geschichtenerzählen finden wir zu den Menschen zurück, die weit weg von uns sind.”

Saba Hafezi ist elf Jahre, als sich ihr Leben verändert. Von einem Tag auf den anderen ist ihr altes Leben vorbei, wie ein Pullover aus dem man herausgewachsen ist und das neue Leben kneift und will einfach nicht richtig sitzen. Als Saba elf Jahre alt ist, verschwindet nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihre geliebte Zwillingsschwester Mahtab. Schon wenige Monate zuvor, war ihr Leben einer einschneidenden Veränderung unterworfen: als gläubige Christen sind ihre Eltern dazu gezwungen, beim Ausbruch der Islamischen Revolution, Teheran zu verlassen und sich mit ihren Töchtern in dem Dorf Cheshmeh niederzulassen, wo sie Ländereien besitzen.

“Das Folgende ist alles, was Saba Hafezi von dem Tag in Erinnerung hat, an dem ihre Mutter und ihre Zwillingsschwester für immer fortflogen, vielleicht nach Amerika, vielleicht in ein noch ferneres, noch unerreichbareres Land. Wenn man sie bitten würde, zu erzählen, woran sie sich erinnert, würde sie die vielen Teile aus einem Wust von Erinnerungen zusammenstückeln, zwei laue Tage in Gilan, die irgendwo in ihrem elften Sommer schwebten.”

Das Verschwinden von Mutter und Zwillingsschwester ist mysteriös, als würde ein Schleier darüber liegen – dunkel und schwer. Sind sie nach Amerika geflohen und haben Saba und ihren Vater zurückgelassen? Oder sind beide ums Leben gekommen? Auf welche Art und Weise? Sicher ist: sie sind spurlos verschwunden. Sabas Vater und die uralten Dorfbewohner weigern sich, über das Verschwinden zu sprechen. Vielleicht sprechen sie auch darüber, doch Saba möchte nicht zuhören, sondern lieber an ihre eigenen Erinnerungen glauben. Die Wahrheit ist verschwommen, falls es überhaupt so etwas wie eine richtige Wahrheit gibt.

“Der Faden, der Schwestern auf der ganzen Welt zusammenhält, ist zerrissen und es gibt keine Symmetrie mehr zwischen uns.”

Mahtab soll bei einem Badeunfall der Zwillinge im Kaspischen Meer ertrunken sein, die Mutter sei beim Versuch das Land zu verlassen verhaftet worden. Doch an diese Wahrheit zu glauben, ist mehr, als Saba ertragen kann. Sie glaubt stattdessen daran, dass ihre Mutter und Mahtab nach Amerika geflohen sind. Sie hält sich an ihren Geschichten über das amerikanische Leben, das beide nun führen, fest, wie an einer Planke. Sie liebt amerikanische Filme und Musik, taucht ab in diese Welt, in der sie glaubt, ihre Mutter und ihren verlorenen Zwilling finden zu können. Es ist eine Phantasie, doch es ist eine tröstliche und heilsame Phantasie.

“All diese Bilder sind mit einer diesigen Schicht Unsicherheit überzogen, mit der sie sich mittlerweile abgefunden hat. Die Erinnerung ist trügerisch. Doch ein Bild ist klar und sicher, und nichts und niemand wird sie je vom Gegenteil überzeugen. Nämlich dieses: ihre Mutter […] wie sie in ein Flugzeug nach Amerika steigt und Mathab an der Hand hält, die glückliche Zwillingsschwester.”

Sabas Vater erschafft seiner Tochter ein Leben aus drei Ersatzmüttern, die jedoch nicht in der Lage sind, das zu ersetzten, was verloren gegangen ist. Alle drei kommen im Roman abwechselnd zu Wort, geben der Geschichte eine weitere Perspektive, in dem sie auf vieles aus einem ganz anderen Blickwinkel schauen, als Saba das tut. Das, was ihr verloren gegangen ist, können auch ihre Freunde – Reza und Ponneh nicht ersetzen. Doch Saba hat ihre Geschichten, ihre Phantasie, ihre amerikanische Vorstellungswelt – zusammengesetzt aus dem, was sie in Filmen gesehen hat. Als Saba erwachsen wird, muss sie jedoch schmerzhaft erfahren, dass eine solche Phantasiewelt einen nicht für immer vor der Wahrheit schützen kann. Saba macht sich auf die Suche nach Antworten auf die einzige wichtige Frage in ihrem Leben: was ist Wahrheit und was ist Lüge?

“Vielleicht gibt es keinen Körper, weil Mahtab nie existiert hat. Vielleicht war sie nur Sabas eigenes Bild im Spiegel. Ist sie jetzt dort gefangen? Kann Saba das Glas mit der Faust zerschlagen und Mahtab herausziehen?”

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Dina Nayeri erzählt eine Geschichte, die einen Zeitrahmen von zwanzig Jahren umfasst – vom Sommer 1981 bis zum Herbst 2001. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Saba erzählt, aber auch ihre Ersatzmütter kommen zu Wort. Ich habe Saba als junges Mädchen kennengelernt und sie in das Leben einer erwachsenen Frau begleitet. Ich habe mit Saba gelitten, mit ihr, die sich diesem fürchterlichen Verlust in ihrem Leben einfach nicht stellen kann. Weder Erklärungen hat, noch Gewissheit oder Frieden findet. Eine Phantasiewelt kann einen nicht über ein ganzes Leben hinweg trösten. Ich habe mit ihr gelitten, wenn sie dazu gezwungen gewesen ist, Entscheidungen zu treffen – in einer Welt, die hauptsächlich von Männern dominiert wird. Saba kämpft darum, in diesem schwierigen Land, in dem sie leben muss, eine Position zu finden: entscheidet sie sich für die Freiheit oder für die Anpassung?

“An all das erinnere ich mich jetzt, wo die Entfernung zwischen ihnen nicht mehr von kleinen Fingern gemessen wird oder von schwatzhaften Mündern an lauschenden Ohren, sondern von unendlich viel Land und Meer. Nach dem großen Verlust ihrer halben Familie hat Saba mich mal gefragt: Wie oft müsste ich mit dem Teelöffel schaufeln, um den ganzen Weg von hier nach dort zu kommen?”

“Ein Teelöffel Land und Meer” ist hochpoetisch und beschert einem ein Leseerlebnis, das man mit Haut und Haaren genießen kann. Ein Leseerlebnis, das man schmecken, riechen und fühlen kann. Die fremdländischen Eindrücke aus dem Iran werden so lebensnah wiedergegeben, dass man sich schon fast nach Teheran versetzt fühlt. Ich habe nicht nur eine bezaubernde Geschichte gelesen, sondern bin mithilfe von Dina Nayeri in ein mir unbekanntes Land gereist: ich habe Begriffe kennengelernt wie Tschador, Hidschab, maast-mali und Joghurtgeld und etwas über die schwierige politische Situation in diesem zerrissenen Land erfahren.

Dina Nayeri legt mit “Ein Teelöffel Land und Meer” ein wunderbares Buch vor: es ist traurig, berührend, voller Wärme und Zärtlichkeit, aber auch angefüllt mit einer dunklen Bösartigkeit. Es ist ein Buch darüber, dass man auch schlimme Dinge überleben kann, wenn man sich Geschichten erzählt. Es ist ein Buch über Phantasie und Wirklichkeit und wie wichtig es ist, sich der Realität zu stellen. Und es ist ein Buch über Träume. Ja, “Ein Teelöffel Land und Meer” erzählt eine Geschichte davon, dass wir nie vergessen sollten, uns unsere Träume zu erfüllen …

Dina Nayeri: Ein Teelöffel Land und Meer. Roman. mare verlag. Hamburg 2013. 528 Seiten, € 22,00.

 

Mortimer und Miss Molly – Peter Henisch

Peter Henisch wurde 1943 in Wien geboren, er studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte und Psychologie. Seit 1971 arbeitet er als freier Schriftsteller und lebt in Wien. Neben zahlreichen Veröffentlichungen hat Peter Henisch auch eine Vielzahl an Preisen vorzuweisen: mit seinen Roman “Die schwangere Madonna” und “Eine sehr kleine Frau” stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Seine neueste Veröffentlichung “Mortimer & Miss Molly” erschien im vergangenen Literaturherbst.

Collage Henisch

“Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt. Ein Fallschirmspringer, der im Zentrum des Renaissancegartens landet.”

Peter Henisch erzählt in seinem Roman nicht nur eine Geschichte, sondern gleich zwei Geschichten. Es sind zwei Geschichten, die sich überlappen, ineinander überlaufen. Es sind zwei Liebesgeschichten, getrennt durch mehrere Jahrzehnte und sich doch so ähnlich. Beide Geschichten werden von Peter Henisch auf poetische Art und Weise miteinander verknüpft.

Die erste Geschichte beginnt an einem Frühlingstag 1944, als die alliierten Truppen vom Süden heraufkommen. Der amerikanische Soldat Mortimer wird von der deutschen Flak getroffen und ist dazu gezwungen, sein Leben mithilfe eines Fallschirmsprungs zu retten. Irgendwo jenseits der Stadtmauer explodiert die Maschine, während Mortimer im Zentrum eines malerischen Renaissancegartens landet – “unter den Augen oder zu Füßen von Miss Molly.” Miss Molly, die englische Gouvernante einer Adelsfamilie, die bereits in jungen Jahren in die italienische Stadt San Vito gekommen ist, nimmt Mortimer bei sich im Zimmer auf, versteckt ihn dort und rettet ihm so das Leben.

“Vorausgesetzt, dass die Geschichte sich wirklich so zugetragen hatte. Die wahre Geschichte von Mortimer und Miss Molly. Aber ist die wahre Geschichte immer die wirkliche Geschichte? Oder andersherum gefragt: Ist die wirkliche Geschichte immer die wahre Geschichte?” 

Marco und Julia prägen die zweite Geschichte, die in den achtziger Jahren spielt. Marco ist Italiener, Julia stammt aus Wien. Kennengelernt haben sie sich in Siena, beide haben dort ein Seminar besucht. Ihre zart blühende Liebe führt das frisch verliebte Paar quer durch Italien, bis sie schließlich in San Vito Station machen. Sie übernachten in der Albergo Fantini – einem Hotel, dem man sein Alter mittlerweile ansehen kann. In den ersten Tagen in San Vito stürzen sich beide aufeinander, rettungslos vor Liebe – eine Liebe, die noch keine Risse hat und auch vom Alltag noch nicht überschattet ist. Nichts und niemand kann sie in ihrer Zweisamkeit stören. Doch dann entdecken sie durch Zufall, dass das Hotel nicht so menschenleer ist, wie sie geglaubt haben: sie haben einen Nachbarn. Bei einem gemeinsamen Abendessen beginnt der Nachbar, der sich ihnen als Mortimer vorstellt, seine Lebensgeschichte zu erzählen, angefangen bei der Fallschirmlandung im Renaissancegarten.

“Die Geschichte von Mortimer und Miss Molly. Sie beginnt im Mai 1944, als Mortimer mit dem Fallschirm dort oben im Garten landet. Aber da ist auch die Geschichte von Marco und Julia. Die beginnt fast vierzig Jahre später, als die beiden zum ersten Mal im Albergo Fantini wohnen.”

Mortimers Geschichte begeistert Julia und Marco nicht nur, sondern beflügelt auch ihre gemeinsame Phantasie. Marco träumt schon lange davon, einen Film zu drehen und glaubt, in der Liebesgeschichte von Mortimer und Miss Molly den idealen Filmstoff gefunden zu haben. Doch auf eine Fortsetzung der Geschichte müssen beide vergebens warten, denn genauso plötzlich wie Mortimer aufgetaucht ist, taucht er auch wieder ab; bevor er seine Geschichte zu Ende erzählen kann,  ist er verschwunden. Zurück bleiben Marco und Julia, ein Paar, das so viel Gemeinsamkeiten empfindet, wenn es sich in die Lebensgeschichte von Mortimer und Miss Molly versetzt. Sie bleiben zurück mit ihrer Phantasie, mit ihren Tagträumen, mit ihrer eigenen Vorstellungswelt. Gemeinsam versetzen sie sich zurück in die Zeit des Krieges und spinnen die Geschichte weiter …

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“Die Erinnerung, sagte Marco, ist eine immer wieder aufgenommene Montage. Wie ein Film, den man immer aufs Neue schneidet. Manche Szenen nimmt man vielleicht heraus, andere dreht man nach und fügt sie hinzu.”

Peter Henisch hat mit “Mortimer & Miss Molly” einen Roman über die Liebe und über Erinnerungen geschrieben. Darüberhinaus erzählt der Autor aber auch davon, wie wichtig Geschichten sind, wie wichtig es ist, zu erzählen und die Kraft der eigenen Phantasie zu benutzen. Julia und Marco wollen sich nicht damit zufriedengeben, dass ihnen die Fortsetzung vorenthalten wurde. Sie erfinden einfach ihre eigene Fortsetzung. Diese Vorstellung hat etwa Amüsantes, aber auch etwas Poetisches, etwas, das mich berührt und bewegt hat. Doch während Marco und Julia die fremde Liebesgeschichte weiterspinnen, verblasst die eigene immer mehr und ist nur noch in Umrissen zu erkennen. Das Gefühl der Vertrautheit und Nähe können beide nur noch erwecken, wenn sie gemeinsam San Vito besuchen, an allen anderen Orten fühlt sich ihre Liebe seltsam schal an; als würde dieses kleine italienische Dörfchen ein magischer Liebeszauber umwehen. Überhaupt wirkt die literarische Beschreibung der Toskana sehr authentisch und lebensecht, man fühlt sich beim Lesen so, als würde man tatsächlich die Sonne Italiens genießen können.

“Dabei ging ihr zum ersten Mal auf, dass Liebe vielleicht etwas mit Widerstand zu tun hatte. Mit Widerstand gegen alle widrigen Umstände. Und letzten Endes mit Widerstand gegen die Zeit.”

Peter Henisch legt mit “Mortimer & Miss Molly” einen wunderbar komponierten und höchst poetischen Roman vor, einen Roman über die Liebe, über die Phantasie und darüber, wie wichtig es ist, Geschichten zu erzählen. “Mortimer & Miss Molly” ist frei von Kitsch und Sentimentalitäten. Eine schöne Liebesgeschichte, die herzerwärmend ist – gerade in diesen kalten Tagen, kann das ja nicht schaden.

Peter Henisch: Mortimer & Miss Molly. Roman. Deuticke Verlag, München 2013. 320 Seiten, € 19,90.

Lexikon der Angst – Annette Pehnt

Annette Pehnt wurde 1967 in Köln geboren und hat in Irland, Schottland, Australien und den USA studiert und gearbeitet. Heutzutage lebt sie als Autorin und freie Dozentin in Freiburg und hat bereits eine Vielzahl an Veröffentlichungen und zahlreiche Preise vorzuweisen. Zuletzt erschien ihr viel beachteter Roman “Chronik der Nähe”, ihr Roman “Mobbing” wurde im vergangenen Jahr für das Fernsehen verfilmt. Mit “Lexikon der Angst” liegt seit dem Herbst des letzten Jahres nun ihr neuestes Buch vor, kein Roman diesmal, aber dennoch eine intensive Lektüre.

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“Die Angst um ihn wurde zu einem leisen Rauschen.”

Der Begriff Angst, um den sich dieser ganze schmale Erzählband dreht, ist ein Grundgefühl, das wohl bereits jeder von uns gefühlt hat. Wenn man aus einer etymologischen Perspektive auf das Wort blickt, findet man heraus, dass es von dem lateinischen Wort angustus abstammt, das so viel bedeutet wie Enge, Beengung, Bedrängnis.

“Hungrig sein im eigenen Hause. / Stinken, ohne davon zu wissen. / Nicht mehr aufhören können zu lachen. / Das eigene Kind nicht lieben. / Sich an den Rändern auflösen. / Nichts mehr hören können. / Nichts mehr schmecken können. / Nicht mehr gehen können. / Nicht mehr singen können. / Zu viel sehen müssen. / Jemanden lieben und es niemals sagen können.”

Ein schmerzhaftes Gefühl der Enge hat sich auch beim Lesen dieses Lexikons um meine Brust gelegt. Annette Pehnt erzählt in ihren Geschichten, die häufig federleicht und lakonisch wirken, von Angst in all ihren Facetten. Eine Frau hat Angst vor Schweigen; sie fürchtet sich vor dem Autoschweigen, dem Warteschweigen, dem Liebesschweigen und dem Essensschweigen. Eine andere Frau erdrückt ihr Kaninchen, weil sie sich vor all dem fürchtet, was ihm in dieser Welt zustoßen könnte. Ein Mann fürchtet sich vor seinen Kindern, die sich an seinem heimlich Ersparten bereichern könnten. Ein anderer Mann lebt mit der Angst davor, in einen Schatten treten zu können.

Annette Pehnts “Lexikon der Angst” ist ein Sammelsurium der Seltsamkeiten und Kuriositäten.  Die Geschichten sind nach dem Alphabet geordnet. Die Oberbegriffe, unter denen sie versammelt sind, erscheinen auf den ersten Blick seltsam abstrakt und auf einen zweiten Blick schmerzhaft klar. Das Lexikon reicht von A wie Aal bis Z wie Zittern. Die Frau, die sich vor dem Schweigen fürchtet, findet sich unter dem Buchstaben D, wie Deckelchen. Der Mann, der sich vor dem Schatten fürchtet verbirgt sich hinter dem Buchstaben M, wie Morgenlicht. Es werden viele Ängst beschrieben, die seltsam wirken und doch gleichsam kurios. Diese Tatsache sorgt für den verwunderlichen Umstand, dass ein Lexikon der Ängste beinahe schon eine heitere Note haben kann. Dazwischen, zwischen all diesen Seltsamkeiten, verbergen sich aber auch Urängste, die mir erschreckend bekannt vorkommen. Es ist die Angst davor, ein eigenes Kind zu verlieren. Die Angst vor dem, was alles passieren kann. Es ist die Angst vor dem Moment, ein Kind vor den Gefahren dieser Welt nicht mehr schützen zu können: “Seine Welt war jetzt so weit geworden, dass sie mit der Angst nicht mehr hinterherkam.” Da ist ein Kind, das Nacht um Nacht nicht schlafen kann, weil es seinen eigenen Tod fürchtet und von der Mutter keinen Trost erfährt.

“Sie sagt nicht, dass ich sterben muss, oder, dass etwas Schreckliches passiert, sie sagt, dass der Tod kommt. So stellt sie sich ihn auch vor, als jemanden, der zur Tür hereinkommen kann, jemand Schmalen, der sich auf die Bettkante setzt, ganz wie die Mutter jetzt, und der tonlos fragt, was ist denn wieder los.”

In manchen Geschichten geht die Angst in einen Zwang über: da ist eine Frau, die immer wieder nach Hause zurückkehrt, um zu überprüfen, ob die Herdplatte ausgeschaltet ist.  Oder der Mann, der gute Gründe hat, sich vor dem Autofahren zu fürchten, bei dem so viel passieren kann. Sogar ein Date mit seiner Kollegin lässt er sausen, weil er sich fürchtet, zu ihr in den Wagen zu steigen. Was zunächst sonderbar erscheint und wie ein herrliches Plädoyer für die Deutsche Bahn, wirkt bei genauerem Hinsehen erschreckend realitätsnah, weil “die Statistik der Verkehrstoten pro Jahr höher ist als die der Bürgerkriegsopfer in Afghanistan und Irak zusammen.”

“[…] weil verdammt noch mal ein kleiner Herzinfarkt ausreicht oder ein wild gewordener Teenager, der Pflastersteine von einer Brücke schleudert, oder ein einziger besoffener Lkw-Fahrer, oder eine Frau, deren Wehen plötzlich einsetzen, ach, selbst ein Gähnen könnte genügen, ein Sandkorn im Auge, eine Ölschliere, ein geplatzter Reifen, eine kaputte Bremse, ein Hagelschauer, ein Steinchen in der Windschutzscheibe, und all das hat er nicht erfunden, um irgendjemandem Angst zu machen, das sind Tatsachen.”

Collage Pehnt

Es ist egal, welche der Männer und Frauen man aus den Geschichten beschreibt, das übereinstimmende Gefühl beim Lesen der Erzählungen war Beklemmung. Ein Gefühl der Enge, das einem beim Atmen die Luft abschnürt. Keine der Erzählungen ist länger als wenige Seiten, doch der Autorin gelingt es, gerade auch durch die Kürze, die Angstgefühle sehr plastisch abzubilden: Angst ist lähmend, lebenshinderend. Angst kann eine Einschränkung sein, eine Beschränkung. Ich lese von diesen Männern und Frauen und frage mich: was lasst ihr euch durch eure Angst alles vom Leben nehmen?

Während wir uns heutzutage häufig mit den großen Ängsten unserer Zeit beschäftigen, sei es die Angst vor Arbeitslosigkeit, Altersarmut, dem nächsten Krieg oder Atomwaffen, widmet sich Annette Pehnt den Alltagsängsten. Den kleinen Ängsten, die beinahe schon skurril und niedlich wirken und doch so eine erschreckend lähmende Kraft entwickeln können, dass sie sich in die kleinsten Winkel unseres Lebens einnisten und uns die Luft zum Atmen abschnüren können. “Lexikon der Angst” ist ein sensibler, liebevoller und kluger Erzählband über die Angst und über das Leben.

Haus aus Erde – Woody Guthrie

Woody Guthrie wurde am 14. Juli 1912 in Oklahoma geboren und starb am 3. Oktober 1967 in New York. Zwar war er mir bisher unbekannt, sowohl als Autor, als auch als Musiker, doch er gilt für viele als die Ikone der amerikanischen Folkszene. Dazu beigetragen hat sicherlich sein Song “This Land is your Land”, der zur inoffiziellen Nationalhymne des anderen Amerikas wurde. Genau diesem anderen Amerika wollte Woody Guthrie auch in seinem Roman “Haus aus Erde” eine Stimme geben. Entstanden ist dieser bereits zwischen 1940 und 1947, doch erst vor kurzem wurde er in einer Schublade entdeckt und veröffentlicht. Für die Veröffentlichung verantwortlich ist der Verlag Infinitum Nihil, der von dem Schauspieler Johnny Depp und dem Historiker Douglas Brinkley gegründet wurde. Übersetzt wurde “Haus aus Erde” von Hans-Christian Oeser, der bereits William Faulkner, Scott Fitzgerald und Mark Twain übersetzt hat.

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“Das Leben ist ganz schön hart … Man hat Glück, wenn man’s überlebt.” – Woody Guthrie

“Haus aus Erde” ist ein Buch, das einer besonderen Zeit entsprungen ist: wir müssen uns zurückversetzen in ein Amerika der dreißiger Jahre. Am 14. April 1935 fegt ein besonders schlimmer Sturm aus Staub über Texas hinweg, ein dust bowl. Woody Guthrie wohnt in Pampa und erlebt diese verheerende Naturkatastrophe hautnah mit: es gibt zahlreiche Todesopfer und ganze Felder, Ackerböden und Häuser sind zerstört. Es ist vor allem das Eigentum der Menschen betroffen, die sowieso wenig besitzen. Menschen, deren Boden der Bank gehört und deren Häuser klapprig und modrig sind. Menschen, die ihr Hab und Gut und ihre ganze Lebensgrundlage verlieren, ohne, dass die Regierung ihnen einen Cent zurückzahlt. Dieses Ereignis sollte Woody Guthrie nachhaltig prägen; es hat auf jeden Fall die Konzipierung des vorliegenden Romans beeinflusst.

“Über die Halme der trockenen Riedgräser sang der Wind der Upper Plains sein einsames Hohelied. Was nicht niet- und nagelfest war, bewegte sich mit dem Wind, der Staub aber blieb dicht am Boden.”

“Haus aus Erde” erzählt die Geschichte von Tike und Ella. Beide haben kaum Ansprüche an ihr Leben, doch sie hätten gerne Ackerboden und ein sturmfestes Haus. Doch das Land auf dem sie leben, gehört nicht ihnen, sondern der Bank und der Traum ein Haus aus Lehm zu bauen, bleibt lediglich ein unerfüllter Wunsch. Der Gegensatz von Holz, das genauso vermodert, wie die Träume der einfachen Menschen und Adobe, die ungebrannten Lehmziegel, die wie eine unerreichbare Utopie erscheinen, prägt den Roman. Neben Tike und Ella treten noch die Krankenschwester Blanche und ein Inspektor des US-Landwirtschaftsministerium auf. Dieser Inspektor steht sinnbildlich für die Regierungen und Großgrundbesitzer, die Agrarindustrie und Politiker auf der ganzen Welt, die den armen Menschen Hilfe und Unterstützung beim Kampf gegen Naturkatastrophen verweigern.

“Eine Welt nah an der Sonne, noch näher am Wind, an Wolkenbrüchen, Überschwemmungen, feinem Schlamm, trockenen und staubigen Dingen, die in dieser Welt den Halt verlieren und, wie die Steppenhexe, dahinwehen und -rollen, Drahtzäune überspringen und im Nordwind zu ihrem letzten staubigen Sprung ansetzen, von den Upper Plains des Nordens hinab in die sandigeren, baumwollbepflanzten Plains westlich von Clarendon.” 

Woody Guthrie hat mit “Haus aus Erde” einen Roman für die Menschen geschrieben, die nichts besitzen, außer Schulden und deshalb gerne von allen anderen übersehen werden. Doch “Haus aus Erde” ist nicht nur ein politischer Roman, sondern auch ein Liebesroman. Es ist die Liebe, die Tike und Ella hilft, die Schwere und Unsicherheit in ihrem Leben aushalten und ertragen zu können. Es ist die Liebe, die die Sorgen und Schmerzen verstummen lässt – zumindest für eine kurze Zeit. Für die damalige Zeit ist der Roman auch erstaunlich erotisch. Es gelingt Woody Guthrie in einer bemerkenswerten Art und Weise, das Gefühl der Zweisamkeit zwischen Ella und Tike einzufangen und auf Papier zu bannen.

“[…] die Hütten schauen auf die größeren Häuser und verfluchen sie, heulen, weinen und fragen nach Fäulnis, Schmutz, Schmerz, Elend, dem Verfall von Land und Familien.” 

In all dem Düsteren, das es in dieser Welt der Benachteiligten und Verarmten gibt, leuchtet die Liebe von Ella und Tike wie ein strahlender Stern. Vielleicht ist diese Liebe das Schönste dieses Romans, denn sie überdauert bis in die heutige Zeit. Die politische Situation hat sich mittlerweile verändert, doch die Kraft, die einem die gegenseitige Liebe geben kann, um hoffnungslose Momente überleben zu können, die kann auch heute und immer noch gültig sein.

“Warum muss es immer was geben, was einen umhaut? Warum is dieses Land voller Sachen, die man nich sehen kann, voller Sachen, die einen umhauen, umstoßen, umschmeißen und einem die letzte Hoffnung rauben? Warum muss mich, sobald ich auf ein kleines Dies oder ein kleines Das hoffe, immer, aber auch immer diese irrwitzige Dieberei umhauen? […] Nie hab ich mich nach was anderem gesehnt als nach ner anständigen Ort zum Wohnen und nem anständigen ehrlichen Leben. Warum gelingt uns das nicht?”

Sprachlich ist der Roman davon geprägt, dass Woody Guthrie sich darum bemüht, den Dialekt einer Bevölkerungsschicht einzufangen und abzubilden, die sich ganz unten befindet. Seinen Figuren legt er eine häufig einfache Ausdrucksweise in den Mund und schafft mit diesem Slang eine gewisse Form der Authentizität.  Dem Übersetzer Hans-Christian Oeser gelingt es zauberhaft, die Redewendungen und idiomatischen Ausrufe ins Deutsche zu übertragen, die Sprache der Figuren wirkt weder aufgesetzt noch übertrieben.

Collage Woody 2

Woody Guthrie hat einen Sturm aus Staub selbst überlebt, der als Vorlage für diesen Roman fungiert. Erstaunlicherweise wird der Sturm selbst in der Geschichte kaum erwähnt, doch die über allem schwebende Angst vor der nächsten Naturkatastrophe ist im Roman immer präsent. “Haus aus Erde” porträtiert am Beispiel von Ella und Tike die Menschen, die trotz aller widrigen Umstände dageblieben sind und sich dem drohenden Sturm ausgesetzt haben. Der Roman porträtiert die Menschen, die sich nicht vertreiben lassen und ihr Leben aufs Spiel setzen, um das Wenige, was ihnen gehört, zu verteidigen. Bessere und klügere Worte, als sie Douglas Brinkley und Johnny Depp in ihrer lesenswerten Einleitung für den Roman finden, finde ich nicht, deshalb kann ich lediglich zitieren:

“Wenn man Guthrie liest, hört man die vielen Stimmen der Leute, seiner Leute, der hart arbeitenden Menschen in den Great Plains, Menschen, die keine Plattform hatten, um ihrer großen Not Gehör zu verschaffen. Seine Stimme ist die des verlorenen, des unterdrückten, des vergessenen Amerikaners, der im Landesinneren sein Leben fristet.”

Was bleibt mir noch zu sagen übrig? Für die Literatur und ihre Leser ist es großartig, dass dieses Buch entdeckt und verlegt wurde: “Haus aus Erde” ist eine Zeitreise zurück in ein Amerika der dreißiger Jahre, zurück in eine Hütte aus Holz, die dem tosenden Sturm ausgesetzt ist. “Haus aus Erde” ist eine Liebesgeschichte und ein literarisches Denkmal für die Menschen, denen niemand sonst eine Stimme geben würde. “Haus aus Erde” ist ein Roman, wie ein Folksong: melodiös und eingängig. Man möchte nur noch auf Repeat drücken.

Schroders Schweigen – Amity Gaige

“Schroders Schweigen” ist ein gutes Beispiel dafür, welchen Effekt blurbs haben können – ohne das Zitat von Jonathan Franzen, das die Rückseite des Buches ziert, hätte ich es vielleicht gar nicht in die Hand genommen und gelesen. Entgangen wäre mir eine lesenswerte und ungewöhnliche Lektüre Aber von vorn: Amity Gaige wurde 1972 geboren und veröffentlicht mit “Schroders Schweigen” bereits ihren dritten Roman, der gleichzeitig in 14 Ländern erscheint. Übersetzt wurde das Buch von Monika Schmalz, die als freie Übersetzerin in Berlin lebt.

Collage Amity Gaige

“Was folgt, ist ein Bericht darüber, wo Meadow und ich seit unserem Verschwinden gewesen sind.”

Eric Kennedy ist für seine kleine Tochter Meadow ein liebenswerter, wenn auch immer mal wieder etwas exzentrischer, Vater. Nachdem er in Folge der Finanzkrise seine Arbeit als Immobilienmakler verliert, verbringt er ein Jahr als Hausmann zu Hause – Meadow war damals drei Jahre alt und ihr Vater brachte ihr nicht nur bei, wie man lesen lernt, sondern auch einige Brocken Japanisch und die Fähigkeit, die Kraft ihrer Fantasie zu nutzen. Doch das gemeinsame Jahr endet und auch die Ehe mit Meadows Mutter Laura bricht auseinander.

“‘Ich will wissen, wie das passieren konnte. Warum wir so verschieden geworden sind. So gegensätzlich. Wie diese riesige Kluft zwischen uns entstanden ist.’ Mit bittendem Blick sahst du mich an. ‘Waren wir schon immer so? Ich glaube nicht. Ich vermisse den, für den ich dich gehalten hatte.”

Als Meadow sechs ist, hat sie keine Eltern mehr, sondern zwei Parteien, die im Scheidungskrieg liegen. Als Eric Gefahr läuft, das Besuchsrecht für seine geliebte Tochter zu verlieren, verliert er auch die Nerven: was als gemeinsamer Vater-Tochter-Ausflug beginnt, endet in einer waghalsigen Flucht. Die Angst davor, dass ihm seine Tochter entzogen wird, bringt Eric dazu, falsche und sogar gefährliche Entscheidungen zu treffen. Die gemeinsame Flucht endet für Meadow im Krankenhaus und für Eric im Gefängnis. Die Vorwürfe der Polizei beantwortet er mit einem eisernen Schweigen. Statt zu sprechen, fängt Eric an zu schreiben: in einem Brief an Laura schreibt er sich sein Leben und all die dunklen Geheimnisse, die er verbirgt, von der Seele.

“Liebe Laura, wären wir wieder nur zu zweit und säßen spätnachts zusammen am Küchentisch, würde ich diesen Bericht wahrscheinlich einfach nur eine Entschuldigung nennen.”

Eric Kennedy beginnt seinen Bericht wie ein Märchen: es war einmal im Jahre 1984, als er zum ersten Mal einen Bericht aufsetzte, der sein ganzes Leben verändern sollte. Damals gab sich der vierzehnjährige Erik Schroder, gebürtiger Deutscher, als Eric Kennedy aus, um an einem Ferienlager für Jungen in New Hampshire teilnehmen zu können. Erik Schroder hat eine Biographie, die in tausend Teile zersplittert ist. Als Kind ist er gemeinsam mit seinem Vater aus der DDR ausgereist, ihr Ziel war Boston. Es war nicht nur eine Ausreise, sondern eine Flucht des Vaters: die Mutter wurde in der DDR zurückgelassen. Die Gründe dafür hat der Sohn nie erfahren. Als Kind in einem fremden Land hatte Erik Schroder es nicht leicht, von den anderen Kindern wurde er entweder gehänselt oder ignoriert. Das Ferienlager war für ihn eine Chance aus dem Leben eines eingewanderten Ausländers auszubrechen und eine neue Identität anzunehmen. Aus Erik Schroder wurde Eric Kennedy.

“Warum kauften sie mir mein Märchen ab? Weiß der Geier. Ich kann nur sagen, es war 1984. Man konnte seine Sozialversicherungsnummer per Post beantragen. Datenbanken existierten nicht. Man musste reich sein, um eine Kreditkarte zu kriegen. Man bewahrte sein Testament im Banksafe auf und packte sein Geld zu einem dicken Bündel. Der Mensch war noch nicht gläsern. So etwas wollte niemand.”

Doch das, was zunächst lediglich die Erfindung eines Jugendlichen gewesen ist, wird zunehmend zu einer neuen Identität. Eric Kennedy geht nach der Schule ans Mune College in Troy – unter seinem neuen Namen. Stück für Stück, baut er seine neue Identität aus und erfindet eine Vergangenheit, die zu der neuen Gegenwart passt. Eine Vergangenheit, in der er über hundert Ecken mit den berühmten Kennedys verwandt ist und in Cape Cod aufgewachsen ist. Eric Kennedy erschafft sich ein Lügengebilde, in dem die Lüge wie eine neue Realität erscheint. Auch als er Laura kennen lernt, sich in sie verliebt und beide heiraten, ergreift er an keiner Stelle die Chance, aufzuklären, wer er wirklich ist.

“Ich bin nicht der, der ich zu sein behaupte, hätte ich fast gesagt. Als ich fünf war, verließ ich an der Hand meines Vaters ohne Hab und Gut (hätte ich fast gesagt) die DDR. Meine beschissene Pubertät verbrachte ich in einem Einwandererghetto in Dorchester, Massachusetts. Und das ist erst der Anfang (hätte ich fast gesagt).”

Collage Amity Gaige 1

Amity Gaige legt mit “Schroders Schweigen” einen ungewöhnlichen Roman vor. Ungewöhnlich ist zunächst einmal die Form, denn der ganze Roman ist wie ein Berich aufgebaut. An vielen Stellen sind erklärende Fußnoten oder Verweise eingefügt. Es ist diese Form, die gleichzeitig zu einem ungewöhnlichen Lektüreerlebnis führt, denn als Leser erfährt man parallel die Hintergründe der Lebensgeschichte von Erik Schroder, die von Flucht, Lügen und Schweigen geprägt ist und erlebt die Flucht von Eric Kennedy und seiner Tochter Meadow. Dadurch entsteht ein interessanter Effekt: als Leser beginnt man für diesen Lügner, Hochstapler und Kindesentführer, der sein Leben auf einer erfundenen Vergangenheit errichtet hat und nun in den Trümmern davon sitzt, Verständnis oder gar Mitgefühl zu entwickeln. Vielleicht ist das die ganz große Kunst von Amity Gaige: sie macht Erik Schroder nicht nur zu einem Verbrecher, sondern stellt ihn auch als Menschen dar, in all seiner Exzentrik und Absonderlichkeit.

“Schroders Schweigen” ist ein facettenreicher Roman über Väter und Kinder, über Lügen und Erfindungen, über Phantasie und Realität und darüber, wie sehr uns die Vergangenheit prägen kann. Amity Gaige gelingt das außergewöhnliche Kunststück, dass mir eine Figur ans Herz gewachsen ist, die ich eigentlich verabscheuen sollte. Das macht “Schroders Schweigen” für mich zu einem lesenswerten Roman.

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