Die Welt auf dem Kopf – Milena Agus

Milena Agus, die in Genau geboren wurde, lebt heutzutage auf Sardinien und arbeitet als Lehrerin. Ihren ersten großen Erfolg als Schriftstellerin hatte sie mit ihrem Roman “Die Frau im Mond”, der ein internationaler Bestseller gewesen ist. “Die Welt auf dem Kopf” ist der neueste Roman der Autorin und wurde von Monika Köpfer übersetzt.

“Bevor ich die Signora von unten und den Signore von oben kennenlernte, interessierte ich mich nicht für das Alter. Meine Eltern kamen erst gar nicht dazu, alt zu werden; mein Vater nahm sich viel zu früh das Leben, und Mama wurde wieder zum Kind. Zu meinen Großeltern habe ich keinen Kontakt mehr, und die Pflegerin meiner Mutter ist ein junges Mädchen.”

In einem heruntergekommenen Viertel der Hafenstadt Cagliari auf Sardinien befindet sich ein ehemaliger Palazzo, der beinahe unberührt und rein zwischen den schmuddeligen Häusern erscheint. Mittlerweile ist das große Haus in einzelne Wohnungen aufgeteilt worden, die von ganz unterschiedlichen Menschen bewohnt werden. In der Mitte, eingerahmt vom oberen und unteren Geschoss, lebt die Ich-Erzählerin des Romans, eine namenlose Literaturstudentin, die nach einer bewegten Kindheit dort endlich eine Heimat gefunden hat. Unter ihr bewohnt die Signora Anna und ihre Tochter die ehemalige Dienstbotenwohnung, die klein und dunkel ist. Um ihre Wohnung finanzieren zu können, geht Anna, die nicht mehr so ganz jung und bereits herzkrank ist, drei Tätigkeiten nach – das Geld reicht trotzdem hinten und vorne nicht aus. Ihre Tochter hat zwar studiert, ist aber arbeitslos und hat ihre ganz eigenen Probleme, denn sie kämpft mit der erdrückenden und krankhaften Angst, ihren Verlobten an eine andere zu verlieren. Ganz oben lebt in Saus und Braus das Ehepaar Johnson, beide sind alt und unendlich unglücklich miteinander. Ihre Beziehung erinnert an ein altes Haus, das zugig und kalt ist, man ist sich gegenseitig längst fremd geworden. Ab und an werden  die beiden von ihrem Sohn und Enkelkind besucht.

Als Mr. Johnson eine Haushaltshilfe sucht, wird er bei der Signora von unten fündig. Nach und nach lernen die Bewohner des Hauses sich gegenseitig kennen, freunden sich an, bauen Beziehungen zueinander auf. Es ist vor allem die Erzählerin des Romans, der diese Beziehungen viel bedeuten – die Bewohner des Hauses sind für sie wie eine Ersatzfamilie; ein Ersatz für eine Familie, die sie nie gehabt hat. Ihr Vater hat sich das Leben genommen und die Mutter hat darüber den Verstand verloren, so dass das Mädchen schon früh auf sich allein gestellt gewesen ist. Die Bewohner verbindet jedoch nicht nur eine ungewöhnliche Freundschaft, sondern sie teilen auch noch ganz andere Gefühle, Sorgen und Nöte miteinander und die Erzählerin muss erleben, dass auch die selbst auserwählte Familie nicht immer Bestand haben muss.

“Morgens ging ich zum Strand, und abends las ich Bücher mit Kinderreimen, die ich auswendig lernte, weil ich diese Welt liebte, in der alles auf dem Kopf stand und trotzdem alle glücklich waren.”

Mit “Die Welt auf dem Kopf” ist Milena Agus ein schmales aber lesenswertes Buch gelungen, das sich zwar schnell durchlesen lässt, das aber nach dem Lesen noch lange nachwirkt, da es den Leser mit vielen offenen Fragen entlässt. Der Titel des Romans schlägt sich in der Geschichte wieder, in der vieles auf dem Kopf steht: der berühmte Violinist Mr. Johnson fürchtet den Ruhm und entscheidet sich stattdessen für ein Leben, abseits des Rampenlichts – als Musiker auf einem Kreuzfahrtschiff. Glück und Zufriedenheit statt Reichtum und Ruhm – nicht nur in diesem Punkt steht die Welt im Roman von Milena Agus Kopf. Der Titel schlägt sich aber auch im Text selbst wieder, in dem Milena Agus für überraschende Wendungen sorgt und ihre Geschichte dabei auf den Kopf stellt.

199 Seiten schmal ist der Roman und doch bringt die Autorin eine Vielzahl an Themen in ihrem Text unter. Stellenweise hätte ich mir gewünscht, dass diese Themen – Homosexualität, Ehebruch, Eifersucht – mehr Raum erhalten hätten, statt nur kurz angerissen zu werden. Der Erzählton und Schreibstil des Romans sorgt für ein flottes und flüssiges Leseerlebnis, sorgt aber auch dafür, dass Milena Agus mit ihrem Text häufig lediglich an der Oberfläche kratzt, aber nicht den Blick dahinter wagt. Dieser Kritik gegenüber steht ein wunderbar flüssiger Erzählton, der mich beim Lesen verzaubert hat – ich habe den Text nicht nur gelesen, sondern hatte das Gefühl, selbst eine Bewohnerin und ein Teil des beschriebenen Haus zu sein.

Milena Agus ist mit “Die Welt auf dem Kopf” ein ambivalenter Roman gelungen – eine leichte Lektüre, die schnell gelesen ist, bei der vieles leider jedoch zu sehr an der Oberfläche bleibt. Die wunderschönen Worte und das gewagte literarische Experiment werden konterkariert mit seichten und stellenweise schwierigen Botschaften. Wenn man darüber hinwegsehen kann, dann lässt sich “Die Welt auf dem Kopf” wunderbar als wahres Wohlfühlbuch lesen, als kleines Abtauchen aus dem Alltag, als Seelenurlaub vom täglichen Stress, denn es entlässt den Leser mit einem Gefühl der Leichtigkeit und des Optimismus. Und all das, braucht man doch auch manchmal.

5 Comments

  • Reply
    kbvollmarblog
    August 6, 2013 at 4:55 pm

    Mir ging`s im Grunde wie dir, eigentlich fand ich diesen Roman platt, da zu oberflächlich, nichts zu ende gedacht, ein paar zeitgeistige Themen genommen und dann hingeschlurt. Völlig unlesenswert finde ich den Roman, allerdings von ihrem ersten war ich auch nicht so angetan.
    Liebe Grüße aus Norfolk
    Klausbernd

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 7, 2013 at 11:06 am

      Lieber Klausbernd,

      ihr erster Roman wurde mir von mehreren ans Herz gelegt und empfohlen – vielleicht werfe ich noch einmal einen Blick rein, aber mit der gebotenen Vorsicht. 😉 Dem Roman fehlt es leider in der Tat an Tiefe, was mir nicht nur bei der Lektüre aufgefallen ist, sondern vor allem auch beim Schreiben meiner Besprechung. Viel gab es da nicht zu erzählen, denn vieles bewegt sich leider lediglich an der Oberfläche. Schade eigentlich, da die angesprochenen Themen mich im Grunde schon interessiert hätten – nur in einer etwas aderen Ausarbeitung. 🙂

      Liebe Grüße aus Bremen, wo sich gerade alles zu zieht und es ganz dunkel wird. 🙂
      Mara

  • Reply
    skyaboveoldblueplace
    August 6, 2013 at 10:52 pm

    Liebe Mara,
    ich hatte dieses Buch schon einige Male in der Hand und habe seitenlang hineingelesen. Jedesmal hab ich gedacht, eigentlich eine interessante Konstellation, aber es hat mich immer irgend was gestört und ich hab es im Laden gelassen (was nicht heisst, dass ich den Buchladen meines Vertrauens jemals ohne Buch verlassen hätte).
    Jetzt weiss ich, durch Deine informative und klare Besprechung, warum – und nun bin ich Dir heute einmal dankbar dafür, mich von einem Buchkauf endgültig abgehalten zu haben. Ich finde, das ist eine wichtige Qualität einer Buchbesprechung!
    Wenn ich einfach mal unterhalten werden will, dann lese ich einfach lieber mal wieder ein Stückchen Tagebuch von Samuel Pepys – und lerne noch was dabei. Aber so sind die Geschmäcker eben verschieden, hat meine Oma immer gesagt…
    Liebe Grüsse, Kai

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      August 7, 2013 at 11:16 am

      Lieber Kai,

      was soll ich sagen? 🙂 Ich freue mich, dass meine Besprechung dir dabei geholfen hat, eine Entscheidung dieses Buch betreffend zu fällen. Natürlich macht es mir mehr Freude, Bücher lauthals schreiend empfehlen zu können und andere mit meiner Begeisterung anzustecken – wenn ich Einwände habe, bemühe ich mich aber auch darum, diese entsprechend zu kommunizieren. Auch wenn mir Kritik, geschweige denn Verrisse, immer noch sehr schwer fallen, irgendwi fühle ich mich doch immer ein Stück weit verantwortlich für die Bücher. Wie auch immer, bei deinem nächsten Ausflug in den Buchladen solltest du in der Tat lieber ein anderes Buch mitnehmen – sehr empfehlen könnte ich dir “Tigermilch”, das ich letzte Woche mit viel Begeisterung las – eine Bsprechung dazu wird es bei mir in der kommenden Woche geben.

      Von Samuel Pepys habe ich übrigens schon ganz viel gehört, aber noch nie etwas von ihm gelesen … dank deines Hinweises steht er nun bei mir auf der Wunschliste. 🙂

      Liebe Grüße
      Mara

      P.S.: Dein neues Profilbild ist klasse! 😀

      • Reply
        skyaboveoldblueplace
        August 8, 2013 at 12:04 am

        Hallo Mara,
        Du hast Recht – und ich finde das auch schwierig, an Büchern Kritik zu üben. Aber gerade deshalb fand ich Deinen Post eben gut, weil es Dir gelungen ist, die Kritik auf angemessene, resepektvolle Weise zu transportieren. Und ich als Leser konnte daraus entnehmen, dass das nun kein Buch für mich sein wird. Perfekt!
        Ja, das Profilbild. Nachdem unsere Hündin einen Post auf Das Graue Sofa kommentiert hat,
        http://dasgrauesofa.wordpress.com/2013/04/22/juli-zeh-david-finck-kleines-konversationslexikon-fur-haushunde/comment-page-1/
        meinte sie, sie hätte jetzt ein Anrecht auf ein wenig Beachtung. Da habe ich das Bild mal gewechselt…
        So, und nun bin ich gespannt auf die Tigermilch-Besprechung.
        Liebe Grüsse, Kai

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