Emil – Dror Burstein

Dror Burstein gehört in Israel schon lange zu den bekanntesten Autoren und seine Werke wurden bereits vielfach ausgezeichnet. Burstein, der 1970 geboren wurde, studierte zunächst Jura und arbeitete als Anwalt, bevor er sich der Literatur zu wandte. Heutzutage arbeitet er nicht nur als Schriftsteller, sondern unterrichtet Literatur und ist für Rundfunk und Zeitschriften tätig. Der Roman “Emil” ist der erste Roman von ihm, der auch in Deutschland erscheint. Übersetzt wurde er aus dem Hebräischen von Liliane Meilinger.

“Denn ich erinnere mich nur an einen Jungen mit einer kleinen Nase, der ganz, ganz still war, ruhig und regelmäßig atmete, ohne zu schnaufen oder zu pfeifen, und auf dieses Kind wiesen wir gleich und sagten: Das ist das Kind, und unser Blick ließ nicht ab von ihm, bis jemand kam und es aus dem Bett hob und uns in den Arm legte. Und wir nahmen es in die Arme und nahmen kein anderes, und wussten sofort, das bist du.”

Dror Burstein erzählt in seinem Roman “Emil” eine verschachtelte Geschichte, es ist die Geschichte von Emil. Emil ist als Kind von Eltern zur Welt gekommen, die selbst noch Kinder waren. Mit gerade einmal sechzehn Jahren wollten oder konnten sie sich nicht um den Säugling kümmern und haben ihn zur Adoption freigegeben. Erfahren, wie es Emil in der neuen Familie geht, wollten sie nicht – der Kontakt war unerwünscht. Das einzige, was Emil und seine Eltern verband, als er 1970 zur Welt kam, war der Name, den sie ihm gegeben haben.

Adoptiert wird Emil von Lea und Joel, in der Hoffnung aus ihrer Zweisamkeit endlich eine wirkliche Familie formen zu können. Doch der Wunsch sollte sich nicht erfüllen, Lea stirbt bei einem Unfall und Joel bleibt mit dem gemeinsamen Sohn, der nicht sein eigener Sohn ist, zurück. Emil hat einen dunklen Schimmer, Joel färbt sich seine Haare schwarz, um als Vater akzeptiert zu werden. Trotz der ungewohnten Situation gelingt es dem zunächst hilflosen Joel, sich rührend und liebevoll in die neue Vater-Mutter-Rolle hinzuarbeiten. Was trotz aller Vaterliebe bleibt, ist die Lücke die die leiblichen Eltern hinterlassen haben. Man lebt in der selben Stadt, geht möglicherweise die selben Wege und bleibt sich doch unerkannt. Sowohl Emil, als auch seine leiblichen Eltern, die längst keine überforderten Kinder mehr sind, machen sich auf der Suche nacheinander – über allem schwebt die Frage, was man tun würde, wenn man sich begegnet. Was würde man sagen, wie würde man miteinander umgehen? Was folgt einer solchen Begegnung – Vorwürfe oder Wiedersehensfreude und würde man sich überhaupt erkennen?

“Hätte er ihn nur einen Augenblick lang sehen können, und sei’s aus der Ferne, es hätte ihm ein wenig Seelenruhe verschafft. Deshalb ging er anfangs durch die Straßen, ihn zu suchen. Stand einfach an Schulzäunen herum. Ist er das? Ist er das? Jahrelang.”

Als Joel ein gealterter Mann ist, kurz vor seinem Tod, glaubt er, erst sterben zu können, wenn er Emil und seine leiblichen Eltern wieder zusammengeführt und vereinigt hat. Es entsteht die verrückte Idee, sie endlich zu finden …

Dror Burstein legt mit seinem Roman “Emil”, der im hebräischen Original “Karov” heißt, ein spannendes und experimentelles Vexierspiel vor, dass von einem Chor aus fünf Stimmen getragen wird. “Emil” ist ein Familienroman, das zentrale Thema ist die Adoption eines Kindes. Allein dies gibt bereits einen Hinweis darauf, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Familienroman handelt, die Adoption hat Emil seinen leiblichen Eltern entfremdet, Joel nimmt die Ersatzrolle ein, doch egal wie gut diese Rolle ausgefüllt wird, bleibt nicht dennoch immer eine Leerstelle? Dror Burstein, der sich nicht davor scheut, sprachlich zu experimentieren, setzt diese Leerstellen auch im Text um: Emils leibliche Eltern haben keine Namen, es gibt sie, aber für Emil sind es zwei Leerstellen, die er nur mit eigenen Wünschen und Träumen füllen kann.

“Einmal feierten sie seinen Geburtstag. Nein, mehr als einmal. Als er fünf war und zehn. Als er fünf war, buk [ ] ihm einen Kuchen, zündete Kerzen an. Ein Stuhl blieb leer. Sie saßen da, kauten am Kuchen. Feuchter Dunst lag über der Wohnung.”

Die zentrale Frage, die der Roman aufwirft, doch gleichzeitig unbeantwortet lässt, ist die Frage danach, wie sinnvoll eine späte Familienzusammenführung ist. Man ist verwandt, doch man kennt sich nicht – und doch gibt es bei den leiblichen Eltern vielleicht eine Nähe, die einem schmerzlich fehlen kann, auch dann, wenn man schon längst erwachsen ist.

Die Erzählweise des Romans ist schlicht und unaufgeregt. Die kurzen Kapitel setzen sich zusammen aus Rückblenden, Träumen und Gespräche. Es gibt Einschübe und Zeichnungen sowie Fotographien. Der Text erhält zwischenzeitlich einen experimentellen Charakter, der mitunter erzwungen wirkt. Burstein kreiert einen intellektuellen Anspruch, dafür sprechen auch die acht Einschübe, die die jeweils gleiche Überschrift haben: “Die Stadt”. In ihnen beschäftigt sich Burstein mit einem dystopischen Zukunftsszenario.

“Emil” ist ein anspruchsvoller und experimenteller Roman, der gleichzeitig jedoch auch berührt. Ich habe ihn gerne gelesen, weniger wegen der sprachlichen Experimente, als wegen der wichtigen Fragen, die er aufwirft und der leichten Melancholie, die ihn durchzieht. Lest “Emil” und entdeckt eine neue und aufregende literarische Stimme aus Israel!

2 Comments

  • Reply
    Wulf | Medienjournal
    November 13, 2013 at 11:43 pm

    Liebe Mara,
    ich lese so deinen Text und denke mir mehr und mehr bei mir selbst “Okay, das ist nicht unbedingt ein Buch für dich, aber den Artikel liest du jetzt noch zu Ende” und dann plötzlich, von “dystopischen Zukunftsszenario” ist die Rede und ich werde hellhörig. Nicht, dass ich jetzt “Emil” deshalb unbedingt lesen müsste, dafür entspricht es zu wenig meinem Sujet, aber wie eine “Die Stadt” betitelte Dystopie in Einklang zu bringen ist mit einem Familiendrama, das würde mich dann wiederum doch interessieren.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      November 14, 2013 at 3:15 pm

      Lieber Wulf,

      als ich den Absatz zu dem dystopischen Zukunftsszenario geschrieben habe, musste ich auch an dich denken. Burstein entwirft eine Welt, in der alle Kontinente zu einem “Klumpen” miteinander verschmelzen. Ich bin kein Fan von Dystopien; das Buch habe ich gerne gelesen, aber auf diese Zukunftsfantasie hätte der Autor für mein Empfinden auch verzichten können.

      Liebe Grüße
      Mara

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