Browsing Tag

affen

Eine schöne Wahrheit – Colin McAdam

Colin McAdam wurde 1971 geboren, er wuchs in Hongkong, Dänemark, England und Kanada auf. In Kanada hat er studiert, in England dann seine Promotion abgeschlossen. Bekannt wurde er durch den Roman “Fall”, der mit dem Hugh MacLennan-Preis ausgezeichnet wurde. Heutzutage lebt der Autor in Toronto. Übersetzt wurde sein neuester Roman “Eine schöne Wahrheit”, der im vergangenen Herbst erschien, von Eike Schönfeld.

DSC_0089

Walt und seine Ehefrau Judy leben in den Hügeln von Vermont, sie haben keine Kinder, aber dafür einen Affen. Den hat Walt seiner Frau geschenkt, als Kind-Ersatz – beide haben einen Haufen Geld und können sich alles kaufen, was ihr Herz begehrt, nur ein Kind haben sie nie bekommen können, da muss ein Tier als Ersatz erhalten.

“Looee war kein konventionell süßes kleines Baby, doch daran, dass er Hände hatte, spürten Walt und Judy gleich, dass er mehr als ein haariges Vieh war. Und wie er sich in Judys Armen bewegte, veranlasste Walt schon dort zu der Bemerkung, das ist aber ein niedlicher kleiner Kerl.”

Den Schimpansen Looee ziehen sie auf, als wäre er ihr eigenes Kind. Looee ist kein Kind, doch Walt und Judy vermenschlichen ihn und ziehen ihm Kinderkleidung an. Doch die Situationen, in denen deutlich wird, dass Looee kein Kind ist, häufen sich mit der Zeit: Walt und Judy werden dem wilden Tatendrang des Schimpansen kaum mehr gerecht. Im Laufe der Monate wächst er immer schneller, wird immer lauter und seine wechselnden Launen nehmen eine bedrohliche Kraft und Stärke an: an einer Stelle wird Looee als ein Affenmensch “mit dem Verstand eines Vierjährigen und der Kraft und Koordination eines Achtzehnjährigen” beschrieben. Ein fürchterlicher Wutanfall und ein tragischer Zwischenfall reißen Looee aus seiner heilen familiären Welt.

“Neues Leben war im Haus. Zwei Arme, zwei Beine, grapschende Finger, forschender Hunger, ein Schock nach einem Traum, der die Glieder erstarren lässt, versinken in bewundernswerten Schlaf und Mund auf Haut, er braucht mich ich brauche es dass er mich braucht ich brauche ihn. Ich bin müde. Sie schlief.”

Zunächst kommt der Schimpanse in ein Versuchslabor, wird dort mit HI-Viren infiziert und kämpft um das nackte Überleben – er lebt dort unter fürchterlichen Bedingungen. Erst als er in ein Freigehege ausgegliedert wird und dort mit einer Gruppe Artgenossen leben kann, erfährt Looee zum ersten Mal, wie ein alternatives Leben zu dem aussehen könnte, was er jahrelang gelebt hat und er erfährt, was eine wahre Familie sein kann.

“Freiheit ist essen zu können, ohne sich bedanken zu müssen, nicht teilen, nicht für das Essen zu arbeiten, sich keine Gedanken über dessen Herkunft zu machen, sich nicht darum zu scheren, wann und wie man isst oder wann es alle ist.”

Colin McAdam erzählt eine Geschichte, die aus drei Ebenen besteht: aus Looee als Kindersatz, aus Looee, dem Versuchstier und aus Schimpansen, die – beobachtet von Verhaltensforschern im Girdish Institute – zusammenleben. Alle drei Ebenen zeichnen sich durch ihre eigene Sprache und die ihr eigene Perspektive aus. Hier liegt möglicherweise die Kernaussage des Autors: er gibt den Affen eine Sprache, er gibt ihn eine Stimme und stellt damit gleichzeitig infrage, ob der Unterschied zwischen Mensch und Tier wirklich so gravierend ist, wie manche glauben.

In “Eine schöne Wahrheit” wirft Colin McAdam auf einem hohen literarischen Niveau eine Vielzahl an Fragen auf. Es sind Fragen über die ich in letzter Zeit häufiger gestolpert bin, Fragen, die Aspekte wie das Persönlickeitsrecht von Tieren betreffen. Was unterscheidet Menschen und Tiere voneinander? Ist es die Sprache? Vor allem die Passagen, die aus der Sicht der Versuchstiere erzählt werden, sind außergewöhnlich – sie greifen auf eine primitive Sprache zurück, auf Wörter, die sie aufgeschnappt haben und auf selbsterfundene Wörter. Oa ist zum Beispiel eine Form von Harmonie. Colin McAdam wagt den Versuch, den Leser dazu anzuregen, sich unangenehme Gedanken zu machen und Fragen zu stellen, auf die man lieber keine Antwort hören möchte. Was zeichnet uns als Mensch – neben der Sprache – noch aus? Es geht jedoch nicht nur um die menschliche Existenz, sondern auch um die Existenz und die Rechte von Tieren: wenn Menschen dazu neigen, Tiere zu vermenschlichen und ihnen aufgrund der fehlenden Sprache ein mangelndes “Innenleben” unterstellen, kann dies immer wieder fatale Konsequenzen haben. Bei Looee tritt genau dies ein.

Das Schöne an “Eine schöne Wahrheit” ist, dass es mich zum Nachdenken gebracht hat, dass es mich angestoßen hat, Fragen zu stellen. Colin McAdam ist ein lesenswerter Roman über Sprache, Kommunikation und die menschliche Existenz gelungen, dem ich möglichst viele Leser wünsche. “Eine schöne Wahrheit” ist ein bewegender und wichtiger Roman, der mich aufgerüttelt hat. Lasst euch auch aufrütteln!

%d bloggers like this: