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The Doors und Dostojewski – Susan Sontag

Susan Sontag, die 1933 geboren wurde und 2004 starb, wurde vor allem bekannt durch ihre zahlreichen Essays, sie arbeitete aber auch als Regisseurin und setzte sich als politische Aktivistin immer wieder für Menschenrechte ein. Unter dem Titel The Doors und Dostojewski wurde nun im Verlag Hoffmann & Campe ein Interview herausgegeben, das sie 1978 Jonathan Cott, einem Journalisten des Rolling Stone, gegeben hat.

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 Wenn ich zwischen den Doors und Dostojewski wählen müsste, dann würde ich – selbstverständlich – Dostojewski wählen. Aber muss ich denn wirklich wählen?

Susan Sontag ist eine Autorin, die ich vom Namen her natürlich kenne, von der ich bisher aber leider noch nie etwas gelesen habe. Ihre Tagebücher stehen bereits in meinem Regal, jedoch noch ungelesen. Gelesen habe ich bisher einzig und allein ein Buch über sie: die Auseinandersetzung ihres Sohnes David Rieff mit dem Tod seiner Mutter (Tod einer Untröstlichen). Als ich nun diesen schmalen Band in der Verlagsvorschau entdeckte, wusste ich sofort, dass ich The Doors und Dostojewski lesen muss.

Sie haben gesagt, dass wir der Literatur fast alles schulden, was wir sind und was wir gewesen sind. Wenn Bücher verschwinden, wird die Geschichte verschwinden, und die Menschen werden ebenfalls verschwinden. Ich bin sicher, dass Sie recht haben. Bücher sind nicht nur die beliebige Summe unserer Träume und unser Gedächtnis. Sie bieten uns auch das Vorbild für Selbsttranszendenz. Manche Leute halten Lesen bloß für eine Art von Flucht: eine Flucht aus der ‘wirklich’ Welt des Alltags in eine imaginäre Welt der Bücher. Bücher sind viel mehr. Sie sind eine Art und Weise, ganz und gar Mensch zu sein.

Jonathan Cott, der als Journalist für den Rolling Stone arbeitete und Susan Sontag bereits aus dem Studium kannte, führte das Interview 1978, kurz nach der überstandenen Krebserkrankung der Autorin. In der Zeitung selbst erschien damals nur ein Drittel des insgesamt zwölfstündigen Gesprächs, nun erscheint es auf Deutsch zum ersten Mal in voller Länge. Im lesenswerten Vorwort liefert Jonathan Cott einige Hintergründe zum Interview, das in Paris seinen Anfang nahm und in New York endete. Er erzählt von seinen Eindrücken und auch von seiner Begeisterung: “Anders als die meisten anderen Menschen, die ich interviewt habe […], redete Susan nicht in Sätzen, sondern in wohlüberlegten Absätzen.” 

Susan Sontag hatte viele Lebensthemen, die sie durchdachte und über die sie immer wieder schrieb: sie setzte sich mit der Fotografie auseinander (obwohl sie selbst nie als Fotografin tätig gewesen ist), schrieb über die Schwierigkeit der Interpretation, den Umgang mit Metaphern, ihre eigene Krebserkrankung und den Feminismus. Sie reiste nach Hanoi und Sarajevo und schrieb darüber. Entstanden ist dabei ein umfangreiches Lebenswerk – eine Vielzahl an Essays und Texten. Das Interview, das sie mit Jonathan Cott führte, bietet wunderbare Einsichten in all diese Ideen und Themen.

Ich denke über alles nach, was mir widerfährt. Nachdenken gehört zu den Dingen, mit denen ich mich beschäftige.

Dies sind einer der ersten Sätze dieses Buches und gemeinsam mit ihnen bin ich eingetaucht in dieses Gespräch, das sich wie eine Reise angefühlt hat. Es umspannt all ihre Lebensthemen, von der Fotografie, über die Philosophie, bis hin zur Krankheit als Metapher, zur Kunst und Literatur. Der Gesprächsfluss des Interviews treibt einen von Thema zu Thema, bietet bereichernde Einsichten und zeigt interessante Ideen auf – ich habe immer wieder Stellen markiert, an denen ich gerne weiterlesen, tiefer in die Thematik einsteigen würde. Es sind vor allem Susan Sontags Sätze zur Literatur die ich mir angestrichen habe.

Lesen ist meine Unterhaltung, meine Ablenkung, mein Trost, mein kleiner Suizid. Wenn ich die Welt nicht mehr ertrage, igle ich mich mit einem Buch ein, und dann bringt es mich von allem fort, wie ein kleines Raumschiff.

In ihrem Wunsch, die strikte Trennung zwischen Populär- und Hochkultur aufzuheben, habe ich mich ganz besonders wiedergefunden. Vielleicht ist diese Idee, die, die ich über dieses Interview hinausgehend am meisten festhalten möchte: warum sollte man sich für eines entscheiden? Warum darf man sich nicht für beides interessieren? Für die Doors und für Dostojewski? Warum kann es statt strikter Trennung nicht einen Pluralismus geben? Ebenso faszinierend sind ihre Gedanken zur Geschichte, auf die sie alles zurückführt und die sie auch in unserer heutigen Zeit immer noch fest verankert sieht.

Ich glaube ernsthaft an die Geschichte, und das ist etwas, woran heute kaum noch jemand glaubt. Das, was wir tun und denken, sind historische Errungenschaften. Ich habe nur sehr wenige Überzeugungen, aber dies ist gewiss einer meiner Grundsätze: dass beinahe alles, was wir für naturbedingt halten, geschichtlich ist und seine Wurzeln hat – besonders im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert, dem sogenannten revolutionären Zeitalter der Romantik -, und wir beschäftigen uns im Wesentlichen immer noch mit Erwartungen und Gefühlen, die zu dieser Zeit formuliert wurden, den Vorstellungen von Glück, Individualität, radikalem sozialen Wandel und Genuss. 

Susan Sontags Rolling-Stone-Interview ist schlicht brillant. The Doors und Dostojewski ist eine faszinierende und inspirierende Lektüre, die mich auch nach dem Zuklappen der letzten Seite noch immer nicht loslässt. Es ist geeignet für Kenner von Susan Sontag, aber vor allem auch für den Einstieg in ein beeindruckendes Lebenswerk.

Bücher sind treu!

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Heute erreichte mich ein wunderbares Überraschungspaket vom Hoffmann & Campe Verlag. Ich muss gestehen, ich liebe Überraschungen und ich liebe Überraschungspost. Anlass der Überraschungspost ist die überraschende Verlagsgründung des Atlantik Verlags, den Hoffmann & Campe im vergangenen Jahr ins Leben gerufen hat.

Wenn ihr mehr über den Verlag wissen wollt, klickt euch einfach mal durch die Vorschau. 🙂

Meine Überraschungspost passt so gut zu mir und Bandit, ich bin ganz begeistert. Dem schönen Beutel mit dem Bücherhund ist die Vorschau des Atlantikverlags beigelegt, sowie das Buch “Bücher sind treu” – dabei handelt es sich um ein Bücher-Taebuch, in das man die gelesenen Bücher eintragen kann.

Collage Bücher sidn treu Collage Bücher sind treu

Ihr könnt euch sicherlich vorstellen, dass dies nicht nur mein Bücher- und Leserherz höher schlagen ließ, sondern auch mein Hundeherz. Passenderweise kann man zur Bewertung der Bücher Leseknochen kolorieren, außerdem befindet sich auf dem Vorsatzblatt eines meiner Lieblingszitate:

“Outside of a dog a book is a man’s best friend; inside a dog it’s too dark to read.”

Herrlich! Ich erfreue mich an dem wunderbaren kleinen Büchlein und freue mich darauf, darin erste gelesene Bücher einzutragen. 🙂

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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau – Max Scharnigg

Max Scharnigg arbeitet nicht nur als Autor, sondern auch als Journalist. Der 1980 geborene Autor ist unter anderem tätig für die Süddeutsche Zeitung, Architectural Digest und Nido. Vor drei Jahren erschien sein Debütroman “Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe”. In diesem Literaturherbst erschien sein neuestes Buch “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau”.

“Die zwei Regeln meines Vaters. Führe ein Tagebuch. Sorge dich um die Hofstange. Die erste echte Erinnerung: Wie er an meinem sechsten Geburtstag ein schwarzes Büchlein auf den Tisch neben meinem Bett legt, bevor er den Hocker nimmt, um mir die Gutenmorgengeschichte zu erzählen.”

Max Scharnigg erzählt in seinem neuesten Roman, der den ungewöhnlichen Titel “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau” trägt, die ebenfalls ungewöhnliche Geschichte von Jasper Honigbrod. Jasper ist zu Beginn des Romans sechs Jahre und erzählt die Geschichte seiner leicht seltsam anmutenden Familie aus der Perspektive eines Kindes, es ist eine eigenwillige aber unheimlich liebenswerte Perspektive.

“Es ist wohl so, die Abenteuer, die wir zu Beginn unseres Lebens in jeder Hecke, an jedem Stein und jedem Hügel sehen, kommen uns später so gewöhnlich vor, wie das ganze Leben. Aber zuerst sind diese Dinge die Grenzposten alles Neuen, die Marksteine unserer ganzen Welt, und es ist möglicherweise wichtig, das nicht zu vergessen.”

Jasper wächst mit den beiden Opis, seinem Großvater und seinem Vater, in Pildau auf. Pildau ist ein Ort, den man nicht einmal mehr als Dorf bezeichnen könnte. Es ist ein Ort der Abgeschiedenheit und Einöde. Der Flecken Pildau bestand ehemals aus zwei Höfen, einer von beiden ist jedoch bereits verfallen und nur noch der Hof der Honigbrods wird bewohnt. Verbunden mit der Außenwelt (dem Hinterland) ist er durch eine einzige Landstraße.

“Pildau ist in der Flurkarte als Hofstelle eingetragen, das ist etwas mehr als ein Bauernhof, auch wenn es zu meiner Zeit schon etwas weniger war.”

Das geruhsame und gleichmäßige Leben der Honigbrods, das geprägt ist vom Anbau und Verzehr des Mangolds, gerät eines Abends aus den Fugen. Es ist der Abend, an dem Jaspers Vater auf einer seiner Wanderungen ein junges Mädchen aus einem Auto rettet und es mit nach Hause bringt. Lada lebt fortan in der Familie, statt offizielle Stellen zu informieren, wird sie in die Welt Pildaus und der Honigbrods integriert. Jasper, der bisher in einer Welt aufwuchs, die von Männern geprägt wurde – seine Stiefmutter Lene hat den Hof nur ab und an aufgesucht – ist angetan vom familiären Zuwachs. Lada bringt ganz viel Neues auf den Hof, vor allem auch einen neuen Duft:  “Frische Regenpfützen auf einer Juniwiese und darin ein Tropfen Benzin, das war ihr Duft.” 

Es ist das Leben in Pildau, von dem Jasper mit den Augen eines Kindes erzählt und Max Scharnigg gelingt es dabei eine bezaubernd märchenhafte Welt zu erschaffen. Eine Märchenwelt, die aus einer Hofstange besteht, die so weit in den Himmel ragt, dass das Ende für Menschenaugen nicht mehr zu erblicken ist. Eine Märchenwelt, die aus Fischen besteht, die tagtäglich gefüttert werden, doch schon lange nicht mehr gesehen wurden. Zu dieser Märchenwelt gehört auch eine eigenwillige Sprache, die dennoch wunderschöne Sprachbilder produziert, zum Beispiel in dem Moment, als Jasper statt verstorben, das Wort “verhimmelt” benutzt. Der Leser erhält auch Einblicke in die bewegte Vergangenheit der Hofbewohner, es wird die Geschichte der beiden Opis erzählt, die bis zurück in den Krieg reicht, aber auch die bewegende Lebensgeschichte von Lene. Es war wohl vor allem diese Geschichte, die mich am stärksten berührt und gepackt hat. Darüber hinaus ist “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau” aber auch ein Roman über Bücher, über das Lesen von Büchern und die Liebe zu Büchern, über Bibliotheken und das Schreiben von Büchern. Jaspers Vater liebt es sich in seine Bibliothek zurückzuziehen, in der er schreibt und liest. Seinem Sohn reicht er Romane weiter, die ganz sicherlich nicht seinem Alter angemessen sind, die ihm aber, in einer Welt, die nach der Ankunft von Lada immer stärker aus den Fugen gerät, Halt und Trost geben sollen.

“Wann immer mir die Bücher in der Hand weniger wurden, las ich langsamer und zögerte jede Seite hinaus, bis ich dazu überging, die Enden einfach gar nicht mehr zu lesen. Ich legte die Bücher vorsichtig zur Seite, sobald mir der Buchdeckel rechts zu nahe kam, und behielt die Geschichten so, wie sie waren, unvollendet und richtig.”

Einen Roman aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen, zu Beginn des Romans ist Jasper sechs Jahre alt, ist immer ein Wagnis und mit dem Risiko verbunden, zu scheitern. Doch in diesem Fall funktioniert die stellenweise ungewöhnliche Perspektive. Der Leser betrachtet die Welt aus den Augen eines Kindes und wird dadurch vielleicht wieder auch ein bisschen daran erinnert, die eigene Perspektive auf Ereignisse zu überdenken. So erging es zumindest mir.

Max Scharnigg ist mit “Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau” ein lesenswerter Roman gelungen, der bewegt und berührt. Getragen wird er  von liebevoll beschriebenen Figuren und einer Geschichte, die einen, wenn man erst einmal anfängt zu lesen, nicht wieder loslässt. Max Scharnigg reizt die Grenzen der Realität aus, er nimmt den Leser an die Hand und man muss bereit sein, mit ihm mitzugehen – ich habe das sehr gerne getan.

Im Winter dein Herz – Benjamin Lebert

Lebert Im Winter dein Herz“Jeder Ort, an dem man für längere oder kürzere Zeit verweilt, der plötzlich, auf unerklärliche oder scheinbar ganz natürliche Weise wichtig ist, der fast zu so etwas wie einer Gemütsverfassung, einer Geisteshaltung wird oder vielleicht auch nur eine Station darstellt, die man schnell hinter sich lässt, jeder Ort, selbst wenn er einem vielleicht Angst macht, hat, so schien mir, eine kleine Öffnung, einen Riss, durch den jederzeit Liebe hineinsickern kann.”

“Im Winter dein Herz” ist der sechste Roman von Benjamin Lebert, der mittlerweile 30 Jahre alt ist. “Crazy”, sein Debüt und Überraschungserfolg als gefeiertes literarisches Wunderkind, liegt mittlerweile schon mehr als dreizehn Jahre zurück und ein bisschen hat mich zwischendurch immer mal wieder das Gefühl beschlichen, dass der bemitleidenswerte Benjamin Lebert seit Jahren diesem Erstlingserfolg hinterherschreibt. Hinterherschreiben muss. “Crazy” hatte ich damals ausgelassen, vielleicht war ich dafür noch zu jung, als es erschien. Mich hat Benjamin Lebert zum ersten Mal im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2009 beeindruckt. Dort habe ich ihn in einem Interview mit anschließender Lesung erlebt und er hat mich mit seiner ruhigen, bedächtigen Art begeistert. Auf Fragen hat er wohlüberlegt und reflektiert geantwortet und ich hätte ihm wahrscheinlich noch stundenlang weiter zuhören können. Über seine literarischen Qualitäten sagt all dies natürlich nicht viel aus und in der Tat hat mich dann auch “Der Vogel ist ein Rabe”, das einzige Buch, was ich von ihm bisher gelesen habe, nicht vollends überzeugen können. Nun habe ich mich an sein neuestes – gerade erst erschienenes – Werk “Im Winter dein Herz” herangewagt. Neugierig hatte mich ein langes und umfangreiches Interview mit dem tollen Titel “Ins Unglücklichsein kann man sich verlieben” in “Die ZEIT” gemacht.

“‘Weißt du […] man muss im Leben oft schwere Wege gehen. Es hilft nichts. Aber immer, wenn wieder so ein Weg ansteht, dann denk dran: Reise bequem und am besten erster Klasse.”

Benjamin Lebert erzählt von dem jungen Robert, der sich selbst in Anspielung auf Franz Kafka als Hungerkünstler bezeichnet. Er ist dürr und kränklich, da er sich seit einiger Zeit weigert, zu essen oder das, was er isst, herunter zu schlucken. Er nimmt ausschließlich flüssige Nahrung zu sich. Sehr fein und sanft, in wenigen Sätzen, beschreibt Benjamin Lebert Roberts Leben und Nachbarschaft; Robert wohnt in einer kleinen Wohnung im Hamburger Gängeviertel. Man erfährt, dass er sich zu einem freiwilligen Klinikaufenthalt entschlossen hat, in einer therapeutischen Einrichtung in Waldesruh – unter der Auflage, Winterschlaf zu halten. Er fährt mit dem Zug von Hamburg nach Waldesruh, in der ersten Klasse – darauf bezieht sich das Zitat weiter oben, es ist ein Ratschlag, der von Roberts Vater stammt.

“Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.”

Robert ist in Waldesruh, um sich zu erholen und zur Ruhe zu kommen. Dort schreibt er seine Geschichte auf, die in fünf sogenannte “Hefte” aufgeteilt ist. Der Leser lernt Anina und Kudowski kennen. Kudowski ist ein Mitpatient von Robert und Anina arbeitet in einer Tankstelle in der Nähe der Klinik. Alle drei haben sich geweigert, in diesem Jahr am Winterschlaf teilzunehmen und die Pillen, die für einen erfolgreichen Winterschlaf eingenommen werden müssen, einfach weggeworfen. An dieser Stelle erfährt der Leser auch endlich, was es mit diesem Winterschlaf auf sich hat, der in der von Benjamin Lebert geschaffenen Welt nicht nur unter den Tieren, sondern auch von den Menschen durchgeführt wird.

“Alles hatte damit begonnen, dass Arthur McFinnley, ‘Sleepy McFinnley’, wie er genannt wurde, sich intensiv mit den Siebenschläfern auseinandersetzte, die sich im Speicher seines Ferienhauses in Cornwall eingenistet hatten. Und in Roberts Kopf liefen jetzt nochmals einige Bilder der Fernsehsendung ab, die er ein paar Tage zu vor im Aufenthaltsraum der Klink angesehen hatte.”

Robert, Anina und Kudowski wollen während des Winters mit dem Wagen von Waldesruh nach München fahren. Dort möchte Robert seinen schwerkranken Vater besuchen. Benjamin Lebert zeichnet wunderschöne Bilder, die von großer Stille und Zurückgezogenheit geprägt sind: beinahe ausgestorbene, verlassen wirkende Dörfer, verschlossene Fenster, leere Autobahnen, verrammelte Schaufenster. Offene Gaststätten, die von Menschen betrieben werden, die sich auch weigern am Winterschlaf teilzunehmen, finden die drei passenderweise mit der Winter-App auf Kudowskis Iphone. Als sie in München ankommen, kommt ihnen die neu eingeführte 10%-Formel zugute:

“Erst im vergangenen Jahr hatte der Stadtrat von München für den Winterschlaf eine Zehn-Prozent-Formel entwickelt. Zehn Prozent der Straßen waren geräumt. Zehn Prozent der Krankenhäuser waren geöffnet, zehn Prozent der Polizisten hatten Dienst. München war die einzige Stadt, in der es schon geraume Zeit eine Nicht-Schläfer-Partei gab, die das ganze Jahr über versuchte, die Bedingungen für die Nichtschläfer zu verbessern.”

Schnell wird deutlich, dass jeder der drei im Auto seine eigene, nicht unbedingt leichte, Geschichte hat. Robert ernährt sich von Flüssignahrung, da er nicht mehr in der Lage ist, festes Essen zu schlucken. Er verweigert die Nahrungsaufnahme. Auch das Leben von Anina und Kudowski ist nicht immer wie gewünscht verlaufen. Besonders fasziniert hat mich die Geschichte von Anina, einem ungewollten Mädchen türkischer Eltern, die sich selbst einen deutschen Namen gegeben hat. Leider erfährt man nicht viel über sie, aber sie sagt einen sehr wichtigen Satz:

“Muslimin oder nicht. Ich glaube, eine der wichtigen und zugleich schwierigsten Aufgaben im Leben ist es, zu erreichen, dass das Wort ‘man’ einen nicht in die Knie zwingt.”

Es geht um verpasste Chancen, verpatzte Prüfungen, Lebensentwürfe, die in der Sackgasse verlaufen. Die drei Wachgebliebenen versuchen auf der Reise zu sich selbst zu finden, sich selbst wieder näher zu kommen. Am Ende jedes “Hefts” gibt es die “Momente der Geborgenheit”, alle drei erzählen von Momenten in ihrem Leben, in denen sie sich geborgen gefühlt haben. Zufrieden. Glücklich. Geborgen. Diese Passagen haben mich am stärksten beeindruckt.

Das Ende bleibt offen. Ich habe es als überraschend empfunden, doch ob das nun positiv oder negativ ist, weiß ich noch nicht einmal genau. Ist Roberts Geschichte Realität oder träumt er vielleicht nur während seines Winterschlafs? Was ist wahr und was nicht? Ich glaube, jeder Leser muss für sich selbst entscheiden, wie er die Geschichte interpretiert.

“Wenn ich mir ein Zuhause vorstelle, dachte er, muss es wie eine Muschel sein. Glatt, still, beschützend. Mit einem Innern, in dem ich ganz verschwinden kann. Vielleicht ist das, wovon ich träume, auch das Haus einer Schnecke. Einer schönen, großen Meeresschnecke.”

Das ist einer der Absätze, die der Grund dafür sind, warum mir dieser Roman gefallen hat. “Im Winter ist dein Herz” ist surreal und beruht auf der Grundlage einer absurden Idee – auch Menschen machen nun Winterschlaf. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir nach dem Lesen des Klappentextes eigentlich etwas ganz anderes vorgestellt, aber nach anfänglichem Zögern habe ich es geschafft, mich auf Benjamin Leberts Idee einzulassen.

Benjamin Lebert gelingen einige fantastische Bilder, vor allem von der winterlichen, einsamen Landschaft. In wenigen Sätzen drückt er sehr vieles aus und lässt dabei auch immer wieder philosophische Gedanken anklingen. Gefallen haben mir auch die Anspielungen auf Franz Kafka. Ein besonderes Highlight sind die “Momente der Geborgenheit” am Ende jedes Hefts. Die Sprache ist poetisch, wunderschön an vielen Stellen – leider leidet eine etwas verkürzte, stark reduzierte Geschichte darunter, das vieles nur angerissen, aber nicht ausgeführt wird. Die Charaktere bleiben insgesamt leider etwas flach, vor allem von Anina hätte ich gerne noch etwas mehr erfahren.

Insgesamt dennoch ein sicherlich lesenswerter Roman eines mittlerweile gereiften Autoren. Wer sich auf “Im Winter dein Herz” einlässt, wird einem peotischen und rätselhaften Roman begegnen, der es wert ist, entdeckt zu werden und dem eine ausgereiftere Geschichte sicherlich gut getan hätte.

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