Jeanette Winterson wurde 1959 in Manchester geboren. Für ihre literarischen Veröffentlichungen wurde sie bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Whitbread Prize und dem John Llewellyn Prize. Heutzutage lebt sie als freie Schriftstellerin in London.
“Ich war sehr oft voller Wut und Verzweiflung. Ich war immer einsam. Trotz alledem bin ich und war ich verliebt in das Leben.”
“Warum glücklich statt einfach nur normal?” ist die Lebensgeschichte der britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson, die bereits mit ihrem Debütroman “Orangen sind nicht die einzige Frucht”, der auch verfilmt wurde, einen großen Erfolg feierte. Ihre ungewöhnliche Kindheit war die Grundlage ihres literarischen Schaffens und in dem vorliegenden Werk kehrt Jeanette Winterson genau dahin zurück und erzählt schonungslos und eindringlich davon.
“Wenn meine Mutter böse auf mich war, was häufig vorkam, sagte sie: ‘Der Teufel hat uns ans falsche Bettchen geführt.'”
Bereits die Widmung des Buches weist auf die Ungewöhnlichkeit von Jeanette Wintersons Leben hin, denn sie widmet ihr Buch ihren drei Müttern: Constance Winterson, Ruth Rendell und Ann. Jeanette Winterson wurde als Baby adoptiert. Ihre Adoptivmutter nennt sie über das Buch hinweg an den meisten Stellen Mrs. Winterson oder Mrs. W, ein erster Hinweis auf die Distanz zwischen der Adoptivmutter und ihrer Tochter, die sich so lange Mrs. Winterson lebte, nicht auflösen sollte.
“Sie war ein überzogen depressiver Mensch; eine Frau, die einen Revolver in der Schublade mit den Putzlappen liegen hatte, und die dazugehörigen Kugeln in einer Dose Möbelpolitur. Eine Frau, die die ganze Nacht zum Kuchenbacken aufblieb, um nicht mit meinem Vater in einem Bett schlafen zu müssen. Eine Frau mit Prolaps, Schilddrüsenleiden, vergrößertem Herzen, offenem Bein und zwei Paar Zahnprothesen – matt für Werktage, glänzend für Sonn- und Feiertage.”
Jeanette Winterson wächst in komplizierten Familienverhältnissen auf, bei einer Familie, die so in ihren Mustern gefangen ist, dass da eigentlich gar kein Platz mehr für ein Kind ist. Sie wächst in einem Haushalt ohne Bücher auf, “Bücher waren in unserem Haus verboten” – das einzige Buch, das erlaubt war, war die Bibel, denn Mrs. Winterson war eine streng gläubige Frau.
“Prosa und Gedichte sind wie Medikamente. Sie heilen den Riss, den die Wirklichkeit in die Vorstellungskraft schneidet.”
Während Mrs. Winterson als scheinbar übermächtige Frau geschildert wird, wirkt der Adoptivvater daneben beinahe schon blass. Er leidet unter seiner Frau und flüchtet sich in die Arbeit, macht Überstunde um Überstunde, um bloß nicht zu Hause sein müssen. Erst spät im Leben, als Mrs. Winterson längst gestorben und der Vater ein zweites Mal verheiratet ist, nähern er und seine Tochter sich an, so nah, wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
“Ich brauchte Wörter, denn unglückliche Familien sind Verschwörungen des Schweigens. Wer das Schweigen bricht, dem wird niemals vergeben. Er oder sie muss lernen, sich selbst zu vergeben.”
Es ist vor allem die Literatur, die Jeanette Winterson rettet: “Ich hatte niemanden, der mir half, aber dann half mir T.S. Eliot.” Sprache und Literatur wird für Jeanette Winterson zu einer Fundgrube und hilft ihr dabei, eine eigene Stimme zu finden und eine Idee davon zu entwickeln, dass es auch noch andere Lebenswelten gibt.
“Adoptierte Kinder erfinden sich selbst, es geht nicht anders; gleich zu Beginn unseres Lebens herrscht ein Mangel, eine Leere, ein Fragezeichen. Ein entscheidender Teil unserer Geschichte ist einfach ausgelöscht worden, und zwar gewaltsam wie eine Bombe, die in der Gebärmutter platzt.”
Das Gefühl, dass etwas fehlt, begleitete Jeanette Winterson ihr Leben lang und verlässt sie auch nicht, als sie schon lange eine erfolgreiche Schriftstellerin ist. Auch da noch scheitert sie daran, zu lieben und geliebt zu werden. Die Beziehungen von ihr gehen in die Brüche, wenn es zu nah wird und jedes Mal ereilt sie wieder das Gefühl, verlassen worden zu sein – nicht gewollt worden zu sein.
“Wie liebt man einen anderen Menschen? Wie traut man einem anderen Menschen zu, einen selbst zu lieben? Ich hatte keine Ahnung. Ich dachte, Liebe ist gleich Verlust. Warum ist das Maß der Liebe Verlust?”
Der erste Teil des Buches wird förmlich atemlos erzählt, in aneinander gereihten Fetzen und Fragmenten blickt Jeanette Winterson zurück auf ihre Kindheit und ihr Leben bei Mrs. Winterson. Mit sechzehn Jahren verlässt sie ihre Adoptiveltern, die sie vor die Wahl stellen, sich von ihrer Freundin zu trennen oder das Haus zu verlassen. Die Autorin entdeckt früh, dass sie lesbisch ist und Frauen liebt. 25 Jahre später setzt der Bericht wieder ein, das, was dazwischen liegt, bleibt eine weiße Leerstelle, eine Lücke, die nur mit Andeutungen gefüllt wird. 25 Jahre später wird die Autorin von ihrer damaligen Freundin verlassen, was sie in einen psychotischen Zustand führt, aus dem heraus sie beschließt, endlich ihre leibliche Mutter ausfindig zu machen. In dem zweiten Teil des Buches beschreibt Jeanette Winterson einige ihrer dunkelsten Stunden, die sie beinahe in den Selbstmord geführt haben und das erste Aufeinandertreffen mit Ann, ihrer leiblichen Mutter.
In “Warum glücklich statt einfach nur normal?” erzählt Jeanette Winterson nicht nur die Geschichte ihrer Kindheit, sondern legt mit ihren Lebenserinnerungen ein Werk vor, in dem viele Themen angesprochen werden: es geht um Mutterliebe, um Schwierigkeiten von adoptierten Kindern, um eine Orientierungslosigkeit im Leben, wenn gleich zu Beginn die Liebe fehlt. Später geht es darum, zu sich selbst und seiner eigenen sexuellen Orientierung zu stehen, es geht um den Feminismus, um die Angst vor dem Verlassen werden. Aber in unsichtbaren Buchstaben, über dem Roman schwebend, steht für mein Empfinden vor allem die zentrale Aussage der Lebensbejahung. Jeanette Winterson wird mit Lebensbedingungen konfrontiert, die nicht einfach sind. Statt in einer liebevollen Familie aufzuwachsen, wird sie in den Kohlenkeller gesperrt. Ihr fehlt Wärme, Liebe, Geborgenheit und ihr fehlen Bücher. Doch diese Notlage macht sie auch erfinderisch und letztendlich zu einer erfolgreichen Schriftstellerin.
“Das einzig Gute daran, in einen Kohlenkeller gesperrt zu werden, ist, dass man zum Nachdenken kommt. Für sich gelesen ist das ein absurder Satz. Aber während ich zu verstehen versuche, wie das Leben funktioniert – und warum manche Leute mit den Widrigkeiten besser zurechtkommen als andere -, kehre ich immer wieder zu etwas zurück, das damit zu tun hat, das Leben zu bejahen, und das heißt Liebe zum Leben, egal wie unangemessen, und Liebe zu sich selbst, egal, wie man dieses Ziel erreicht. Nicht auf diese Ich-ich-ich-Art, die das Gegenteil von Leben und Liebe darstellt, sondern mit der Entschlossenheit, stromaufwärts zu schwimmen wie ein Lachs, egal, wie bewegt das Wasser ist, denn immerhin ist es der eigene Fluss …”
Es ist genau diese Einstellung, diese Bejahung des Lebens, die mein Herz beim Lesen schneller schlagen ließ und dazu führte, dass ich das Buch ähnlich atemlos las, wie es geschrieben wurde. “Warum glücklich statt einfach nur normal?” ist vieles, zu viel, um alles hier aufzählen und thematisieren zu können, aber es ist vor allem eines: ein Plädoyer für das Leben. Ein Plädoyer für die Liebe. Ein Plädoyer dafür, sich mit den Gegebenheiten anzufreunden und das Beste daraus zu machen. Und es ist ein Plädoyer für die Literatur, die Menschen manchmal retten und neu zusammenfügen kann. Ich glaube, dass das Buch für jeden, der es liest, etwas anderes sein und bedeuten kann, aber es wird für alle wohl ein großartiges und sehr persönliches Stück Literatur sein.
Wer sich einen Eindruck von dem Buch und der Autorin machen möchte, dem ist dieses Video empfohlen: