2006 sorgte Marisha Pessl mit ihrem Roman “Die alltägliche Physik des Unglücks” für Furore und der Roman wurde weltweit als literarisches Wunder gefeiert. Sieben Jahre später – im Herbst des vergangenen Jahres – legte die Autorin endlich ihren zweiten Roman vor: “Die amerikanische Nacht” ist, so viel sei schon mal gesagt, ein ganz und gar würdiger Nachfolger. Übersetzt wurde der Roman von Tobias Schnettler.
Bereit der Titel des Romans, “Die amerikanische Nacht”, trägt eine doppelte Bedeutung: zum einen ist dies der Titel eines Films von Regisseur François Truffaut, zum anderen bezeichnet dieser Begriff auch ein Verfahren in Filmen, bei dem mithilfe technischer Tricks eine Nachtszene am helllichten Tag gedreht wird. Angesichts dieser filmischen Anspielungen, mag es kaum überraschen, dass die zentrale Figur des Romans, ein Filmregisseur ist: Stanislas Cordova. Cordova dreht Horrofilme, Filme, die man sich nicht einfach nur anschaut, sondern die einen für ein Leben prägen und verändern. Es sagt viel über den Roman von Marisha Pessl aus, dass Stanislas Cordova zwar im Mittelpunkt des Romans steht, doch eigentlich nie auftaucht – er ist dennoch irgendwie ständig präsent: “Er ist ein Mythos, ein Monster – und ein sterblicher Mensch.”
“Er ist ein Abgrund, ein schwarzes Loch, eine unbestimmte Gefahr, der erbarmungslose Ausbruch des Unbekannten in unserer überbelichteten Welt.”
“Selbstportrait” von Francis Bacon. Im Roman befindet das Bild sich im Besitz von Stanislas Cordova.
Stanislas Cordova: für die Cordoviten, wie sich seine treusten Fans nennen, ist er ein Held, der Gottstatus genießt, für die anderen ein Scharlatan, mit einer tiefschwarzen Seite. Aus der Öffentlichkeit hat er sich vor langer Zeit zurückgezogen, Interviews gibt er keine und es gibt auch kaum Fotos von ihm. Er ist ein Phänomen. Ein Phantom. Der investigative Journalist Scott McGrath hat versucht, sich diesem Phantom zu nähern, es freizulegen und ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren: seine Behauptung, Cordova würde irgendetwas mit Kindern machen, kann er jedoch nicht belegen, so dass er nicht nur seine Anstellung verliert, sondern auch sein Ansehen. Wenig später wird er auch noch von seiner Frau und seiner Tochter verlassen. Seine Recherchen musste er damals ergebnislos einstellen, geglaubt hätte ihm eh keiner mehr – vergessen hat er den mysteriösen Filmregisseur aber nie. Als Jahre später die Zeitungen vom Selbstmord Ashley Cordovas, der Tochter von Stanislas Cordova, berichten, sieht Scott McGrath seine Chance gekommen: es ist eine Chance auf die Wiederherstellung seiner Reputation, es ist eine Chance darauf, Ansehen und Anerkennung zurückzugewinnen. Und es ist die Chance zur Rache.
Die knapp 800 Seiten des Romans beschreiben die Recherche des Journalisten, der keine Wege und Mühe scheut, etwas über Ashleys Tod herauszufinden. Schnell erhält er bei seiner Jagd nach Beweisen für Cordovas dunkle Seite Unterstützung: Nora, eine obdachlose Garderobendame und Hopper, Ashleys Jugendliebe, schließen sich Scott McGrath an. Gemeinsam besuchen sie eine Psychiaterie, wo Ashley vor ihrem Tod Patientin gewesen ist; sie suchen aber auch Weggefährten von Cordova auf, z.B. Schauspieler, die in seinen Filmen mitgewirkt haben und deren Leben danach nicht mehr so sein sollte, wie vorher. Ihre Recherche ist wie die Jagd nach einem Gespenst.
“Das ist ein Bandwurm, der seinen eigenen Schwanz gefressen hat. Es bringt nichts, ihm nachzustellen. Er wird sich bloß um dein Herz schlingen und das Blut herauspressen.”
Die Geschichte, die Marisha Pessl erzählt, entwickelt einen Sog, dem man sich beim Lesen nur schwer entziehen kann. Das, was als Recherche eines investigativen Journalisten begonnen hat, entwickelt sich zunehmend zu einem Horrorfilm, bei dem man nicht mehr weiß, was Realität und was eingebildete Hirngespinste sind. Wo beginnen und enden Fantasie und Wirklichkeit? Kann sich beides vermischen? Wie soll man entscheiden, was echt ist und was nicht? Marisha Pessl erzählt eine Geschichte voller Tücken, Rätseln, Fallen und dunklen Rissen, eine Geschichte voller schwarzer Magie und Zauberei. Eine Geschichte, die die zentrale Frage stellt, ob etwas wahr sein kann, wenn es nur im eigenen Kopf existiert. Ist Scott McGrath einer heißen Fährte auf der Spur oder hat er im Kampf darum, sein alten Leben zurückzukriegen den Verstand verloren?
“Denn jeder von uns hat eine Kiste, eine dunkle Kammer, in der er das verwahrt, was sein Herz durchbohrt hat. Sie enthält das, wofür wir alles tun würden, das, nach dem wir trachten, für das wir alles um uns herum verletzen würden. Und wenn wir sie öffnen könnten, würde uns das befreien? Nein. Denn das wirklich ausbruchssichere Gefängnis mit dem nicht zu öffnenden Schloss ist unser eigener Kopf.”
Marisha Pessl hat mit Cordova eine Figur geschaffen, der sie jedoch eine so umfangreiche und detailliert ausgearbeitete Biographie gibt, dass sie der Hauch des Realen und Wahrhaftigen umweht. Dieser Hauch wird dadurch verstärkt, dass Marisha Pessl zu experimentellen Erzähltechniken greift: sie bindet Fotografien mit ein, Ausschnitte aus Zeitungen, Protokolle aus dem Forum der Cordoviten oder auch Material aus der Polizeiakte. Marisha Pessl erzählt nicht nur eine Geschichte, sondern erschafft förmlich eine eigene Welt für ihre Geschichte. Während sie sich in “Die alltägliche Physik des Unglücks” noch auf die Welt der Literatur gestürzt hat und den Leser mit tatsächlichen und fiktiven literarischen Zitaten erfreute, stürzt sie sich diesmal auf die Welt des Films. Es dürfte kaum erstaunen, dass die Verfilmung für ihren Roman bereits in Planung ist.
Als Leser sollte man nicht Gefahr laufen, “Die amerikanische Nacht” auf die in der Tat vorhandenen Spannungselemente zu reduzieren. Marisha Pessl hat nicht nur einen spannenden Roman geschrieben, der einen Hauch Magie in sich trägt, sondern einen Roman, mit ganz unterschiedlichen Facetten, der sich als Familienroman aber auch als Gesellschaftsroman mit kulturkritischen Elementen lesen lässt. Zu guter Letzt ist “Die amerikanische Nacht” auch immer wieder herrlich humorvoll ist.
“Mit Aurelia zu schlafen war, als würde man den Zettelkatalog einer menschenleeren Bibliothek nach einem unbekannten, kaum beachteten Eintrag zur ungarischen Lyrik durchstöbern. Es war totenstill, niemand konnte mir sagen, wo ich hinmusste, und nichts war da, wo es sein sollte.”
“Die amerikanische Nacht” ist ein hochspannender, temporeicher und mitreißend erzählter Roman, der die herkömmlichen Gattungsbezeichnungen sprengt. Ich habe ihn als facettenreichen literarischen Thriller gelesen, der mich an manchen Stellen atemlos bis in die tiefe Nacht hinein weiter lesen ließ. Es ist großartig, wie Marisha Pessl dieses Vexierspiel aus Wirklichkeit und Fiktion, aus Fantasie und Realität erschafft und dabei über die vielen offenen Fäden scheinbar nie den Überblick verliert. Ich habe mit “Die amerikanische Nacht” einen mutigen Roman gelesen, der mich begeistert und unterhalten hat.