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Olga Grjasnowa las in Bremen

Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa las gestern aus ihrem Buch “Der Russe ist einer, der Birken liebt” vor. Die Lesung fand auf Einladung des  “workshop Literatur e.V.” in der Thalia Buchhandlung in Bremen statt. Am heutigen Freitag, den 23.11.2012, steht die junge Autorin darüber hinaus für einen Schreibworkshop mit Oberstufenschülern zur Verfügung. Diese Tatsache trug dazu bei, dass die Lesung am gestrigen Abend von zahlreichen Schülern besucht wurde.

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“Mascha ist jung und eigenwillig, sie ist Aserbaidschanerin, Jüdin, und wenn nötig auch Türkin und Französin. Als Immigrantin musste sie in Deutschland früh die Erfahrung der Sprachlosigkeit machen. Nun spricht sie fünf Sprachen fließend und ein paar weitere so “wie die Ballermann-Touristen Deutsch”. Sie plant gerade ihre Karriere bei der UNO, als ihr Freund Elias schwer krank wird. Verzweifelt flieht sie nach Israel und wird schließlich von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Mit perfekter Ausgewogenheit von Tragik und Komik und mit einem bemerkenswerten Sinn für das Wesentliche erzählt Olga Grjasnowa die Geschichte einer Generation, die keine Grenzen kennt, aber auch keine Heimat hat.” – Quelle: Hanser Literaturverlag

Bevor Olga Grjasnowa anfing zu lesen, hat sie einige der wichtigsten Handlungselemente zusammengefasst, um in das Buch einzuführen. Sie betonte gleich zu Beginn ihrer Lesung, dass in ihrem Roman weder Russen noch Birken vorkommen werden. Ihre Einführung in den Roman war sehr humorig und kurzweilig. Olga Grjasnowa beendete sie mit einem Hinweis darauf, dass es sie ziemlich irritieren würde, dass unter dem Stapel ihrer Bücher ein Exemplar von “Shades of Grey” liegen würde.

Im Anschluss an die Lesung stand die Autorin für Fragen aus dem Publikum zur Verfügung und es entwickelte sich in der Folge ein sehr launiges Gespräch. Man merkte Olga Grjasnowa zeitweilig ihre Nervosität an, sie machte aber durchweg einen sehr sympathischen und auch witzigen Eindruck.

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Eine der ersten Nachfragen aus dem Publikum bezog sich auf den seltsam anmutenden Titel. Olga Grjasnowa erklärte, dass es Zuschreibungen gibt, die funktionieren und Fakten schaffen, wie das zum Beispiel bei dem Wort Migrantenkinder geschieht, die häufig in eine Schublade gesteckt werden, auf der Begriffe wie faul, dumm oder ungebildet stehen. Sie selbst hat es in diesem Zusammenhang immer genervt, dass mit Russland häufig ausschließlich Birken assoziiert werden. Für den Titel entschieden hat sie sich dann aber eher zufällig, als sie über ein Zitat von Anton Tschechow aus dem Stück “Drei Schwestern” stolpert:

“Werschinin: Wie können Sie nur! Hier ist ein gesundes, slawisches Klima. Wald und Fluss … und dann gibt es auch Birken. Die lieben, bescheidenen Birken, ich liebe sie mehr als sonst alle Bäume. Gut ist es, hier zu leben. Seltsam bloß, dass der Bahnhof zwanzig Werst vor der Stadt liegt … Und keiner weiß, warum das so ist.”

Als sie dieses Zitat gefunden hatte, war ihr Roman bereits fast fertig und sie empfand das Zitat beinahe als perfekte Zusammenfassung ihres Romans. Im Roman werden ethnische Zugehörigkeiten behandelt, ihr war es aber wichtig, dass eine Nationalität im Titel vorkommt, die nicht im Buch erwähnt wird.

Sie hat sich entschieden ihrer Hauptfigur Mascha einen aserbaidschanisch-jüdischen Migrationshintergrund zu geben, denselben den sie auch selbst hat. Sonst ähnelt sie ihrer Hauptfigur, die ein Talent für Sprachen hat, aber eher nicht: sie beherrscht zwar russisch, deutsch und englisch – scheiterte aber kläglich daran türkisch oder französisch zu lernen. Zu der Geschichte inspiriert hat sie die Geschichte eines Familienfreundes, dem während eines Progroms in der aserbaidschanischen Stadt Baku 1990 eine Frauenleiche vor die Füße gefallen ist. Von diesem Trauma hat er sich lange nicht erholen können. Diese Episode steht für Olga Grjasnowa im Zentrum ihres Romans.

Olga Grjasnowa würde ihren Roman selbst als witzig bezeichnen. Trotz des Erfolges lehnt sie eine Fortsetzung des Romans jedoch kategorisch ab. Sie schreibt bereits an ihrem zweiten Roman, verspürt aber keinen Erfolgsdruck: “Erst kommt die Angst vor mir selber, dann vor den anderen.” Sie schränkt ihre Formulierung im Anschluss gleich wieder ein und fügt an, dass sich das was sie sagt, sehr viel dramatischer anhört, als es eigentlich ist: “Acht Stunden in der Fabrik zu arbeiten, ist deutlich schwerer zu ertragen.”

Für Diskussionen sorgte auch das Ende des Buches und dessen Interpretation: ist es  ein Neuanfang oder ein Ende? Die Autorin betont, dass es sich um ein offenes Ende handelt, doch für ihr Empfinden endet das Buch eher schlecht, doch es kommt ihrer Meinung nach auf die Laune des Lesers an, wie das Ende empfunden wird.

Das Buch wurde auch durch ihr Studium am Literaturinstitut Leipzig geprägt, an dem sie vier Jahre lang eingeschrieben war, auch wenn es erst am Ende ihres Studiums entstand. Das Schreiben des Buches hat sie als eine Aneinanderreihung von Krisen empfunden, ein Hangeln von einer Deadline zur nächsten. Für ihre Abschlussprüfung musste schließlich sie einen achtzigseitigen Text vorlegen. Obwohl sie es geschafft hat, die Abgabefristen einzuhalten, blieben ihr bis kurz vor der Veröffentlichung ihres Romans immer noch Zweifel: “Der Zweifel ist das einzige was bleibt, auch jetzt.” Mittlerweile empfindet sie ihren Text bei Lesungen häufig als unfertig, möchte hier und da etwas ändern – abgeschlossen ist er für ihr Empfinden noch nicht.

Ich habe die gestrige Lesung als einen rundum erfolgreichen Abend empfunden, mit einer sehr humorvollen, sympathischen und interessanten Autorin. Die Passagen die sie vorgelesen hat waren sehr gut ausgewählt und haben einen schönen Blick in die Geschichte des Buches ermöglicht. Im anschließenden Gespräch hat sie sich dann sehr offen und aufgeschlossen präsentiert.

Weiterführender Link:

Eine aktuelle Besprechung des Romans findet sich auf SchöneSeiten.

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