Was übrig bleibt – Sigrid Combüchen

Der Roman “Was übrig bleibt” von der schwedischen Autorin Sigrid Combüchen trägt den interessanten Untertitel “Ein Damenroman”. Ein Zusatz, der mich sehr neugierig darauf gemacht hat, zu erfahren, was darunter zu verstehen ist. Unter einem Damenroman konnte ich mir einfach nichts Genaues vorstellen … denken musste ich erst einmal an die heutige Frauen- und sogenannte Chick-Literatur. Beides für mich dann doch eher abschreckend. Was ich nach der Lektüre von “Was übrig bleibt” sagen kann, ist, dass dieser Roman definitiv besser gewesen ist, als meine Vorstellung von ihm.

Der Aufbau des Buches ist kompliziert und noch komplizierter ist es, diesen Aufbau zu beschreiben. Sehr gut ist dies atalantes in ihrer Rezension gelungen, die ich versuchen möchte, mir als Vorbild zu nehmen. Sigrid Combüchen erzählt die Geschichte von Hedwig Langmark – im Roman meistens nur Hedda genannt. Hedda wächst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auf, 1937 macht sie ihr Abitur mit Bestnoten. In ihrer Familie ist sie angesehen, doch wird sie dort vor allem für ihr “Händchen” geschätzt, nicht unbedingt für ihren Verstand.

“Ihre Hände waren Gold wert; sie hatte ein solches Händchen. Bei allem, was Hedda anpackte, kam etwas heraus, und wenn etwas schön werden sollte, konnte man es ruhig Heddas Händen überlassen und sich auf sie verlassen.”

Trotzdem hat sie kaum Möglichkeiten, sich beruflich zu entfalten – ihre Familie erwartet von ihr, dass sie zu Hause bleibt, da sowohl ihr Vater als auch ihr jüngster Bruder Ake häusliche Pflege brauchen. Sie erkämpft sich gegen massive Widerstände die Möglichkeit, nach Stockholm zu gehen. Nicht an die Universität zum Studium, sondern an eine Nähakademie. Aber immerhin: Hedda gelingt es, aus dem Alltag auszubrechen.

“Nichts fühlte sich mehr gut an. Am Alltag scheuert man sich wund.”

Der Umzug nach Stockholm ist für Hedda ein großer Schritt hinein in das Leben einer Erwachsenen, einer Dame. Auch ihr erotisches Interesse erwacht und sie sammelt erste Erfahrungen.

Die Lebensgeschichte von Hedda ist eingebettet in einen Briefwechsel zwischen  Hedda und einer fiktiven Figur (wie Sigrid Combüchen im Nachwort extra noch einmal betont), die auch den Namen Sigrid Combüchen trägt. Dieser Briefwechsel entsteht aus einem Zufall heraus: Hedda glaubt sich in einem Roman von Combüchen, in dem ein altes Familienfoto beschrieben wird, zu erkennen und schreibt ihr darauf hin. Combüchen wittert eine interessante Geschichte und geht darauf ein, sie behauptet sogar, selbst im ehemaligen Elternhaus Heddas zu wohnen. Es entspinnt sich ein langer Briefwechsel zwischen beiden Frauen, in dem Hedda einiges ihrer Lebensgeschichte preisgibt. Sigrid Combüchen stellt auch selbst Nachforschungen an, so dass zu den beiden bisherigen Erzählebenen noch eine dritte Ebene hinzukommt: die Rechercheergebnisse von Sigrid Combüchen.

Klingt das verwirrend? Oh ja! Ich war zumindest verwirrt und diese Verwirrung hielt auch die ersten Seiten lang an. Wer unter einem Damenroman etwas locker Flockiges versteht, was sich leicht weglesen lässt, für den ist “Was übrig bleibt” sicherlich die falsche Wahl. Wer dazu bereit ist, sich auf den etwas kompliziert verschachtelten Aufbau einzulassen, den erwartet eine sprachlich anspruchsvolle Geschichte über eine interessante junge Frau.

Sigrid Combüchen greift Themen auf, die in der damaligen Zeit – den dreißiger Jahren – sicherlich präsenter waren, als sie es heute sind und doch war ich direkt fasziniert von der Beschreibung des Lebensweges von Hedda. Und ich konnte mich – auch wenn es mir selbst nicht annähernd so ergangen ist – identifizieren mit Hedda. Ich konnte nachempfinden, wie schwierig es gewesen sein muss, die Entscheidungen so zu treffen, wie Hedda sie trifft. Sigrid Combüchen beschreibt den Konflikt zwischen der Verantwortung, die man für seine Familie empfindet und dem Wunsch, seine eigene Rolle im Leben zu finden. Freiheiten zu haben, das zu tun, was man tun möchte. Hedda wird in ihrer Familie für ihr Händchen geschätzt, für ihr Organisationstalent und ihre Kochkünste – aber nicht für ihren Verstand. Ihr werden keine Möglichkeiten eingeräumt, das Potential, was sie besitzt auch zu entfalten. Im Gegenteil: während ihr älterer Bruder Christian Medizin studieren darf, soll sie zu Hause bleiben, sich um die Familie kümmern und irgendwann einen Mann finden und Kinder bekommen. Hedda will mehr, sie möchte etwas anderes und trotz des familiären Drucks und ihrem eigenen schlechten Gewissen, gelingt es ihr, den Schritt in ein freies und unabhängiges Leben zu wagen. Sigrid Combüchen zeigt in ihrem Roman, dass familiäre Strukturen damals ähnlich porös und durchlässig waren, wie sie es heutzutage wahrscheinlich immer noch sind. Die Familien, die man in “Was übrig bleibt” kennen lernt, sind geprägt durch einen falsches Schein, der alles durchdringt und fußen meistens auf einer reinen Vernunftentscheidung. Hedda gelingt es, sich kurzzeitig daraus zu befreien.

“[…] und Familien sind schon merkwürdig […], eher willkürlich als absichtsvoll zusammengewürfelt. Die einzelnen Familienmitglieder sind oft so unterschiedlich, dass sie sich in einer Schulklasse oder auf einem Amerikadampfer niemals wählen würden. Dort würden sie ganz andere Menschen kennenlernen.”

 “Was übrig bleibt” ist ein schöner und vielschichtiger Roman, der das Porträt einer interessanten Frau zeichnet. Ähnlich wie atalantes denke ich auch, dass es dem Roman nicht geschadet hätte, wenn er an einigen Stellen gekürzt worden wäre, doch auch die zeitlichen Längen und etwas überflüssigen Szenen, haben meinem Lesevergnügen keinen Abbruch getan. Sigrid Combüchen wirft einen vielfältigen und sicherlich auch kritischen Blick auf eine schwierige Zeit. Eine Zeit, in der Frauen noch viel stärker in Rollenklischees gefangen und beruflich eingeschränkt waren als heute – doch Hedda zeigt, dass man es dennoch schaffen kann, einen alternativen Weg einzuschlagen.

Ein souverän erzählter Schmöker mit Anspruch!

3 Comments

  • Reply
    atalante
    March 15, 2012 at 9:33 pm

    Hallo Mara,
    danke für die Blumen, die ich gerne wieder zurück reiche. Durch Deine ausführliche Rezension erhalten die potentiellen Leser noch mehr Appetit auf den Schwedenhappen. Es ist auf jeden Fall einer der Romane, bei denen man das Schicksal der Protagonisten noch über das Ende hinaus verfolgen möchte.
    Viele Grüße,
    Atalante

  • Reply
    Bücherliebhaberin
    March 23, 2012 at 9:50 pm

    Sigrid Combüchen erklärte auf der Leipziger Buchmesse während einer Lesung, dass der Zusatz “Damenroman” in Norwegen und Dänemark oft benutzt wird und negativ besetzt ist. Sie hat den Untertitel aus Trotz benutzt, auch mit der Fragestellung im Hintergrund: Haben Männerromane mehr Wert? Sie spricht übrigens sehr gut Deutsch und machte einen sympathischen Eindruck.

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      March 24, 2012 at 9:40 am

      Liebe Bücherliebhaberin,
      danke für diese zusätzlichen Informationen! Ich beneide dich darum, dass du auf der Buchmesse warst und auch noch Sigrid Combüchen gesehen hast. Schon das Foto von ihr im Bucheinband vermittelt einen sehr sympathischen Eindruck und auch das was du berichtest hört sich nett an.
      Das der Untertitel “Damenroman” häufig benutzt wird und negativ besetzt ist, finde ich interessant – vielleicht vergleibar mit dem heutigen “Frauenroman”, der auch eher eine negative Konnotation besitzt. Toll, dass sie ihn dennoch au Trotz verwendet hat!
      Liebe Grüße und herzlichen Dank für deinen Kommentar
      Mara

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