“Lieben” ist der zweite Teil einer sechsbändigen Reihe, in der der Schriftsteller Karl Ove Knausgard über sein Leben schreibt, im letzten Jahr erschien bereits der erste Teil “Sterben”, ebenfalls im Luchterhand Verlag. Die Lektüre von “Sterben” hat mich vor gut einem Jahr sehr beeindruckt, vor allem die Szenen, in denen Karl Ove Knausgard gezwungen ist, das verdreckte Haus seines verstorbenen Vaters auszuräumen und sauber zu machen, gehörten zu den intensivsten literarischen Szenen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. In Karl Ove Knausgards Heimatland Norwegen sind bereits alle sechs Bände erschienen und haben heftige und kontroverse literarische Diskussionen ausgelöst. Die Debatte drehte sich dabei vor allen Dingen um die Frage, ob es angemessen ist, in dieser Form über sein Leben zu schreiben und damit gleichzeitig auch das Leben aller anderen Familienangehörigen – ob gewollt oder nicht – in das Rampenlicht zu stellen. Untertitelt ist “Lieben” mit dem Begriff “Roman”, was natürlich viel Spielraum lässt für die Frage, was in diesem Buch authentische Wahrheit ist und was Fiktion. Vielleicht ist auch gerade dieser Spielraum der Reiz, den das Buch ausmacht – es könnte ja alles wahr sein. Beim Lesen bin ich mir immer wieder wie ein Voyeur vorgekommen, als würde ich hinter einer Gardine versteckt in die Wohnung meiner Nachbarn schauen.
“Lieben” beginnt zu einem Zeitpunkt, als Karl Ove Knausgard bereits mit seiner Frau Linda und ihren gemeinsamen drei Kindern Vanja, Heidi und John im schwedischen Malmö wohnt. Auf den ersten Seiten des Romans erhält man einen direkten Einblick in das Leben der Familie Knausgard. Schnell wird klar, dass es sich nicht um eine rundum glückliche Familie handelt: beide Eltern wirken überfordert mit der Betreuung ihrer Kinder, wirken unzufrieden mit dem Leben, das sie sich ausgesucht haben und streiten sich über alltägliche Kleinigkeiten, wie die Aufteilung der Haushaltsarbeiten.
“Ich wollte sie verlassen, weil sie die ganze Zeit meckerte, sie wollte immer etwas anderes haben, tat jedoch selber nie etwas dafür, meckerte nur, meckerte, meckerte, nahm die Dinge niemals, wie sie waren, und wenn die Wirklichkeit nicht ihren Vorstellungen entsprach, machte sie mir in großen wie in kleinen Dingen Vorwürfe.”
Auch mit sich selbst geht Karl Ove Knausgard hart ins Gericht und bezeichnet sich als “König des Ungefähren”, als “gehemmten und schwachen Mann”, der ein “Leben in der Welt der Worte” lebt. An einer anderen Stelle bezeichnet er sich sogar als “Hure” – als jemanden, der alle seine eigenen Prinzipien über Bord wirft, allein aus der Angst heraus, von anderen nicht mehr gemocht zu werden. Er ist unzufrieden mit seiner Rolle als dreifacher Vater und auch mit den damit verbundenen Pflichten; einen Kinderwagen durch die Stadt zu schieben empfindet er als unmännnlich, der Babyrhythmikkurs zu dem er gehen soll ist für ihn der Gipfel. Dazu kommt, dass er das Gefühl hat, dass das Familienleben ihm die Zeit für das Schreiben raubt. Er fühlt sich eingeengt, gefangen in einem Leben, das ihn nicht ausfüllt, ihn nicht befriedigt. Dieses Gefühl überkommt ihn auch schon zu einem Zeitpunkt, als Linda und er nur ihre Tochter Vanja haben.
“Warum sollte ich nicht ein Jahr darauf verzichten können, zu schreiben und stattdessen für Vanja ein Vater sein, während Linda ihre Ausbildung abschloss? Ich liebte die beiden, sie liebten mich. Warum hörte all das andere nicht auf, an mir zu reißen und zu zerren?”
In vielen Passagen, die um die Rolle als Familienvater kreisen, schont sich Karl Ove Knausgard selbst nicht – häufig ist es schwierig mit ihm zu sympathisieren. Er entscheidet sich dazu eine Familie zu gründen und doch ist das einzige, was er wirklich möchte, seine “Ruhe haben” und “schreiben” – in diesen beiden Punkten ist er kaum zu Kompromissen bereit. Kurz nach der Geburt von Vanja zieht er monatelang in sein Büro, um zu schreiben und lässt Linda mit der Kinderbetreuung alleine.
Nach dem ersten Drittel des Romans folgen viele Rückblicke auf die Zeit, als Karl Ove Knausgard sich von einem auf den anderen Tag dazu entscheidet, Norwegen zu verlassen und sich von seiner ersten Frau Tonje zu trennen. Als er nach Stockholm kommt, kennt er dort nur einen Menschen – seinen Freund Geir, mit dem er im Laufe des Buches viele intellektuelle und philosophische Gespräche führt. Er berichtet darüber, wie er Linda kennengelernt hat, auf die er zum ersten Mal während eines Schreibworkshops getroffen ist, als er noch mit Tonje verheiratet gewesen ist. Später trifft er sich mit ihr in Stockholm wieder und verliebt sich in sie. Er erzählt sehr offen von der psychischen Erkrankung Lindas, die manisch-depressiv ist. Beide wirken in sich selbst, aber auch in ihrer Beziehung wenig stabil und gefestigt – dennoch entscheiden sie sich dazu, ein Kind zu bekommen. Vanja. Später folgen noch Heidi und John. Diese Rückblicke waren für mich die stärksten Passagen des Buches und zwischenzeitlich habe ich mich wie in einem Sog gefühlt. Irgendwann musste ich einfach immer weiter lesen. Am Ende des Buches schließt sich der Kreis und Karl Ove Knausgard kehrt in die Jetztzeit zurück: sein Leben als Vater und Schriftsteller mit drei Kindern. Nach einem Besuch in seiner alten Heimat Norwegen beginnt er damit, Erinnerungen an die Vergangenheit zu notieren – so entsteht sein Roman “Sterben”.
Den Anfang des Buches habe ich als etwas zäh empfunden: Knausgard beginnt mit einem minutiös anmutenden Bericht über Alltäglichkeiten und es fiel mir schwer Interesse dafür zu empfinden. Aber spätestens als die Rückblicke einsetzten, hat mich das Buch gefangen genommen. Durchsetzt von philosophischen und literarischen Betrachtungen – Knausgard liest sehr viel und besitzt zweieinhalbtausend Bücher – zeichnet Karl Ove Knausgard mit einer schon beinahe zerstörerischen Offenheit sein eigenes Leben nach. Keiner wird dabei geschont, weder schont er sich selbst, noch seine Frau Linda oder andere Angehörigen. Besonders fasziniert haben mich seine Beschreibungen des Schreibprozesses während der Entstehung von “Alles hat seine Zeit”, seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman: nächtelang sitzt Knausgard in seinem Büro am Schreibtisch, schläft höchstens eine oder zwei Stunden, isst nichts mehr – sich selbst bezeichnet er rückblickend als “manisch”. Vielleicht muss man sich als Schriftsteller in einen solchen “manischen” Zustand versetzen, um Großes produzieren zu können. Für Knausgard ist dies als Familienvater nicht mehr möglich. Er fühlt sich in seiner Freiheit beschnitten, seiner Berufung beraubt. Auf der anderen Seite hat er sich natürlich auch freiwillig und bewusst dafür entschieden, diese Freiheit aufzugeben und eine Familie zu gründen.
Ich habe viel darüber nachgedacht, was der Reiz sein könnte, den dieses Buch für mich ausgemacht hat. Wie schon erwähnt, hatte das Lesen für mich zwischendurch voyeuristische Züge, manchmal habe ich mich wie in einer Vorabendserie gefühlt. Spannend finde ich natürlich die Frage, was ist ausgedacht und was ist real – die Knausgard nur selbst beantworten kann. Daran schließt sich natürlich auch eine moralische Frage an: ist es moralisch vertretbar, sein eigenes Leben und das seiner Angehörigen so in die Öffentlichkeit zu zerren. Eine Entscheidung, die vor allen Dingen überrascht, da Knausgard sich sonst als eher scheuen und zurückhaltenden Menschen beschreibt.
Am Ende von “Lieben” schreibt Knausgard, dass er in den vergangenen Jahren den Glauben an die Literatur verloren habe, da sich alles, was er las, jemand ausgedacht hat.
“Das Einzige, worin ich einen Wert erblickte, was weiterhin Sinn produzierte, waren Tagebücher und Essays, die Genres der Literatur, in denen es nicht um eine Erzählung ging, die von nichts handelten, sondern nur aus einer Stimme bestanden, der Stimme der eigenen Persönlichkeit, einem Leben, einem Gesicht, einem Blick, dem man begegnen konnte.”
Diese Stimme habe ich in “Lieben” wiedergefunden. Mein Verhältnis zu ihr ist ambivalent. Wirklich sympathisch ist mir Karl Ove Knausgard nicht, aber er ist eine interessante und faszinierende Persönlichkeit, die eine eigene Stimme hat.
8 Comments
flattersatz
June 10, 2012 at 3:05 pmliebe mara,
jetzt habe ich mir deine knausgard-lieben-rezi angeschaut und durchgelesen und komme immer mehr zu der erkenntnis, daß ich dieses buch doch nicht lesen werde. es scheint sich vom wesen nicht von sterben zu unterscheiden. diese (du schreibst) zerstörerische offenheit, die knausgard an den tag legt – ich kann die ablehnung durch im buch genannte personen verstehen. es ist meiner meinung nach rücksichtslos und auch egoistisch, andere menschen, wenn sie nicht damit einverstanden sind, so in den fokus “voyeuristischen” lesens zu rücken. ist es derselbe egozentrische zug, den knausgard auch als vater und mann an den tag legt? letztlich ist es ja nicht nur “therapeutisches schreiben” was knausgard macht, er verdient ja geld damit und wenn ich mir den erfolg der bücher anschaue, kann das nicht wenig sein. und wie hoch ist der anteil derjenigen an seinem verdienst, die er bloßstellt? oder sind das falsche gedanken, die mir da kommen?
liebe grüße
fs
buzzaldrinsblog
June 11, 2012 at 2:31 pmLieber Flattersatz,
ich finde deine Gedanken nicht falsch, ganz im Gegenteil, sie sind hochinteressant und werfen interessante Fragen auf. Nach meiner Lektüre von “Lieben”, das mir alles in allem immer noch gut gefallen hat, kann ich die Kritik an Knausgard nachvollziehen. Interessant an “Lieben” sind vor allen Dingen die zahlreichen literarischen Verweise. Knausgard ist manischer Leser und manischer Bücherkäufer. In seinem Privatleben offenbart er sich dagegen in seiner Beziehung zu Linda in der Tat sehr egoistisch. Das er seine Verwandten und Bekannten so schonungslos in die Öffentlichkeit zerrt, ist sicherlich kein sympathischer Zug. Das da einige erbost sind, kann ich sehr gut nachvollziehen.
Knausgard legt lustigerweise in der Tat keinen Wert darauf, sich selbst sympathisch zu charakterisieren. Vor allem im Umgang mit Linda ist er egoistisch, unsympathisch. Vorrang hat sein Schreiben und sein Bedürfnis nach Alleinsein, dem hat sich seine Familie unterzuordnen. Manche Szenen in “Lieben” sind einfach nur schrecklich, weil (auch wenn das fürchterlich klingt) Linda und Karl Ove fast selbst noch “Kinder” sind, als sie selber schon Kinder kriegen. Seine Frau ist mit der Veröffentlichung wohl einverstanden gewesen, wobei ich auch nicht weiß, ob sie wusste, was er alles schreibt.
Ich denke, dass ich – falls sie denn auf Deutsch erscheinen werden – auch noch die nächsten Bände lese, es ist aber mehr als gerechtfertigt, diesem Projekt auch kritisch gegenüber zu stehen.
Liebe Grüße!
Private Büchersammlungen: Maras Bücher « kbvollmarblog
December 18, 2012 at 6:10 pm[…] Insgesamt umfasst meine Bibliothek etwa 1000 Bücher. Karl Ove Knausgard erzählt in seinem Roman „Lieben“ davon, dass er insgesamt an die 15.000 Bücher besitzt – er beschreibt, wie er all diese Bücher […]
Spielen – Karl Ove Knausgård | buzzaldrins Bücher
November 22, 2013 at 12:22 pm[…] und das auf insgesamt sechs Bände angelegt ist. Ich habe bereits “Sterben” und “Lieben”, die ebenfalls im Luchterhand Verlag erschienen sind, mit Begeisterung verschlungen. Diese sechs […]
Brutal ehrlich | buzzaldrins Bücher
January 16, 2014 at 4:45 pm[…] bisher drei Bände erschienen sind. Alle drei habe ich mit großem Vergnügen verschlungen, “Lieben” und “Spielen” habe ich auf meinem Blog vorgestellt – der vierte Band […]
Literarischer Superstar | buzzaldrins Bücher
July 5, 2014 at 2:15 pm[…] auch da. Es ist das ungewöhnliche Romanprojekt “Min kamp” (Sterben, Lieben, Spielen, Leben), das ihn plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses katapultiert […]
Karl Ove Knausgård - FAQ | Buzzaldrins Bücher
September 18, 2015 at 8:29 am[…] Deutschland, sondern auch bis nach Amerika geschwappt. In diesen Tagen erscheint nach Sterben, Lieben, Spielen und Leben endlich der fünfte Band der Reihe: in Träumen geht es um Knausgårds […]
Kämpfen - Karl Ove Knausgård | Buzzaldrins Bücher
June 7, 2017 at 2:13 pm[…] – Lieben – Spielen – Leben – […]