„Kümmernisse“ ist der erste Roman der französischen Autorin Judith Perrignon, die lange als Journalistin gearbeitet hat. Der Roman hat sofort mein Interesse geweckt und ich wusste, dass ich ihn unbedingt lesen möchte: der tolle Titel, das schöne Cover und die Tatsache, dass es sich um einen französischen Roman handelt, haben schon ausgereicht. Wenn ich ein Faible habe, dann ist es eines für französische Literatur.
„Kümmernisse“ ist ein schmales Büchlein, die Geschichte umfasst gerade einmal 180 Seiten. Trotz dessen wirkt es ungleich gewichtig und inhaltsvoll auf mich. Judith Perrignon gelingt es auf wenigen Seiten und mit wenigen Worten so viel zu sagen, so viel ausdrücken, so viel zu vermitteln. Noch jetzt, während ich diese Rezension schreibe, fühle ich mich ein Stück weit berauscht.
Judith Perrignon erzählt in „Kümmernisse“ eine verzweigte Familiengeschichte: im Mittelpunkt steht die erst zweiundzwanzigjährige Helena, die nach einem gescheiterten Raubüberfall auf einen Juwelier, gefasst wird und um keinen Preis den Namen ihres Komplizen verraten möchte. Ihr Komplize ist gleichzeitig auch ihr Liebhaber, ihr Freund, ihr Vertrauter, ihre erste große Liebe. Am 16. November 1967 bringt Helena eine Tochter zur Welt, Angèle. Angèle wird im Gefängnis geboren, doch großgezogen wird sie in Freiheit, bei ihrer Großmutter Mila, die sich rührend und sehr ergreifend um das kleine Mädchen kümmert.
Am Anfang des Textes stehen Briefe, Briefe von Mila an Helena. Aus jedem Wort, das Mila ihrer Tochter ins Gefängnis schreibt, spricht Verzweiflung, Traurigkeit und ganz viel Unverständnis.
„Helena, was passiert nur mit uns? Warum muss ich Dir ins Gefängnis schreiben?“
Und doch: als Leser habe ich gespürt, dass sich Mila neben der Verzweiflung und dem Unverständnis auch viel Liebe und Zuneigung für ihre Tochter erhalten hat. Trotz des Raubüberfalls, trotz dessen, dass ihre Tochter für die nächsten fünf Jahre im Gefängnis sitzt, hat sich Mila ihre Liebe für Helena bewahrt:
„Ich schäme mich Deiner nicht. Ich mache mir Vorwürfe, Helena, ich mache mir Vorwürfe, Dich nicht gewarnt zu haben.“
Doch Mila hat nicht mehr das Gefühl, ihre Tochter erreichen zu können, ganz im Gegenteil glaubt sie, sie zu verlieren, sie vielleicht schon lange verloren zu haben. Helena antwortet nicht auf ihre Briefe und auch von ihrer Tochter möchte sie nicht im Gefängnis besucht werden.
„Dein Schweigen macht mir Angst, und das, was es bedeutet, auch.“
Als Helena aus dem Gefängnis entlassen wird, nimmt sie Angèle trotzdem bei sich auf, doch sie schafft es nicht, das Kind an sich heranzulassen. In jedem einzelnen Moment, in dem sie Angèle anschaut, steht zwischen ihnen Angèles Vater Tom. Helenas verlorene Liebe. Sie ist geblieben und hat ihre Schuld auf sich genommen, doch ihr Komplize, der nicht nur Komplize sondern auch Geliebter war, ist verschwunden. Was bleibt ist ein Name: Tom. Und der Schmuck, den er ihr zurückgelassen hat.
Später im Roman wechseln die Perspektive und zeitliche Ebene: Angèle, mittlerweile erwachsen, ist auf der Suche nach ihrem Vater. Nach einer Erklärung dafür, dass dieser Mensch die Macht hatte, ein Leben lang einen Schatten auf das Leben ihrer Mutter werfen konnte. Auf der Suche nach Gründen und Erklärungen, nach einer Herkunft.
Judith Perrignon gelingt es in einem ganz und gar unaufgeregten und leisen Roman, ganz sanft den Kummer von drei Menschen einzufangen, deren Lebensgeschichte von Verlust geprägt ist. Helena hat ihre Liebe verloren, Angèle hatte keine richtige, keine anwesende Mutter und Mila stand hilflos zwischen ihrer Tochter und Enkelin. Was überwiegt, ist der Kummer, das verursachte Leid, von dem Judith Perrignon ganz still und leise erzählt.
Ein beeindruckendes Buch, eine erschütternde Geschichte. Überzeugt hat mich vor allem die ruhige und sanfte Sprache und wie großartig die Schriftstellerin alle Perspektiven und Zeitebenen miteinander verknüpft. „Kümmernisse“ ist eine wunderschöne und gleichzeitig wunderbar traurige Komposition. Ein wunderbares Stück Literatur.
13 Comments
lesesilly
May 3, 2012 at 4:37 amLiebe Mara,
dieses Buch ist wirklich eine kleine Schatztruhe. Voll von schönen Worten und beeindruckenden Bildern. Die französischen Autoren schaffen es immer wieder mich durch ihre Worte in den Bann zu ziehen. Ich bin damals durch die Klappentexterin auf dieses Buch aufmerksam geworden und freue mich, dass es auch Dir so gut gefällt. Hoffentlich findet es noch viele Leser.
Liebe Grüße
lesesilly
buzzaldrinsblog
May 3, 2012 at 1:11 pmLiebe lesesilly,
wie so viele andere Bücher zuvor, habe ich dieses auch vor einiger Zeit bei der Klappentexterin entdeckt und es wurde direkt auf meine Wunschliste katapultiert. Es hat mir wirklich sehr gut gefallen, auch wenn (oder vielleicht gerade weil?) es sehr ruhig und still erzählt und dennoch sehr eindrücklich ist.
Ich würde Judith Perrignon auch wünschen, dass ihr Roman noch viele Leser finden wird. Für mich ist “Kümmernisse” nach “Ich nannte ihn Krawatte” nun schon das zweite absolute Highlight aus dem Wagenbach Verlag – einem Verlag, dem ich lange nicht besonders viel Beachtung geschenkt habe. Ein großer Fehler!
Liebe Grüße
Mara
buechermaniac
May 3, 2012 at 6:04 amDass man drei Schicksale in ein so schmales Buch packen kann? Erstaunlich. Deine Rezension hat mich wirklich neugierig gemacht. Französische Autoren überraschen doch immer wieder.
Herzliche Maigrüsse
buechermaniac
buzzaldrinsblog
May 3, 2012 at 1:13 pmLiebe buechermaniac,
wenn du dich absichern möchtest, finden sich auch bei der Klappentexterin ein paar begeisterte Worte zu diesem kleinen Juwel.
Ich habe kaum gemerkt, ein Buch in der Hand zu halten, das “nur” 180 Seiten umfasst. Es hat sich nach so viel mehr angefühlt!
Französische Autoren haben mich in letzter Zeit vor allem positiv überrascht und ich hoffe, dass es von Judith Perrignon in Zukunft noch mehr zu lesen geben wird.
Liebe Grüße
Mara
Annegret
May 3, 2012 at 6:34 amDeine Rezension hat mir sehr gut gefallen. Es ist immer wieder erstaunlich, welche Wege das Leben geht. Dieses Buch werde ich im Auge behalten.
buzzaldrinsblog
May 3, 2012 at 1:15 pmFalls du es liest, liebe Annegret, würde ich mich natürlich freuen, von dir zu hören, wie es dir gefallen hat. 🙂
Wirklich erstaunlich welche Wege das Leben gehen kann und wieviel Kummer Entscheidungen nach sich ziehen können, die man so früh im Leben und vielleicht auch unbedacht getroffen hat.
muetzenfalterin
May 3, 2012 at 2:55 pmIch freue mich ganz besonders über Deine Rezension, weil ich dieses Buch irgendwie halbherzig ausgewählt habe. Ich habe in meinen Lieblingsbuchladen ein Buch gewonnen und hatte natürlich sehr gehofft, ich könnte Blaue Stunden von Joan Didion mitnehmen, als ich dann aus einem Stapel Büchern wählen musste, von denen keines auf meiner “Möchte haben” Liste stand, habe ich mich nach einigem Überlegen aufgrund des Klappentextes für das von Dir beschriebene Buch entschieden, und scheine ja nicht so ganz falsch gelegen zu haben.
buzzaldrinsblog
May 4, 2012 at 5:01 pmLiebe muetzenfalterin,
ich freue mich sehr darüber, dass du aufgrund von einem Zufall zu diesem kleinen Juwel gekommen bist. Du wirst sicherlich deine Freude mit “Kümmernisse” haben (auch wenn “Blaue Stunden” natürlich auch ein tolles Buch ist, das gewinnst du dann ja vielleicht das nächste Mal). In den Buchläden, in denen ich meistens unterwegs bin, liegt “Kümmernisse” meistens kaum aus, was ich sehr schade finde, da es zwar ein ruhiges, aber dafür ein absolut tolles Buch.
Ich wünsche Perrignon viele Leser und hoffe, dass dir der Roman gefallen wird. 🙂
Klappentexterin
May 5, 2012 at 4:25 pmWas kann ich noch sagen, liebe Mara, wo schon so viel geschrieben worden ist? Vielleicht einfach das, wie sehr ich mich freue, diesen besonderen Roman bei dir wiederentdeckt zu haben und deine Begeisterung zu spüren. Das ist einfach nur schön und schenkt mir ein glückliches Lächeln.
buzzaldrinsblog
May 7, 2012 at 10:33 amLiebe Klappentexterin,
ich kann mich nur bei dir bedanken, dass ich diesen wundervollen und ungewöhlichen Roman entdecken durfte. Ohne deine begeisterte Rezension wäre er wohl leider an mir vorbeigegangen.
Conor
August 20, 2012 at 5:36 pmLiebe Mara!
Dank deiner Rezension ist dieser Roman nicht an mir vorbeigegangen und habe ihn soeben beendet.
Der positiven Rezension kann ich mich nur anschließen.:)
Sehr hat mir folgende Passage gefallen:
“”Alle haben ein geheimes Leben, eine im Innern durch die Vergangenheit und das, was sie versäumt haben, tief eingegrabene Spur.(…) Deine Verletzung ist tief, ich sage nicht, dass du sie vergessen sollst, noch den Mann, der sie verursacht hat, aber zeige sie niemandem, mach daraus dein Geheimnis, und gib dir selbst eine zweite Chance”. S. 167
Liebe Grüße
Conor
buzzaldrinsblog
August 20, 2012 at 7:53 pmHallo Conor,
ich freue mich sehr, dass dir der Roman auch gefallen hat. Es ist ein ruhiges und vielleicht unspektakuläres Buch im Vergleich zu vielen der aktuellen Neuerscheinungen, aber ich habe es sehr gerne gelesen.
Danke für das Zitat, ich finde es sehr schön und es hat mich noch einmal zurück versetzt in die Stimmung, die ich beim Lesen empfunden habe!
Sonnige Grüße
Mara
Frankreich - zu Gast auf der Frankfurter Buchmesse!
October 24, 2017 at 2:37 pm[…] Sommer von Véronique Olimi, Autoportrait von Édouard Levé, Souvenirs von David Foenkinos, Kümmernisse von Judith Perrignon oder auch Viviane Elisabeth Fauvile von Julia […]