Dem neuen Sommer entgegen – Janet Frame

Vor einigen Wochen habe ich “Wenn Eulen schrein” gelesen, das mich unheimlich tief berührt hat und so begeistert, dass ich unbedingt ein weiteres Buch von der Autorin Janet Frame lesen musste. “Dem neuen Sommer entgegen” durfte nicht zu Lebzeiten von Janet Frame veröffentlicht werden, sie hielt den Roman für zu persönlich. 2007, drei Jahre nach dem Tod der Schriftstellerinnen, erschienen ihre Aufzeichnungen unter dem Titel “Towards another summer” in Neuseeland. Der “Janet Frame Literary Trust” hatte sich zu dieser Veröffentlichung entschieden. Ich bin sehr dankbar für diese Entscheidung, denn wenn man “Dem neuen Sommer entgegen” in den Händen hält, hält man ein Stück beeindruckender, großartiger und sehr persönlicher Literatur in den Händen.

Im Zentrum von “Dem neuen Sommer entgegen” steht die neuseeländische Schriftstellerin Grace Cleave, die in London lebt. Grace Cleave hat starke Ähnlichkeiten mit Janet Frame, die sicherlich nicht zufällig so angelegt sind. Der Gedanke liegt nahe, dass Grace Cleave das Alter Ego von Janet Frame ist, die in “Dem neuen Sommer entgegen” ihre eigene Geschichte verarbeitet hat.

Grace Cleave ist schüchtern. Qualvoll schüchtern. So schüchtern, dass sie unter ihrer eigenen Schüchternheit leidet.

“Ich habe nicht viel zu sagen, es gibt nichts, worüber ich sprechen könnte.”

Schweigen bestimmt ihre Interaktion, Ängste schnüren ihr die Kehle zu, machen sie unfähig, sich zu äußern, einfache Sätze zu sagen, sich an Gesprächen zu beteiligen. Die Schüchternheit von Grace Cleave ist krankhaft und für den Leser immer wieder qualvoll mitzuerleben. Ihr Lieblingswort ist “ja”, denn es ist einfacher ja zu sagen als nein. Wenn man nein sagt, muss man Dinge erklären und begründen. So kommt es dazu, dass Grace die Einladung der Familie Thirkettles annimmt, sie ein Wochenende lang auf dem Land zu besuchen. Der Journalist Philip Thirkettle hatte sie interviewt und wollte sie gerne einladen, zu sich und seiner Familie, den Kindern Noel und Sarah und seiner Frau Anne. Einer ganz normalen, netten Familie.

Während der Zeit die Grace mit den Thirkettles verbringt, wird ihr immer wieder schmerzlich bewusst, wie anders sie ist. Normale Gespräche fallen ihr schwer, jede Konversation erstickt an ihren Ängsten und ihrer Schweigsamkeit. Das Leben, das die Thirkettles führen, ist unspektakulär und normal, aber für Grace etwas schier Unerreichbares. Grace ist sich ihrer Andersartigkeit bewusst:

“Irgendwie war es erleichternd, ihre wahre Identität zu entdecken. Sie hatte sich schon so lange nicht wie ein Mensch gefühlt, ohne jedoch eine Möglichkeit zu finden, sich auf eine alternative Gattung zuzubewegen; jetzt war die Lösung für sie gefunden; sie war ein Zugvogel; […].”

Der Besuch auf dem Land ruft in Grace Erinnerungen an ihre eigene Kindheit wach. Die Thirkettles haben Wurzeln in Neuseeland und in der ganzen Wohnung stehen Bücher und Bildbände über das Land. Grace verfolgt die Kommunikation in der Familie mit Erstaunen, so viel Freundlichkeit und so viel gegenseitigen Respekt ist sie aus ihrer eigenen Familie nicht gewohnt. Bei den Thirkettles darf die Frau dem Mann sogar widersprechen – ohne geschlagen zu werden. Fast jedes Wort im Laufe des Wochenendes, jeder Moment, jede Situation, weckt Erinnerungen. Erinnerungen, die die eigentlichen Gespräche immer wieder überschatten, sich in das aktuelle Geschehen schieben und alles andere überlagern und verdecken. Erinnerungen, die es nur in Grace Cleaves Kopf gibt und die sie zum Verstummen bringen.

“O nein, ich darf mich nicht mit Erinnerungen aufhalten, dachte Grace. Ich bin ein Zugvogel. Ich lebe in London. Das Kreuz des Südens schneidet mir durchs Herz, weil es nicht am Himmel steht, ich kann es weder sehen noch darunter einhergehen, aber das kümmert mich nicht, es kümmert mich nicht.”

Immer wieder denkt Grace, sie sei ein Zugvogel, kein Mensch. An keiner Stelle während des Wochenendes traut sie sich jedoch diesen Gedanken zu äußern. Die Angst vor den möglichen Reaktionen ist zu groß.

Über allem, im Zentrum des Romans, steht jedoch das unnachgiebige, schier unauflösliche Schweigen von Grace Cleave, der es nicht gelingt, selbst einfachste Gespräche zu führen. Für die eine Interaktion beim Essen etwas Fremdes, etwas Unbekanntes ist, etwas, was sie zu Hause sicherlich auch nie kennengelernt hat. Grace hat immer wieder Angst, sich zu bestimmten Dingen zu äußern, ihre Meinung zu artikulieren, etwas zu sagen – bevor sie etwas Falsches sagt, sagt sie lieber einfach nur ja; “eine hässliche, abgehackte Bestätigung; ein Gefängnis für Ideen, die sich hinter den Gittern drängen”. Keiner dieser Ideen, kein Impuls schafft es über die Lippen von Grace.

“Grace war es gewohnt, nicht besucht zu werden. Immer folgte auf die Begeisterung, sie kennengelernt zu haben, die Enttäuschung, dass die Frau, die doch Bücher schrieb, Schwierigkeiten hatte, auch nur einen zusammenhängenden Satz zu sagen: und ewig schwieg und schwieg.”

Grace Cleave, die Janet Frame scheinbar so ähnlich sein muss, hat mich sehr tief berührt und vieles in mir anklingen lassen. Ich habe mit ihr gefühlt, mit ihr gelitten – ihre Unfähigkeit zu sprechen quält nicht nur sie, sondern auch mich als Leser. Ich konnte gar nicht anders, als mit ihr zu fühlen.

Der Inhalt des Romans – ein Wochenendausflug zu einer befreundeten Familie, gemeinsame Essen, Ausflüge und banale Gespräche – klingt unspektakulär und doch hat der Roman von Beginn an einen ganz speziellen, fast befremdlichen Reiz. Da der Text nie zu einer Veröffentlichung vorgesehen war, wirkt er an vielen Stellen unfertig, rau, roh, ein bisschen stückwerkhaft. Genau diese Elemente machen für mich den besonderen Reiz aus. Die Erinnerungsflut, die Grace während des Wochenendes trifft, trifft auch den Leser ganz unmittelbar, ungekünstelt. Auch wenn es sich um einen Roman handelt, wirken die Aufzeichnungen echt, stellenweise wie Tagebucheinträge.

Die Ausgabe von “Dem neuen Sommer entgegen” aus dem C.H. Beck Verlag wird abgerundet von einem sehr informativen Nachwort von Verena Auffermann und Notizen von der Übersetzerin Karen Nölle.

Ich habe die Lektüre von Janet Frames Roman sehr genossen. “Dem neuen Sommer entgegen” ist kein leichtes Buch, der Roman ist sperrig, eigenwillig, hat dabei aber seinen ganz eigenen Charme, den man entdecken kann, wenn man sich auf die Sprache der Autorin einlässt. Ein ganz besonderes Buch, einer ganz besonderen Autorin – ich freue mich schon auf weiter Bücher von ihr (demnächst wird ihr dritter Roman auf Deutsch erscheinen, “Ein Engel an meiner Tafel”).

7 Comments

  • Reply
    Doris
    May 27, 2012 at 9:32 pm

    Liebe Mara,
    es freut mich einfach so sehr, dass dir Janet Frame auch so gut gefällt wie mir. Aber ganz ehrlich ich hätte es mir auch nicht anders vorstellen können.

    Liebe Grüße
    Doris

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 28, 2012 at 11:24 am

      Liebe Doris,

      das einzige, was ich bereue, ist sie nicht früher entdeckt zu haben. Um “Dem neuen Sommer entgegen” bin ich schon sehr lange herumgeschlichen, konnte mich vorher aber nie zum Kauf entscheiden. Ich bin sehr glücklich, Janet Frame entdeckt zu haben. Kennst du “Ein Engel an meiner Tafel” schon?

      Liebe Grüße
      Mara

  • Reply
    synaesthetisch
    May 28, 2012 at 9:03 am

    Hallo Mara,

    hast du diese tolle Ausgabe schon gesehen? Ich wollte die nächsten Janet Frames gerne im Original lesen – aber für alle, die lieber auf Deutsch lesen, ist es vielleicht interessant. Und so schön anzusehen!!! http://www.amazon.de/Romane-B%C3%A4nden-Sommer-entgegen-schrein/dp/3406903002/ref=sr_1_3?ie=UTF8&qid=1337675591&sr=8-3

    • Reply
      buzzaldrinsblog
      May 28, 2012 at 11:27 am

      Oh ja, die Ausgabe im Schuber habe ich vor einigen Tagen entdeckt – sie ist in der Tat wunderschön! Leider habe ich nun ja schon zwei Bücher aus dem Schuber einzeln gekauft, da lohnt sich eine Anschaffung nicht mehr wirklich. Sie ist aber wirklich schön!
      Ich bin übrigens schon gespannt darauf, wie dir Janet Frame im Original gefällt und natürlich freue ich mich um so mehr darüber, dass du dir vorstellen kannst, weitere Bücher von ihr zu lesen.

      • Reply
        synaesthetisch
        May 28, 2012 at 11:29 am

        Auf jeden Fall. Ich fand “Wenn Eulen schrein” auf eine spannende Art unzugänglich und sperrig, das mag ich 🙂

  • Reply
    Doris
    May 29, 2012 at 1:08 pm

    Liebe Mara,

    ärgere dich nicht, immerhin hast du sie ja entdeckt und das ist doch schon viel!
    Nein, den Engel an der Tafel kenne ich auch noch nicht, aber du ahnst schon wie sehr ich dem Buch entgegenfiebere.

    Liebe Grüße
    Doris

  • Reply
    Ein Engel an meiner Tafel – Janet Frame « buzzaldrins Bücher
    October 22, 2012 at 11:16 am

    […] hat sie in ihren Büchern verarbeitet. Auf meinem Blog habe ich in den vergangenen Monaten bereits “Dem neuen Sommer entgegen” und “Wenn Eulen schrein” […]

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